Aneto Überschreitung


Publiziert von degga , 10. Dezember 2022 um 20:54.

Region: Welt » Spanien » Aragonien » Huesca
Tour Datum:19 Oktober 2022
Wandern Schwierigkeit: T5 - anspruchsvolles Alpinwandern
Hochtouren Schwierigkeit: WS
Klettern Schwierigkeit: II (UIAA-Skala)
Wegpunkte:
Geo-Tags: E 
Zeitbedarf: 5:30
Aufstieg: 2200 m
Abstieg: 2200 m
Strecke:32
Zufahrt zum Ausgangspunkt:zur Hochsaison am besten mit dem Touristenbus bis zur Puente Coronas, ansonsten wie hier beschrieben individuell, am Stausee finden sich auch Parkmöglichkeiten
Zufahrt zum Ankunftspunkt:zur Hochsaison ab La Besurta wieder mit dem Touristenbus. Wem die komplette Runde zu lang oder zu öde ist, dem empfiehlt es sich sein Fahrrad in La Besurta abstellen
Unterkunftmöglichkeiten:in Benasque, "Camping Aneto" war der höchstgelegendste Campingplatz im Oktober, der geöffnet hatte; im Sommer scheint auch "Camping de los Baños" geöffnet; komfortabel, vor allem auch von der Lage: Benasque Hospital

In den Tagen vor dieser Tour hatte ich zwei halbwegs schlaflose Nächte aufgrund der T5 Bewertungen und der schon fortgeschrittenen Jahreszeit mitten im Herbst. Seit einigen Tagen belagerten wir - in Familie im Elternzeiturlaub - das Massiv, an der Nordseite lag der Schnee von Anfang Oktober noch runter bis auf 3000 m, seit zwei Tagen herrschte starker Wind, der das Maladetta-Massiv zuweilen wie den Mt. Whateverest aussehen ließ. Unvorstellbar da oben zu sein, war es doch schon bei unseren normalen Wanderausflügen auf 2000 m sehr ungemütlich trotz fast 20 Grad Lufttemperatur.

Am Tag vor der Abreise avisierte ich die Besteigung ab La Besurta, aber schon beim Aussteigen aus dem Auto zur Mittagszeit war klar, dass es allenfalls spät abends nach abflauen des Sturmes gehen würde. Wir Unternahmen stattdessen eine wunderschöne Familienwanderung zum Toro-See. Außerdem hatte ich an diesem Tag arg mit dem Verdauungssystem zu kämpfen, sodass eine sportliche Besteigung kein Vergnügen gewesen wäre. Sportlich sollte es schon sein (ich bin ein guter Läufer mit einen kleinem hochalpinem Erfahrungsschatz), da ich in der gemeinsamen Elternzeit nicht beliebig viele Stunden einfordern möchte und ich nach Rocciamelone, Canigou und Monteixo nun dennoch das letzte große Ding entlang unserer Reise platzieren wollte. Die letzte Option war - und da blieb die Wettervorhersage konstant - der Abreisevormittag: Temperaturen knapp über Null, Sturm erst ab 10 Uhr beginnend und die Kaltfront und ihr Regen sollte erst 14 Uhr da sein.

Ich startete vom Camping Aneto um 6:45 mit dem E- Fahrrad meiner Frau zum Senarta- Camping am Stausee Embalse de Paso Nuevo, kurz nach 7 wechselte ich auf die Füße hinauf zur Coronas-Brücke. Bei dem Zustand der Piste erschien mir der Zeitvorteil mit Rad marginal, die Piste hatte ich 2 Tage zuvor mit dem Chariot erkundet. Außerdem hatte insgeheim immer noch den Traum der Überschreitung im Hinterkopf, da benötige ich das Rad nicht irgendwo am Berg. Übrigens war die Piste vor etwa 24 Stunden stellenweise frisch betoniert worden und bereits ausgehärtet, dabei aber so rissig geworden, dass man sich kaum vorstellen kann, dass diese Stellen länger als eine Hauptsaison halten. Da fährt nämlich ein Bus bis hinauf zur Coronas Brücke, im Oktober leider nicht.

Die Abkürzung der Serpentine durch den Wald ging es mit Handytaschenlampe und danach war der Mondschein auf der Piste ausreichend hell. An der Coronas- Brücke waren 55 min vergangenen und es dämmerte. Längst hatte ich schon nur noch eine Kleidungsschicht an. Rechts vom Bach stieg ich am ersten See vorbei, bog - nach Blick auf die Karte - vor dem zweiten See links ab und ließ den dritten großen See links liegen. Immer wieder verlor ich kurz die Haupttrasse, steuerte aber dennoch recht effizient zum Scharte Collado de Coronas zu, von der ich nur kurze Videosequenzen gesehen hatte. Mein Tempo hatte sich schon signifikant verringert und im Bauch wütete es ein letztes mal. Ich flüsterte mir mehrfach Mut zu: "HACENDADO, HACENDADO" ... der Markenamen meiner Milch, welche ich hier in den spanischen Pyrenäen trank, und auf deren Packung m.E. das Maladetta-Massiv abgebildet ist. Etwas Angst kam auf, dass die Energiespeicher aufgrund gestörten Verdauung schon entleert seien, und ich entleerte noch schnell die anderen Speicher, ehe es ernst würde.
Die Scharte war sehr viel steiler als gedacht, mehrmals querte ich die Rinne auf der Suche nach festem Gestein, dabei die ganze Zeit wirklich absturzgefährdet, etwa 20 Höhenmeter. Wahrscheinlich befand ich mich eine Scharte zu weit links, aber sowohl unten als auch oben waren überdeutliche Nutzungspuren vorhanden, möglicherweise mangels Schneefeld die neuerdings bessere Aufstiegsrinne. Auf der anderen Seite der Scharte muss man so etwa 10 Meter in sehr steilen und losem Geröll auf das Schneefeld absteigen, welches man danach unkompliziert waagerecht nach rechts quert. Der Wind pfiff schon erheblich und hatte mich in der Scharte ausgekühlt. Ich zog alle Kleidungsschichten an und suchte mir - mangels Steigeisen oder Grödeln - einen Weg über Steine. Dank des Neuschnees konnte ich mich objektiv recht sicher fortbewegen, ab und an blitzte unter dem Schnee jedoch jenes Blankeis hervor, welches die Angelegenheit hier im Spätsommer so gefährlich macht. Rechts vom obersten Schneefeld stieg ich eine Rinne hoch und konnte somit die Hauptgefahr komplett vermeiden.
Die Mahoma-Brücke - auch darum kreisten im Vorhinein viele meiner Gedanken - war in real bei weitem nicht so schlimm wie in manchen YouTube Videos dargestellt. So stand ich nach glatten 3 Stunden um 10 Uhr auf dem Gipfel.
Ich ging nun das Projekt Überschreitung an, was mir wegen der Scharte auch deutlich sicherer erschien. Runter ging es auf der Normalroute komplett ohne Schneefeld - ja, das scheint im Jahr 2022 möglich zu sein, gewiss nur spät im Jahr, aber komplett ohne Schnee. Aufgrund der Mutter aller Überschreitungsaktionen der Südtiroler Brüder am Nanga Parbat empfinde ich dafür eine tiefe Faszination und zusammen mit meinem Vater hatten wir das auch so am Mont Blanc praktiziert. Nur mein Günther, der auch mal gerne mit auf Berge geht, war einige tausend Kilometer entfernt mit seinem eigenen Abenteuer beschäftigt, also in Sicherheit, sodass sich zumindest diesbezüglich kein Drama ergeben sollte.
Auf dem Gletscherschliff ging es flott laufend (im Gipfelbereich war ich sehr vorsichtig, weit und breit kein anderer Mensch am Berg an diesem Tag) gen Tal, bis mich ein erster Ausrutscher in einem Rinnsal an die Vergänglichkeit des Lebens erinnerte und der Granit ein erstes Loch in den Rucksack meiner Frau schliff.
Auf 2300 m dann das viel drastischere Malheur: an der letzten kurzen Kraxelstelle des Tages - längst auf banalem Wanderwegterrain, eine Miniserpentine an einer kleinen Felsstufe - gibt der Griff nach und ich Stürze Rücklings runter. Das Übliche: das Zeitempfinden verlangsamt sich erheblich, und im freien Fall mache ich mich auf das schlimmste gefasst ... Und lande einen guten Meter unter meinen Füßen, erstaunlich sanft, wiederum auf dem Rucksack meiner Frau. Dieser ist schon beim ersten Blick mit Blut der aufgeschlagenen Finger der linken Hand besudelt. Aber mehr ist tatsächlich nicht passiert.
Nach kurzem Schütteln und Beseitigen möglicher Ursachen unzureichender Konzentration durch Essen und Trinken (aber nicht zu viel, die Verdauung; es steht noch ein langer Bergablauf an) nehme ich wieder Fahrt auf, die Hand als Mahnmal mit besudeltem Taschentuch nach oben, damit die Blutung aufhört, und ab Besurta dann mit locker geschnürten Wanderstiefeln im Laufschritt auf der Straße zum Rad. Im Gehirn stellt sich als Ohrwurm Kay Tracids "Live ist too short" ein und ich schließe die Runde nach 32 km, 2200 Hm und fünfeinhalb Stunden, seit Ewigkeiten mal wieder komplett geflasht.

Tourengänger: degga


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