Glarner Tödi (3586 m) und Piz Russein (3614 m): Sehnsucht vs. Vernunft


Publiziert von morphine , 12. April 2013 um 21:25.

Region: Welt » Schweiz » Glarus
Tour Datum:28 Oktober 1999
Wandern Schwierigkeit: T3 - anspruchsvolles Bergwandern
Hochtouren Schwierigkeit: WS+
Klettern Schwierigkeit: II (UIAA-Skala)
Wegpunkte:
Geo-Tags: CH-GL   CH-GR   Tödigruppe   Bifertengruppe 
Zeitbedarf: 3 Tage
Aufstieg: 2900 m
Abstieg: 2900 m
Strecke:Trun-Puntegliashütte-Fuorcla da Punteglias-Glatscher da Gliems-Porta da Gliems-Bifertenfirn-Piz Russein-Glarner Tödi
Unterkunftmöglichkeiten:Puntegliashütte SAC,
Kartennummer:1193 Tödi 1:25000

Tödifixierung

Knapp 10 Jahre zuvor fuhr ich erstmals das Linthal hinauf. Völlig unvermittelt tauchte plötzlich das Riesentrapez des Tödi im Talschluss vor mir auf. Mit so einem Koloss hatte ich nicht gerechnet. Wirklich informiert hatte ich mich über die bei uns eher unbekannte Landschaft der Glarner Alpen, welche ja abseits der berühmteren Viertausenderrregionen liegt, nicht. Die nachfolgende Wanderung zur Fridolinshütte verstärkte den überwältigenden ersten Eindruck noch. Die Kombination aus großen zerissenen Gletschern und himmelstürmenden Felswänden war ich von meinen Bergtouren in Österreich nicht gewohnt. Schon damals wusste ich eins: Ich will da rauf! Doch die neunziger Jahre gingen ins Land und ich hatte letztlich immer einen Bogen um die Tour gemacht. Zu hoch, zu weit, als Solotour zu gefährlich. Dann, Ende Oktober 1999, gewann die Sehnsucht die Oberhand und der Verstand wurde für ein paar Tage ausgeschaltet. Ich ging die Sache an.


Start: Von Trun ins Val Punteglias

Bei strahlend schönem Herbstwetter erreichte ich tags zuvor Trun im Vodrerrheintal. Von hier startet die Normalroute von Süden auf den Tödi. Als Quartier sollte mir die Puntegliashütte dienen. Mit meinem schweren -aber nicht zu schweren- Rucksack (am Berg sollte ich noch alles an Material und Kleidung brauchen) stieg ich das landschaftlich sehr schöne Val Punteglias hinauf. Nach einer ersten Steilstufe betritt man einen eindrucksvollen Talkessel. Über eine weitere Steilstufe verlässt man diesen Kessel weiter nördlich und schon bald tauchte unter eindrucksvollen eis- und schneeverkrusteten Felsbergen die Puntegliashütte auf. Die Hütte war total verlassen. Der letzte Eintrag im Hüttenbuch war über einen Monat alt. Ich richtete mich ein und versuchte beim Holzspalten die aufkommende Nervosität und Angespanntheit zu vertreiben. Als ich alles für einen gemütlichen Hüttenabend vorbereitet hatte, lief ich gegen Abend noch in den Talschluss zum schuttbedeckten Puntegliasgletscher um mich am folgenden Morgen nicht in der Dunkelheit zu verlaufen. Der urige Talschluss mit seinen markigen Fels- und Gletscherbergen ist schon allein einen Aufstieg von Trun wert. An diesem Abend erlebte ich dort eine schöne Sonnenuntergangsstimmung. Das doch relativ übersichtliche Gelände hier, stimmte mich nun für meine morgige Tour zuversichtlich.


Aufstieg zum Dach der Glarner Alpen

-Fuorcla da Punteglias

Gegen vier Uhr morgens verließ ich die Hütte. Die Mondnacht leuchtete das Tal silbrig aus, so dass ich meine Stirnlampe im Rucksack lassen konnte. In dem faszinierenden Licht erreichte ich ohne Probleme die Fuorcla da Punteglias. Bis hierhin reiner Schuttanstieg. Den Minispalten im Restfirn unter der Scharte konnte ich damals problemlos nach rechts ausweichen.

- Porta da Gliems

Ein Schuttweglein und Markierungsstangen führten nun wieder bergab und bald geradeaus auf den Ausläufer des östlichen Flügel des Glatscher da Gliems. Hier montierte ich die Steigeisen. Heute sollte es leider nicht durchgängig so sonnig werden wie am Vortag. Der böige Wind war eiskalt und machte schon hier eine zusätzliche Bekleidungsschicht und Handschuhe nötig. Zunächst visierte ich die weniger steile Mitte des westlichen Gletscherflügels an. Doch schon bald wurde ich von Kreuzspalten gestoppt. Ich stieg wieder ein Stück zurück und querte nun an die östlichen Begrenzungsfelsen, wo der Gletscherrand eine Art  Firngrat ausgebildet hatte. Über diesen gings nun steil und zum Schluss durch knietiefen Schnee hinauf bis unter die Porta da Gliems. Von dem berüchtigten Bergschrund unter der Porta war an diesem Tag glücklicherweise nichts zu sehen. Leider auch nicht von dem Drahtseil in den Felsen unter der Lücke. Alles war hier schnee- und besonders eisverkrustet. Der kalte Wind wurde immer stürmischer und in regelmäßigen Intervallen regneten kleine Eisstücke klimpernd von oben herunter. Was nun? Ich wendete mich den Felsen etwas westlich der Porta da Gliems zu. Diese waren jedoch sehr unangenehm abwärts geschichtet und die Kraxelei erwies sich als ziemlich heikel. Nachdem ich mich mehrmals unter dem runterprasselnden Eis weggeduckt hatte, erreichte ich endlich ungefähr die Höhe der Scharte und konnte nun in etwas leichterem aber immer noch unangenehmen Gelände nach Osten in die Porta da Gliems rüberqueren. Hier blies mir nun der Sturm mit voller Wucht ins Gesicht und an eine Pause war nicht zu denken.

- Bifertenfirn

Ich stieg daher erst mal um die östlichen Ausläufer des Stoc Grond herum. Dabei ging´s doch einige Meter hinab auf den oberen Bifertenfirn. Durch den Höhenverlust war ich auf einmal wieder windgeschützt. Jetzt konnte ich endlich mal in Ruhe verschnaufen und studierte von hier aus den Gletscherkessel des oberen Bifertenfirns. Mittendrin riesige Spalten und Klüfte. Weiter oben, in den Firnhängen des Piz Dado, ein durchlaufender Bergschrund. Dicht unterhalb dieses Schrundes, am Fuß der linksseitigen Firnhänge, wählte ich meine Aufstiegsroute. Der Schnee war hier erstaunlicherweise nicht so tief wie auf dem Glatscher da Gliems. So stieß mein Pickel immer wieder auf festen Firn und ich wagte den nächsten Schritt. Langsam kam ich dem Gipfel näher. Zum Schluss steuerte ich den Simmlergrat (Verbindungsgrat zwischen Piz Russein links und Glarner Tödi rechts) an. Dazu musste ich den westlichen Randbereich des Gletscherskessels verlassen und diverse bogenförmige Querspalten überschreiten, welche dummerweise jetzt schneebedeckt waren. Ich stocherte und stocherte vor jedem Schritt und wurde immer langsamer. Gegen Mittag -nach über 8 Std. Aufstieg- erreichte ich "glücklich" dem Simmlergrat. Jetzt kämpfte ich mich über gepresste Schneeverfrachtungen und unter Begleitung von Sturmböen zum nagelneuen Gipfelkreuz hinauf, das erst wenige Wochen zuvor hier aufgestellt worden war.

- Endlich auf dem Piz Russein?

Nun war ich also oben, auf dem Gipfel, auf den ich meine ganzen alpinistischen Sehnsüchte projiziert hatte. Aber wo blieb das Glücksgefühl? Der kalte stürmische Wind  machte fast schon benommen. So schnappte ich mir das Gipfelbuch und ging unterhalb des höchsten Punktes in einer Firnmulde erst einmal in Deckung. Mittlerweile hatte ich alle Klamotten am Leib, die ich eingepackt hatte, und saß wie ein Michelin-Männchen auf meinem platten Rucksack. Der Proviant schmeckte mir nicht und der Tee war genauso kalt wie der Wind hier oben. Von Norden hatte es sich doch ziemlich eingetrübt und Dunst und hohe graue Wolkenschichten trübten die Aussicht. In meinen Träumen von dieser Tour hatte ich mir das ganz anders vorgestellt. Bei den unwirtlichen Bedingungen wurde mir der Leichtsinn und die Gefährlichkeit meiner Unternehmung -allein über verschneite Gletscher- bewusst.  Statt Freude über den erreichten Gipfel also nur Grübeleien, wie ich hier wieder heil runterkomm´. Doch nach Mittag wurden die hohen Wolken allmählich dünner, es wurde wärmer und der Wind schlief auch noch ein. Sofort waren meine positiven Lebensgeister wieder erwacht.

- Der Glarner Tödi

Voller Tatendrang nahm ich nun den Simmlergrat unter die Füße um auch dem Glarner Tödi einen Besuch abzustatten. Dieser Gipfel war mir fast noch wichtiger, da sein Anblick vor über neun Jahren die Faszination für den Tödi in mir ausgelöst hatte. Dort angekommen präsentierte sich die Oberfläche der weiten Frinkuppe verziert mit schöner blütenförmiger Schneemusterung. Ich stieg die Firnkappe vom Gipfel nach Osten ca. 50 Höhenmeter hinab um einen besseren Einblick in die mächtige  Eis- und Felsarena zwischen Piz Urlaun und Selbsanft zu erhaschen. Fasziniert betrachtete ich die ca. 1000 m hohe Nordwand des Bifertenstocks von hier oben.


 "Glücklicher Abstieg"

Wieder zurück auf der Gipfelkuppe machte ich mich nun wieder an den langen Abstieg. Ich folgte meiner Aufstiegsspur und war erstaunt, dass der Schnee trotz der jetzt diffus scheinenden Sonne immer noch relativ fest war. In dem weichen Licht wirkte der Gletscher cremefarben und ich hielt immer wieder für einen Fotostopp an. Als ich wieder unter der Porta da Gliems ankam, stand die Sonne schon recht tief. Normalerweise ist man um die Uhrzeit längst wieder auf der Hütte.
Der vor mir liegende Gletscherhang lag somit schon im Schatten und bot im Aufstieg daher gute Tritte ohne zeit- und kräfteraubendes Einsinken. In der Porta da Gliems schaute ich mich nun von oben nach dem Drahtseil um. Und tatsächlich, unter dem jetzt abtauenden Eis fand ich die Aufstiegs -ähh- Abstiegshilfe. Ich schlug das teilweise festgebackene Drahtseil vom Fels los und befreite es so vom Eis, das in hunderte kleine Stückchen klirrend unter mir die Felsen hinunterflog. Erst dann bin ich ohne lästige Minilawinen von oben an dem Seil hinuntergestiegen. Der Schnee auf dem Glatscher da Gliems war nun doch schon ziemlich aufgeweicht. Hier oben war´s jetzt eine unangenehme Rutschpartie. Ich war halt viel zu spät dran. Weiter unten nutzte ich wieder den kleinen Firngrat am Gletscherrand. Jetzt war´s noch  ein richtig schöner sonniger später Herbstnachmittag  geworden. Die meisten Kleider waren wegen der Wärme längst wieder im Rucksack verstaut. Beim letzten Anstieg des Tages wieder hinauf zur Fuorcla da Punteglias machten sich die körperliche Ermüdung nun aber bei mir bemerkbar. Total kaputt, aber jetzt überglücklich, erreichte ich den Pass, von dem sich ein prächtiger Blick auf den Cavistrau Grond ergab. Nun ging es doch schon auf den Abend zu und so beeilte ich mich auf der Schlussetappe zurück zur Hütte, die ich bei einbrechender Dunkelheit -über 14 Stunden nach meinem Aufbruch am Morgen- wieder erreichte.


Nachglühen

Abends in der Hütte, bei einem wohl verdienten Teller Nudeln, wurde mir klar, dass ich an diesem Tag kurioserweise immer glücklicher wurde, je weiter ich mich vom Eisdach des Tödi entfernt hatte. Dieses Gefühl hielt auch noch die nächsten beiden Tage an, als ich letztlich gut 500 km entfernt wieder zu Hause angekommen war. Auch in den darauffolgenden Wochen, als mich der Alltagstrott längst wieder eingeholt hatte,  sorgten meine Gedanken an diese Tour immer wieder für spontan gute Laune aber auch ein wenig Schaudern. Mit viel Willen und vermutlich noch mehr Glück hatte ich doch tatsächlich den Tödi bestiegen. Meinen Lieblingsberg, um den ich immer noch in unregelmäßigen Abständen herumscharwenzel!

"Tödi: Sehnsucht und Traum" ist der meiner Meinung nach sehr passende Name einer Bergmonographie von Emil Zopfi.



Tourengänger: morphine


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Kommentare (5)


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alpstein hat gesagt:
Gesendet am 13. April 2013 um 08:33
Ein ähnlich faszinierender und eindrücklicher Bericht, wie damals auch vom Kleinen Schreckhorn.

Herzliche Gratulation und Grüße
Hanspeter


morphine hat gesagt: RE:
Gesendet am 14. April 2013 um 13:38
Danke Dir für den netten Kommentar.

Oft sind es ja die erlebten Emotionen in Form von Nervosität, Selbstzweifel oder purem Hochgeühl, die die Erinnerung an eine gemachte Tour wachhalten. Obwohl mein Bericht schon ein rechter Tourensaurier ist, kommt es mir oftmals so vor, als ob ich erst letzte Woche oben gewesen wäre.

Gruß
morphine

alpstein hat gesagt: RE:
Gesendet am 14. April 2013 um 17:21
Vielen Dank zurück.

Für Dich speziell habe ich den Tödi heute fotografiert, wenn er auch ein bißchen weit weg war.

Foto

Grüße
Hanspeter

Sputnik Pro hat gesagt:
Gesendet am 18. Mai 2013 um 14:22
Hallo Morphine,

Ich hebe den Bericht erst jetzt gesehen und gelesen. Hut ab! Ich gratuliere dir zu den beiden höchsten Tödigpfeln - und ja, machmal braucht's einfach solche Aktionen :-)

Viele Grüsse,

Sputnik

morphine hat gesagt: RE:
Gesendet am 20. Mai 2013 um 11:56
Hallo Sputnik,

danke erstmal. Ja, ab und an muss es mal ein höherer Gipfel sein. Die damals etwas ruppigen Umstände und die totale Einsamkeit (3 Tage keinen Menschen getroffen) habe das Bergerlebnis nocht verstärkt. Bin ja seinerzeit an noch so manch anderen lohnenden Gipfel vorbeigelaufen. Der Tödi und seine Trabanten geistern daher immer noch in meinem Kopf herum. Das wird wohl nie aufhören.

Gruß
morphine


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