Kurzbericht 

Bei passender Gelegenheit...


Publiziert von lorenzo , 16. Juli 2023 um 19:52.

Region: Welt » Italien » Aostatal
Tour Datum:15 Juli 2023
Wandern Schwierigkeit: T4 - Alpinwandern
Hochtouren Schwierigkeit: ZS
Klettern Schwierigkeit: III (UIAA-Skala)
Wegpunkte:
Geo-Tags: CH-VS   I 
Zeitbedarf: 2 Tage
Zufahrt zum Ausgangspunkt:Von Martigny über den Col oder durch den Tunnel du Gd-St-Bernard nach Variney ca. 2,5km N von Aosta, und durch das Valpelline über Oyace und Bionaz nach Place Moulin
Zufahrt zum Ankunftspunkt:dito
Unterkunftmöglichkeiten:Rifugio Prarayer, Rifugio Aosta
Kartennummer:LK 293 Valpelline, 283 Arolla, 1347 Matterhorn; www.camptocamp.org, www.gipfelbuch.ch

Vor Jahren hatte uns Führer Wale Josi auf der Fahrt nach Arolla erklärt, dass die Dent Blanche und der Dent d'Hérens durch eine Verwechslung eines Kartografielehrlings zu ihren widersprüchlichen Namen gekommen seien. Dessen ungeachtet behielten die beiden stolzen Viertausender bis heute ihre Anziehungskraft, der auch ich mich nicht entziehen konnte. So hatte ich vor rund 15 Jahren einen ersten Versuch einer Skibesteigung des Dent d'Hérens ins Auge gefasst. Der zugegeben etwas grossspurige Plan sah "zwei Fliegen auf einen Streich vor", nämlich zuerst das Couloir Annibal am Mont Vélan, und da ich mich ja schon am Grossen Sankt Bernhard befand, am nächsten Tag den Dent d'Hérens über die SW-Flanke. Aber schon bei der Ankunft in Place Moulin hatte ich Kopfweh, und war mir schlecht, kurz: Hannibals Elefanten hatten mich platt gemacht, und die Luft war draussen. Ein Jahr später war Place Moulin entgegen den Prognosen von Wolken verhangen, und es regnete, so dass ich, enttäuscht und erleichtert zugleich, erneut die lange Rückfahrt unter die Räder nahm.

Inzwischen hatte ich den Dent d'Hérens schon fast abgeschrieben, als ich 
seiner eleganten Pyramide, die sich neben dem Matterhorn besonders verlockend ausnimmt, auf einer Skitour diesen Winter aus unmittelbarer Nähe ansichtig wurde. Obwohl vom Bild fasziniert, weckte dieses bei mir angesichts der vorangegangen beiden Pleiten und dem Wissen um die zunehmende Ausaperung dieses "Hidden Peaks" an der Grenze zwischen Italien und der Schweiz vorerst noch keine Wiederauferstehung meiner Besteigungsaspirationen. Erst ein knapper und schlichter Bericht im Gipfelbuch diesen Frühsommer brachte mich zurück auf die Schiene, und als mir knapp drei Wochen später der Hüttenwart des Rifugio Aosta immer noch "buone condizione" versprach, reservierte ich bei voraussichtlich gutem Wetter für den darauf folgenden Freitag- "Ferienzeit - wenig Arbeit" -, um der vermutlich überfüllten Hütte am Wochenende zuvorzukommen und ein Schnippchen zu schlagen. Ich holte meine mittlerweile etwas verstaubte Hochtourenausrüstung aus der Mottenkise hervor und packte sicherheitshalber noch etwas Klettermaterial in den für meinen Geschmack ohnehin schon viel zu schweren Rucksack.

Durch das Rhône- und Dransetal, das Val d'Entremont und den Grossen Sankt Bernhard gelangte ich ins Valle del Gran San Bernardo, und vom dortigen Dorf Ëtroubles auf der erstbesten holprigen, aber idyllischen "Abkürzung" direkt ins Valpelline, das mit seinen malerischen Dörfern, ihren Namen in Valdôtain und den bis hoch hinauf bewaldeten Bergen einer Mischung aus einem französischen Hoch- und einem Tessiner Bergtal gleicht. Auf Place Moulin wurde mir wegen dem Giro Cyclistico Valle d'Aosta (Saint Vincent-Bionaz, 138km, 3500Hm) ein Parkplatz weiter unten an der Strasse zugewiesen. Zur Staumauer des Lac de Place Moulin war es aber nicht weit, und kaum hatte ich diese hinter mir gelassen, wähnte ich mich auf dem beliebten und viel begangenen und von Bikern befahrenen Weg dem türkisenen See entlang an einem nordischen Fjord, in den von beiden Seiten tosende Wasserfälle hinunter stürzen. Bald erreichte ich das Rifugio Prarayer, wo der Weg in die Comba d'Oren und zum Rifugio Nacamuli CAI abzweigt. Zuerst durch lichten Lärchenwald und Erlengehölz, dann durch eine vom Rückzug der beiden Gletscher Grandes Murailles und Tsa de Tsan geprägte, reich mit Bergblumen in allen Farben bewachsene Moränenlandschaft gelangte ich entlang dem Torrrente Buthier bis zu einem durch Gletscherschliffe geprägten Rücken, und über diesen, nun mitten in überwältigendem Hochgebirge, zum Rifugio Aosta.

Der Hüttenwart empfing mich mit selbst destilliertem Génépi und erklärte mir, Mut und Zuversicht vermittelnd, detailliert die Verhältnisse am Berg - kaum Spalten, trockener Fels -, wo er am vorigen Sonntag selber noch Gäste hinaufgeführt hatte. Derart mit guten Geistern gesegnet, erleichterte ich den Rucksack für den morgigen Tag und legte mich beruhigt und entspannt eine Stunde hin. Dann prägte ich mir den sichtbaren Teil des zum Glück übersichtlichen Zustiegs ein, genoss die unvergleichliche Aussicht talauswärts, und machte noch einige Fotos. Ich teilte ein Zimmer mit einer holländischen Gruppe, die über den Col de Valpelline zur Schönbielhütte SAC queren wollte, und mit zwei Norwegern, die wie ich den Dent d'Hérens vor hatten. Zwei Italienerinnen, die mit dem Hüttenwart und seiner französischen Gehilfin auf die Tête de Valpelline steigen würden, waren separat untergebracht. Die beiden erzählten
 mir während dem feinen Abendessen, bestehend aus einem Primo und Secondo Piatto sowie einem Dolce, begeistert von den alpinistischen Kostbarkeiten und Schönheiten des Valle d'Aosta, und eröffneten mir damit eine grosse und weite Welt weitab vom Gantrisch und vom Diemtigtal. Nicht nur als Schlummertrunk, auch als Digestif war schliesslich der süss-bittere Likör aus Artemisia glacialis nochmals willkommen, denn schon zeitig rief die Nacht zur Ruhe vor dem morgigen Gipfelsturm.

Als ich um viertel nach zwei aufstand, hatte sich der böige Föhn vom Vortag gelegt, und am nachtschwarzen Himmel funkelten die Sterne aus allen Richtungen. Nach dem Frühstück ging ich mit der Stirnlampe in mondlosem Dunkel auf dem gut markierten Moränenweg zum Gletscher, hinter mir die beiden Norweger. Bis zur Steilstufe war der Schnee kaum gefroren, und die alten Spuren waren unter der Tageshitze zerschmolzen, ich konnte mich aber gut an den Felsen der Tête de Valpelline linkerhand orientieren. Im gefrorenen Firn war die Spur dann deutlicher, und etwa ab dem Tiefmattenjoch begann es schon zu dämmern. Die Ketten in der Rinne zum Grat musste ich zuerst suchen, bis ich sie auf einen Tip der Norweger links unter dem Turm fand. "Atlético Madrid" ging mir während dem Hochhangeln durch den Kopf, waren doch meine mickrigen Biceps trotz allem Krafttraining jeweils schon nach wenigen Zügen ausgepumpt. Aber 60Hm schafft auch ein 60-jähriger Schlaffi, der sich auf den nun beginnenden Grat freute. Auf griffigem Gneis gelangte ich in schönster Genusskletterei und bei "mit Rosenfingern erwachender Morgenröte" zum Gendarm, wo ich etwas knobeln musste, bevor es wieder leichter wurde. Wegen kammnah wieder aufgefrischtem Föhn waren mir dabei Passagen im Lee auf der Nordseite mehr als willkommen. Der S-Ast des Tiefmattengletschers wartete mit griffigem und gespurtem Trittfirn auf, dessen Tage aber gezählt sein dürften, trat doch zwischendurch stellenweise immer wieder Blankeis hervor. Auf den kombinierten Platten zuoberst wurde es nochmals richtig spannend, bevor mich der Gipfelgrat mit nochmals schöner Kletterei und der Gipfelfirst mit körnigem Firn zum höchsten Punkt geleiteten: unbeschreiblich die Tiefblicke zum Zmuttgletscher und ins Mattertal, ins Valtournanche und zurück ins Valpelline, und das Panorama zu den Myriaden von Gipfeln rund herum!

Nachdem ich die grandiose Aussicht in mich aufgesogen hatte, begann ich unverzüglich mit dem Abstieg. Am Gipfelgrat begegnete ich den beiden Norwegern, die immer wieder aufgeholt und mich sogar überholt hatten und dann wieder zurückgeblieben waren. 
Im steilen Firn stieg ich sorgfältig hinunter, wenn nötig auf den Frontzacken, und am Gendarm im unteren Felsgrat seilte ich 10m an einer eingerichteten Schlinge nervenschonend ab, wodurch auch das mitgeschleppte Kurzseil zu seinen wohlverdienten Ehren kam. Am meisten Kopfzerbrechen bereiteten mir die Ketten. Ich löste das Problem mit einer zusätzlichen Prusikschlinge, die sofort eine wohltuende Bremswirkung entfaltete. Kurzes Aufatmen auf dem Gletscher, der trotz Gutmütigkeit nochmals meine volle Aufmerksamkeit erforderte. Auf der Moräne begrüssten mich die ausgeruhten Blumen, und in der Hütte waren inzwischen eine Führerseilschaft von der Cabane de la Dent Blanche SAC und ein italienischer Gast eingetroffen. Ich packte meine Sachen, legte mein Geld mit einem Zettel in die Küche und liess dem Hüttenwart dankende Grüsse ausrichten. Erleichtert gewahrte ich endlich auch die beiden Norweger beim Abstieg über die Moräne. Dann macht ich mich auf den Weg, den ich diesmal, von etlichen Aufsteigern nach den Verhältnissen am Dent d'Hérens befragt, denen ich grünes Licht geben konnte, in umgekehrter Richtung geniessen durfte, hoffend, nicht von Regen oder Gewittern, die schon für den frühen Nachmittag angekündigt waren, überrascht zu werden. Zwar zogen begleitet von Windböen dunkle Wolken das Tal hinauf, zurück in Place Moulin schien aber schon wieder die Sonne, und später sollte das Thermometer weiter unten erneut auf über 30 Grad ansteigen. Bei der Rückfahrt vermied ich diesmal "streckenverlängernde Massnahmen"  wie die endlose "splügeske" Südrampe zum Grossen Sankt Bernhard, dafür liess ich es mir nicht nehmen, zwischen Sembrancher und Martigny ein Kilo frische Walliser Aprikosen zu kaufen, die fast so gut oder villeicht sogar noch besser schmecken als jene aus dem Hunza Valley...

Rifugio Aosta CAI

Hüttenweg von Place Moulin: vom Parkplatz Place Moulin (1968m) auf dem gelb markierten Bergweg Nr. 10 entlang dem orografisch rechten Ufer des Lac de Place Moulin (1950m) zum Rifugio Prarayer (2010m), und durch das oberste Valpelline dem Torrente Buthier, der mehrmals auf Brücken überquert wird, entlang über zwei Steilstufen und zuletzt W ausholend auf der E Moräne des Haut Glacier de Tsa du Tsan und auf Felsbuckeln (z.T. gesichert) zur Hütte (2781m), 3h 30min-4h 30min im Auf- und Abstieg, T4. 815Hm.

Dent d'Hérens
Aufstieg: vom Rifugio Aosta (2781m) auf einem gelb markierten Pfad hinunter zur N Moräne bei ca. 2740m und auf dieser (Steinmänner), zuletzt E haltend zum N-Ast des Glacier des Grandes Murailles bei ca. 3000m. Am N Gletscherrand, die Steilstufe bei ca. 3300m z.Z. nahe des felsigen S-Rückens der Tête de Valpelline passierend, dann wieder flacher und unter dem Tiefmattenjoch (3562m) hindurch unter den E der beiden P. 3602 (markanter Turm). Durch eine mit Ketten gesicherte steile und brüchige Rinne schräg von W nach E ca. 60Hm hinauf auf den Grat E des Turms (Vorsicht bei mehreren Seilschaften wegen Steinschlag). Nun über den unteren W-Grat auf griffigem Fels (II-III), dabei einen Gendarmen überschreitend (III+, im Abstieg Abseilmöglichkeit 10m an Schlinge mit Karabiner), und zuletzt in Gehgelände (Pfadspuren) zum S-Ast des Tiefmattengletschers. An dessen S Rand nahe dem oberen W Grat bzw. über die W-Flanke auf Firn oder Eis (bis 40 Grad, Bergschrund), die letzten ca. 80Hm auf verschneiten oder vereisten Platten (Sicherungsbügel alle ca. 20m) zum Gipfelgrat, und über diesen auf griffigem Fels (II-III, ausgesetzt) zum verfirnten Gipfelfirst, der in Kürze zum Gipfel (4173m) führt, 4-5h, ZS. 1435Hm.

Abstieg: über die Aufstiegsroute, 3-4h, ZS.

Verhältnisse: bei mässigem Föhn an beiden Tagen sonnig und mild mit Wolkenbildung ab Mittag. Nacht dazwischen sternenklar, Schnee auf dem Zustiegsgletscher ab ca. 3300m gefroren, und in der Gipfelflanke abgesehen von wenigen vereisten Stellen guter Trittfirn. Spalten auf dem Zustiegsgletscher noch gut eingeschneit oder sicht- und umgehbar (Spur), Bergschrund in der Gipfelflanke gut passierbar (Spuren). Fels trocken.

Material: übliche Hochtourenausrüstung mit 20m 7,5mm Seil, 3 Schlingen, 4 Express, 1 Satz Rocks, 3 mittleren Camalots und 2 Eisschrauben (Sicherungsmaterial ausser dem Seil einmal zum Abseilen am Gendarm und einer Schlinge zum Sichern an der Kette beim Abstieg durch das Couloir nicht gebraucht).

Fahrplan 14.7.23: 11.15 Place Moulin, 15 Uhr Rifugio Aosta
Fahrplan 15.7.23: 3 Uhr Rifugio Aosta, 5 Uhr Ausstieg Couloir, 7 Uhr Gipfel, 9 Uhr Gletscher, 10.45 Rifugio Aosta, 14.45 Place Moulin.

Tourengänger: lorenzo


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