Die besondere Mystik der Jungfrau


Publiziert von Zolliker , 10. August 2015 um 17:42.

Region: Welt » Schweiz » Bern » Jungfraugebiet
Tour Datum: 6 August 2015
Hochtouren Schwierigkeit: ZS
Klettern Schwierigkeit: II (UIAA-Skala)
Wegpunkte:
Geo-Tags: CH-BE   CH-VS 
Zeitbedarf: 6:00
Aufstieg: 1000 m
Abstieg: 1200 m
Strecke:Mönchjoch-Sphynxstollen-Rottalsattel-Jungfrau

Nach der gestrigen Mönchüberschreitung folgt heute die Erklimmung der Jungfrau über den Rottalsatttel. Eine komplett andere Geschichte. Die Gletscher verlangen einen frühen Start, anstatt Mittagssonne gibt es heute Sonnenaufgang. Gletscherspalten, Abgründe, Wetterkapriolen, aber auch Erinnerungen und Emotionen prägen den Tag. Die besondere Bergmystik der Jungfrau lässt mich nicht kalt.

Um 02.45 klingelt der Wecker im halbvollen 12er Schlag. Die Nacht in der Mönchjochshütte war endlos, mehr als Dösen geht bei mir auf 3650m nicht.Also fünf Stunden Warten auf den erlösenden Wecker. Katzenwäsche, Rucksack packen, Tee abfüllen, Frühstück – gesprochen wird wenig. Ab 3.30 verwandeln sich die Bergzombies in rund 30 Leuchtwürmchen und setzen sich in unterschiedliche Richtungen in Bewegung. Dann ist es am Mönchjoch wieder ruhig.

Wir folgen dem planierten Trassee zum Sphynxstollen und von da an den Spuren über den Gletscher. Fast 400m Höhe haben wir abgebaut, bis unterhalb des Rottalsporns die Steigung beginnt. Im Schein der Stirnlampen sieht man die Spalten gut, der Schnee ist zum Glück fest gefroren, wir kommen zügig voran.
Die Felsen des Rottalsporns überwinden wir in einfacher Kletterei (stellenweise II). Wir profitieren davon, dass wir nur zu zweit am kurzen Seil gehen. Wir überholen die vor uns gestarteten Seilschaften im Minutentakt und erreichen eine gute Stunde nach Abmarsch den Firnhang, der zum Scheitel des Sporns führt. Hier ziehen wir die Steigeisen an. Nur noch eine andere 2er Seilschaft mit dem Lauener Bergführer Ueli ist vor uns.

Die Stirnlampe verschwindet im Rucksack. Es ist fünf Uhr, der neue Tag kündigt sich an. Im Osten verfärbt sich der Himmel orange, die Gipfelsilhouetten zeichnen sich dagegen schwarz ab. Der Schnee reflektiert das wenige Licht, die Gletscherspalten neben uns leuchten zartblau. Majestätisch präsentiert sich der Mönch im Gegenlicht.

Wir steigen über die steilen Firnhänge hoch, der Schnee ist nicht überall gleich hart gefroren. Jedes Einsinken kostet viel Kraft. Schritt für Schritt gewinnen wir an Höhe, schon kommt der steile Rottalsattel in Sicht. Mit dem Auftauchen dieser berühmt-berüchtigten Schlüsselstelle kommen kurz Zweifel bei mir auf. Soll ich wirklich auf diese Jungfrau? Ich muss an das schreckliche Unglück denken, das 2007 sechs Rekruten das Leben gekostet und ihre Familien in unendliche Trauer gestürzt hat. Dann tauchen aus dem Nichts Wolkenfetzen auf, die den Gipfel einhüllen. Sind sie ein Warnzeichen für mich? Was hätte meine Mutter mir geraten, die die Jungfrau so geliebt hat und der ich diese Tour gewidmet habe? Meine Gedanken schweifen immer tiefer ab in eine melancholische Nachdenklichkeit.

Am Fuss des Sattels führt mich Peter rasch in die reale Welt zurück: „Sichere Dich hier mit dem Pickel, ich steige vor“. Wir klettern konzentriert in den Tritten unserer Vorgänger die steile Schneewand hoch und erreichen problemlos den schmalen Sattel. Genau in diesem Moment wärmen die ersten Sonnenstrahlen meinen Nacken. Das Gipfelfirn vor uns leuchtet in zartem orange, was für ein friedvolles Bild! Die Verhältnisse sind perfekt, die gefürchtete Traverse zu den Felsen jenseits des Sattels lässt sich problemlos am kurzen Seil begehen. An Tagen wie heute kann man es sich fast nicht vorstellen, wie gefährlich es hier sein kann. Wer ausrutscht verschwindet über die Wand und landet 1000m weiter unten auf dem Rottalgletscher.

Wir kraxeln das Felsband hoch und erreichen das Gipfelfirn. Es folgen weitere 20, anstrengende Minuten. Die Hangneigung von rund 35%, das monotone Schneestapfen und die dünne Luft fordern ihren Tribut. Die letzten Meter führen wieder über Felsen, das Kratzen der Steigeisen durchbricht die Stille, die leichte Bise bläst uns kalt ins Gesicht, Wolkenfetzen fegen über den Grat. Kurz vor sieben Uhr kommt der grosse Moment: Die Sonne leuchtet über dem Gipfel, als wir ihn erreichen. Ein magischer Moment in einer mystischen Stimmung!
Benommen vor Freude und Anstrengung setze ich mich auf einen mit Reif überzogenen Felsbrocken. Ich brauche ein paar Minuten, um die Eindrücke richtig einordnen zu können. Dann widme ich mich der Aussicht und der einzigartigen Stimmung, die die herumtanzenden Wolkenfetzen schaffen. Der Mönch bekommt kurz eine Kappe, Breithorn und Tschingelhorn spielen Versteckis, das Finsteraarhorn wacht über die Bergwelt. Eine halbe Stunde später ist der Himmel wieder blau.

Wir verlassen den Gipfel nach dem Eintreffen der nächsten Seilschaft, vier junge, coole Urner. Der Abstieg führt uns über dieselbe Route zum Jungfraujoch zurück, jetzt aber bei vollem Tageslicht – und an der warmen Sonne. Der Schnee wird rasch weicher, und das Vorwärtskommen ist bald nicht minder anstrengend als der Aufstieg. Kurz vor Zehn erreichen wir nach einer giftigen Gegensteigung müde das Plateau des Jungfraujochs, wo uns die Touristen in Empfang nehmen.

Wir entkommen den Rummel mit der nächsten Bahn. Bei einer deftigen Portion Rösti auf der Terrasse  des Hotels Schönegg in Wengen verabschieden wir uns schliesslich von der imposanten Dame und danken ihr, dass sie uns so wohlgesinnt war.

Den vollständig bebilderten und mit interaktiver Karte versehenen Tourenbericht findest Du auf meinem Wanderblog:http://www.edwinwandert.com/2015/08/die-mystik-der-jungfrau/

Tourengänger: Zolliker


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Kommentare (2)


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silberhorn hat gesagt:
Gesendet am 10. August 2015 um 18:57
Für Deinen wundervollen Tourenbericht herzlichen Dank! Was für eine Freude ihn zu lesen:-)))! Mit Euch zu gehen respektive Euch zuzuschauen, die Steigeisen kratzen hören, ..., und als Supplement schönen Fotos. Da bleibt einem nichts mehr zu wünschen übrig.

Beschti Grüess
maria

Zolliker hat gesagt: RE:
Gesendet am 10. August 2015 um 21:51
Liebe Maria
Wandern besteht eben nur zur Hälfte aus Routen, Höhenmetern, Panoramen und Markierungen. Die andere Hälfte sind Gedanken, Geräusche, Illusionen, Gefühle und und und. Darum ist es so schön. Herzlichst, Ediwn


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