"Schneefreie Realitäten" vs. AV-Führer, Planung und co, am Zillertaler Hauptkamm


Publiziert von simba , 30. September 2023 um 10:52.

Region: Welt » Österreich » Zentrale Ostalpen » Zillertaler Alpen
Tour Datum:16 September 2023
Hochtouren Schwierigkeit: WS+
Klettern Schwierigkeit: III (UIAA-Skala)
Wegpunkte:
Geo-Tags: A   I 
Aufstieg: 4200 m
Abstieg: 4200 m
Zufahrt zum Ausgangspunkt:Mautstraße Schlegeisspeicher (15,50 EUR). PP Zamsgatterl.

Unsere Informationen vor dieser Tour waren gefühlt sehr gut: AV-Gebietsführer, diverse Internettouren- und -verhältnisberichte, Karten, jede Menge Satellitenfotos der Gletscher... Drei (und vor allem die ersten beiden) Tage entlang des Zillertaler Hauptkamms haben uns aber gezeigt, dass man sich in spätsommerlich aperen Ostalpen-Gebieten den neuen "schneefreien Realitäten" bar jeder Planung stellen muss...

Tag 1: Großer Möseler Überschreitung vom Zillertal ins Mühlwalder Tal
Schon beim Vergleich des Anblicks vom Furtschlaglhaus mit Internetbildern wird klar, hier hat sich viel verändert: Der Hängegletscher nordwestlich des Großen Möseler hat den Anschluss verloren und reicht nicht mehr bis zum Furtschlagkees, sondern hängt frei in der Luft und beschießt diesen mit Eisblöcken aus einem Serac. Wer sich wie allenthalben beschrieben auf 2730m Anseilen möchte, trägt das Seil noch mehr als 100Hm bis zum Gletscher, wer die markante Rinne des alten Normalwegs aufsteigen möchte, wird diese nicht "meist verschneit", sondern ab Juli wohl meist schneefrei, brüchig und steinschlägig-gefährlich antreffen. Also lieber bis auf etwa 2850m zum Gletscherbeginn unangeseilt über einfache Schliffplatten. Auf dem aperen Gletscher gibt es gewaltige Spalten, die aber bei sicherem Steigeisengehen recht zügig umgangen bzw. über- und auch durchquert werden können. Der Blockgrat, der von Pt. 2985 zum Großen Möseler zieht, ist ohnehin viel schöner als die steinschlägige Rinne, der Zustieg zum Grat ist bestens mit Steinmännern markiert: Es handelt sich um eine sehr schöne und wenig ausgesetzte Kraxelei (I-II), bevor der Rücken abflacht und zum oberen Gletscher führt. Auch dieser wird durch das Abschmelzen immer steiler, ist aber auf direktem Weg zur Scharte östlich des Gipfels spaltenfrei, wenn man keine Umwege geht. Wie beschrieben und geplant unter dem Gipfelaufbau zu einer "kurzen steilen und oft vereisten Rinne queren", die zum Gipfel führt - no way: Bergschrund, Blankeis und darüber ein Gemisch aus losem Sand und Felsbrocken wäre, was einen erwartet. Gottseidank kann der Schrund zu der gerade ausgeaperten Scharte östlich des Gipfels auf verklemmten Felsbrocken überquert werden. Von dort auf den Gipfel führt ein kleiner Hochgebirgsgrat über zwei "Türme" und eine tiefe Scharte - an anderer Stelle als "zu schwierig" beschrieben. Umgehungen nordseitig würden Firnverhältnisse oder Sichern im Blankeis-Sand-Schutt-Gemisch erfordern, südseitig ist das Gelände, sobald man den Gratfirst verlässt, brandgefährlich brüchig (wir haben bei einem ersten Versuch einen manngroßen Block nach Südtirol verabschiedet). Dann doch lieber etwa 80 Klettermeter über die beiden Türme und den kreuzgeschmückten Vorgipfel zum Gipfel (II, 2 Stellen III, am Grat recht guter Fels), der Blick durch die bei Firnlage bestens aufstiegsgeeignete Rinne vor dem Gipfel (Schlinge um Block am Ausstieg) lässt nur schaudern: Sand mit großen Blöcken oberhalb von Blankeis mit Schründen...

Am Gipfel stimmen leider nicht nur die Tourenbeschreibungen nicht, sondern auch die Wettervorhersage: Der Hochnebel löst sich in Südtirol gerade nicht auf, die ersten paar hundert Höhenmeter des Abstiegs sehen wir maximal bis zum nächsten Steinmann und sind uns oftmals unsicher, denn quasi alles hier ist sehr steiles Schuttgelände. Das Gelände im Südtiroler Abstieg ist dadurch geprägt, dass sich weiträumig noch Eis unter Blöcken, Geröll, Sand und Erde befindet - "der gesamte Hang befindet sich in Auflösung", trifft es perfekt. Wir tasten uns auf Wegspuren von Steinmann zu Steinmann, alles bewegt sich und nicht nur wir uns, und stehen auf einmal links einer Rinne, in der Muren und abgehendes Geröll, das Eis darunter frei gelegt haben, alle 1-2 Minuten fällt, bröselt und bröckelt wieder etwas herunter. Ob weiter unten eine Querung in flacherem Gelände möglich ist, sehen wir im dichten Nebel nicht, also wieder beinahe 100 Höhenmeter hinauf, so dass wir das Gelände deutlich oberhalb des Abbruchs der Rutsche queren können - Aufatmen. Ich mag Gletscherschliffplatten zwar nicht besonders, war aber selten so froh, diese nach ermüdendem und enervierendem Geröllabstieg vom Großen Möseler zu erreichen. Die Schliffplatten scheinen dann zwar auch beinahe endlos bevor eine Moräne hinunter zum Neveser Höhenweg führt. Und starke zwei Stunden ab dessen Erreichen bis zur (tollen) Edelrauthütte sind auch kein Pappenstiel, aber alles besser als das Abstiegsgelände zu Beginn. Es verwundert nicht, dass der Möseler von Südtirol meist als Skitour gemacht wird....

Tag 2: Hoher Weißzint Überschreitung vom Mühlwalder Tal ins Pfitscher Tal
Den eigentlichen Plan für Tag 2, den Hohen Weißzint über den Ostgrat zu überschreiten, haben wir schon am Vortag auf dem Weg zur Edelrauthütte begraben. Von den "Wasserböden" (Schwemmebene am Neveser Höhenweg) türmt sich eine Moräne unterhalb des (lt. AV-Führer so genannten) Muttenockferners und der Schlegeisscharte auf, deren Durchsteigung wir a priori als unklar und bestenfalls nervig bzw. schlimmstenfalls gefährlich und zeitraubend bewerten. Im Nachhinein ist die Entscheidung ein Glücksfall: Vom Gipfel erkennen wir, dass der kleine Gletscher von Süden zur Schlegeisscharte hin, der sich im (leicht verschneiten) Satellitenbild als harmlos präsentierte, von gewaltigen Querspalten durchzogen ist, deren Überquerung oder Umgehung nicht ohne weiteres möglich erscheint.

Dass im von uns deshalb gewählten Südtiroler Normalweg (SW-Grat) zum Hohen Weißzint der Schwund der Gletscher gleichfalls zugeschlagen hat, ist deutlich offensichtlicher als das Ausmaß, wie die aktuelle Lage im Anstieg zum Großen Möseler von den Beschreibungen abwich: Der östliche Teil des Weißzintferners ist verschwunden, der westliche Teil muss nicht mehr betreten werden. Auf dem Blockrücken im Aufstiegssinne rechts des westlichen Gletschers geht es markiert bis zum Gratbeginn. Der Blockgrat zum Hohen Weißzint ist mit Steinmännern vor allem in den südseitigen Umgehungen des ersten etwas anspruchsvolleren Gratteils bestens markiert: Es dominiert einfache Kletterei (I-II) mit wenigen, kurzen ausgesetzten Passagen auf den Umgehungsbändern und am Grat, die Orientierung ist dank Steinmännern und Spuren offensichtlich, der Fels am Grat sehr gut und auch in den Umgehungen gibt es keine schlimm brüchigen Passagen. Über die Skitourenroute (wie hier noch beschrieben) lässt sich der Gipfelgrat dagegen nicht mehr in vergleichbarer Schwierigkeit erreichen: Der Gliederferner reicht von Norden nicht mehr bis zur Scharte vor dem Gipfel, auf einen Anstieg über etwa 40° steiles Blankeis würde ein solcher über sehr steile glattgeschliffene und kürzlich ausgeaperte, brüchige Platten folgen. 

Nachdem uns die Sperre des Wegs von der Edelrauthütte über die untere Weißzintscharte zur Hochfeilerhütte (wegen vorab nicht näher bekannter Auswirkungen des Gletscherschwunds und der Ausaperung) bekannt war, planten wir nach dem Gipfel des Hohen Weißzint die Überquerung der Oberen Weißzintscharte und den Abstieg über den Gliederferner als Abstieg zur Hochfeilerhütte und hatten uns über den Geokatalog der Provinz Südtirol hierfür mit Satellitenfotos "eingedeckt". Den Weg von Süden über den Weißzintferner bis zur oberen gleichnamigen Scharte sieht der (2013 erschienene und frei downloadbare AV-Führer) als derart unproblematisch, dass er sich einer näheren Beschreibung enthält, was bei dem kurzen Stück auch nicht verwundert. Wir brauchten für etwa 250 Längenmeter und vllt. 40-50 Höhenmeter mehr als 20 Minuten und zahlreiche Laufmeter, ehe wir vertretbare Übergänge über mehrere große Querspalten zu der (längst nicht mehr wie im Führer beschrieben) "vergletscherten", sondern ebenfalls ausgeaperten Scharte gefunden hatten. Nordseitig wurde es nicht besser, mehrere breite Querspalten des Gliederferners konnten wir erst umgehen bzw. überschreiten, nachdem wir den Gletscher nach Norden bis fast in Gipfelfalllinie gequert hatten. Die Idee des AV-Führers vom unteren flachen Bereich des Gliederferners her gesehen (also im Aufstiegssinne von der Hochfeilerhütte), den Gletscherbruch rechts, von oben kommend gesehen also links zu umgehen, erschien uns dann aus unserer Perspektive auch bei Ansicht der Satellitenbilder, die dort neu ausgeaperte Felsbereiche zeigten, plausibel - es zeigte sich auf den nicht mal zwei Jahre alten Bildern eine spaltenfreie Passage. Kurzum: EINE GANZ SCHLECHTE IDEE, ES FOLGT VOR EINER POTENTIELLEN ROUTENBESCHREIBUNG EIN ERFAHRUNGSBERICHT... Nach entspannten Abstieg links um den Gletscherbuckel des Bruchs herum umgingen wir eine erste Spalte des Bruchs oberhalb von Gletscherschliffplatten frohgemut über 40° steiles Blankeis und retteten uns dann erstmal auf die Schliffplatten, denn der sausteile Gletscherbruch mit einem Gewirr von Spalten und nur marginal noch mit dem Gletscher verbundenen Eisblöcken erstreckte sich nunmehr direkt bis zu den ausgeaperten Platten. Von oben erschien die Flucht nach vorn bzw. unten über Gletscherschliff möglich (NÄCHSTE SCHLECHTE IDEE) und ging auch lange Zeit gut, bevor wir die untersten 30m über unangenehm steile und glattgeschliffene Platten und eine kurze senkrechte Stufe in den Platten absteigen mussten (II-III, 1 Stelle III+ / IV-), weil wir nichts fanden, an dem wir auch mit egal welchem Materialverlust hätten abseilen können. Unterhalb der Platten gibt es dann nicht nur Bereiche, an denen einfach wieder auf den Gliederferner übergewechselt werden kann, sondern auch diverse Löcher und Randspalten, so dass ein Rutscher /Sturz in diesem Bereich nicht nur wehtun, sondern durchaus auch dort enden kann...

Besser: den Gletscherbruch des Gliederferners bei Ausaperung unbedingt im Aufstiegssinne links (und von oben kommend rechts) herum umgehen, egal was dort ist, es muss besser sein als unser Abstieg, zumal man links (in Aufstiegsrichtung) im Notfall auch in die hier flache und nicht besonders steile Moräne bzw. das dortige Blockgelände "flüchten" kann.

Nach diesem Nervenspiel vermochte uns auch die durch Murenabgänge malträtierte Moräne neben dem flachen Bereich des Gliederferners nicht mehr zu schocken - die kommt man irgendwie rauf (Steinmänner), wobei die objektive Gefahr von Hangrutschen bei nassen Verhältnissen und Steinschlag zu sehen ist. Hier erkannten wir auch, dass der Grund für die oben dargestellte Wegsperre, wohl der hiesige Zustand der Moräne ist und nicht (wie wir angenommen hatten) der Zustand des Hangs unter der Unteren Weißzintscharte auf der Gegenseite des Gletschers. Empfehlenswert ist hier auch aus diesem Grund die linke Umgehung des Gletscherbruchs, weil dies ermöglicht, der Moräne länger am Kamm zu folgen, bis sie flach wird und der Gliederferner ohne diesen steinschlägig-gefährlichen Abstieg vom Moränenkamm betreten werden kann.

Nachdem uns unsere Planungen wie dargestellt oftmals im Stich gelassen hatten, passten sie zum Abschluss dieses Tages (nach etwa 2,5 Stunden Abstieg ab Gliederferner bis zur Straße zum Pfitscher-Joch) für einmal: Nach telefonischer Anmeldung erschien Punkt 15:45 Uhr das Pass-Shuttle und kutschierte uns zum Pfitscher-Joch-Haus. Sonst wären es nochmals 530Hm extra gewesen ;)

Tag 3: Rotbachlspitze und Abstieg zum Schlegeisspeicher
Die Wettervorhersage für den 3. Tag hatte sich leider zusehends verschlechtert und sie trat auch genauso ein. Schon morgens hatte es zugezogen und der Fön stürmte in der Höhe. Der Plan "Schrammacher" wurde daher durch die schnell erreichbare Rotbachlspitze ersetzt. Ein bequemer Wandertag mit Abstieg zum Schlegeisspeicher ohne irgendwelche überraschenden Neu-Erkenntnisse - geht auch.

Tourengänger: simba, Nala


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Kommentare (2)


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orome hat gesagt:
Gesendet am 30. September 2023 um 12:34
Eindrücklich Bericht! Mittlerweile geht man echt besser im winter auf die Zillertaler. Südseitig ist ja alles in Auflösung begriffen.
Ich war vor ein paar Tagen auf dem Schwarzenstein, 2013 das letzte mal. Beim fotovergleich zweifelt man, am selben Ort zu sein ...
Grüße manu

simba hat gesagt: RE:
Gesendet am 30. September 2023 um 17:48
Die Orte, an denen man beim Fotovergleich daran zweifelt, am gleichen Ort zu sein wie auf den alten Bildern, werden leider immer mehr. Ging mir auch schon einige Male so...
Beste Grüße, Si


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