Hannover - Landsberg: Zwei Tage und eine Nacht mit dem Rennrad durchfahren (602km und 4878hm in 29h)


Publiziert von AIi , 10. Juni 2020 um 14:26.

Region: Welt » Deutschland » Alpenvorland
Tour Datum:26 Mai 2020
Mountainbike Schwierigkeit: L - Leicht fahrbar
Wegpunkte:
Geo-Tags: D 
Zeitbedarf: 2 Tage
Aufstieg: 4878 m
Strecke:602,3km

Wie weit kann man am Stück mit dem Fahrrad fahren? 
Es handelt sich hierbei um keine Frage, welche für die Menschheit von großer Relevanz wäre. Meine Wenigkeit treibt dieser Gedanke jedoch schon seit Jahren um und es ist zu einem Hobby geworden die Grenzen des für mich Möglichen immer weiter zu verschieben. 
Die Regeln sind einfach: Man nehme ein herkömmliches Rennrad, natürlich ohne E-Antrieb, und fahre mit diesem möglichst viele Kilometer auf einen Zug. "Auf einen Zug" bedeutet hierbei keine größeren Pausen, wie zum Beispiel beim Schlafen in der Nacht zu machen. Das Stoppen an einem Supermarkt um sich zu verpflegen ist natürlich gestattet. Beim Essen und Trinken ist alles zugelassen, was man ohne Hürden erwerben kann. Unterstützung in Form von anderen Radlern oder einem Begleitfahrzeug ist erlaubt, wobei letzteres recht uncool ist. 


Nun zum konkreten Projekt: Schon länger schwebte mir vor von meinen Studienort Hannover mit dem Radl nach Hause, also nach Landsberg, zu fahren. Für die 600 Kilometer quer durchs hügelige Deutschland hätte ich mir eigentlich eine Woche genommen, so wie mein Vater einst vor vielen Jahrzehnten...
Nachdem sich die Kondition und auch das Selbstbewusstsein in letzter Zeit gut entwickelt hatten, fasste ich den Plan im Mai 2020 das Projekt Hannover - Landsberg in einem Zug mit dem Rad in Angriff zu nehmen. Nach meiner letzten Prüfung in Hannover passten dann auch die Rahmenbedingungen: Mindestens zwei Tage gutes Wetter und leichter Wind aus NW bis NO. So fand ich mich eines morgens auf meinem Rennradsattel in Hannover wieder, das nötigste an Gepäck in einem kleinen Rucksack und eine Strecke quer durch Deutschland vor mir...


Start Hannover: 26.05.2020 10:45 Uhr
Etwas schlecht gelaunt fahre ich die Maschseepromenade gen Süden, hatte ich soeben erfahren, die Bestehensgrenze der letzten Prüfung knapp verfehlt zu haben. Während den ersten bekannten Kilometern aus Hannover raus und durchs südliche Umland beschäftigt mich dieser Faux pas weiterhin und ich brüte über den Konsequenzen. Das Schloss Marienburg lasse ich links liegen und fahre weiter gen Süden auf das Leinebergland zu. Auch wenn die Speicher natürlich noch voll sind, fahre ich sehr gemütlich und esse jede Stunde im Fahren eine Kleinigkeit wie Riegel oder Bananen - ich hab ja noch was vor mir. 
Hinter Alfeld beginnen die Hügel und ich fange langsam auch an Höhenmeter zu machen. Ein Autofahrer zeigt beeindruckendes Engagement bei dem Versuch mich auf einen holprigen Radweg aus Betonplatten aufmerksam zu machen, dann ist auch schon Northeim erreicht. Von hier geht es ziemlich langweilig entlang einer Bundesstraße weiter nach Süden, immerhin spendet mir ein Rennradkollege etwas Windschatten. So erreiche ich mein erstes Etappenziel 

Göttingen um 15 Uhr. 
Ein kurzer Abstecher ins Zentrum dieser sympathischen Stadt genehmige ich mir, immerhin habe ich schon 111km geschafft, ein gutes Sechstel. Hinter Göttingen beginnt, wer hätte es gedacht, mit dem Verlassen Niedersachsens die interessante und schöne Landschaft. In der Nähe der Werra taucht man in eine liebliche Landschaft aus Hügeln, Burgen und viel Laubwald ein. Die Höhenmeterzahl auf meinem Tamagotchi wächst genauso wie die Anstrengung. Apropos Tamagotchi - diesen treuen Freund möchte ich gerne vorstellen. Es handelt sich hierbei um meinen Fahrradcomputer, der mir nicht nur meine Werte wie Strecke, Geschwindigkeit und Herzfrequenz mitteilt, sondern mir auch mittels eines vorher am Rechner erstellten GPS Tracks den Weg weist. Wie man sieht, doch nicht gänzlich allein, tangiere ich den nächsten halbwegs größeren Ort Eschwege. Nachdem es langsam Abend wird und mein Wasser- und Essensvorrat zur Neige geht lande ich in einem kleinen Dorf namens Ulfen, welches sich noch in Hessen befindet, beim örtlichen Tante Emma Laden. Dieser hat eigentlich schon zu, aber die betreibende Familie macht gerade Inventur und lässt mich noch einkaufen. Ein etwas abgekämpftes Bild werde ich bereits hier abgegeben haben, sonst hätte man mich wohl nicht so genau nach meinem Vorhaben befragt. Spätestens als ich erwähnte, die Nacht durchfahren zu wollen, hielt man mich wohl für einen freundlichen Irren. Gegen 19 Uhr überschreite ich die Grenze zugunsten der DDR und komme am Monte Kali bei Berka vorbei, der höchste seiner Art in Deutschland. 
Während die abendlichen Schatten länger und der Verkehr weniger werden, durchquere ich den südwestlichsten Teil Thüringens. Nachdem die Werra lange Zeit mein Begleiter war, biege ich nun ins Tal eines ihrer Seitenflüsse, der Felda, ein. Besonders erinnernswert ist der gleichnamige Feldatalradweg der auf oder neben einer alten Bahnstrecke ohne Verkehr und in angenehmer Steigung hinauf in die Rhön führt. Um 21.30Uhr schalte ich in Kaltennordheim, dem letzten größeren Ort in Thüringen, mein Fahrradlicht mit extra Akku ein. Zufrieden stelle ich fest, dass ich mehr sehe als bei einer Nachtfahrt mit meinem 26 Jahre alten Auto. Kurz darauf überquere ich die

Grenze nach Bayern um 22.15 Uhr

Ich bin nun 11,5h unterwegs und 250km gefahren. Die Hälfte ist also noch nicht geschafft, das richtige Bundesland aber schonmal erreicht. 
Die anschließende Nachtfahrt durch das Frankenland ist keiner übermäßig detaillierten Beschreibung würdig - viel gesehen hat man ohnehin nicht. Interessant für mich war eher die Erfahrung, immerhin das erste Mal eine Nacht durchgeradelt. Wie bereits erwähnt war die Beleuchtung kein Problem, weiterer Vorteil ist das geringe Verkehrsaufkommen in der Nacht. Nach meinem eisernen Plan ist jede Stunde eine kleine Mahlzeit angesagt, wichtig ist sich am Abend vorher noch ausreichend mit Nahrung und Wasser einzudecken - Tankstellen auf dem Land können rar sein und haben Nachts meistens zu. Ich komme durch Neustadt an der Saale und überquere den

Main in Schweinfurt um 01.08 Uhr

Danach folgt erstmal kein nennenswerter Ort, nur Dunkelheit und zwei Rehe die mir fast ins Radl laufen. Wieder hellwach, kann ich die mir etwas später begegnenden Igel und einen Fuchs professionell umfahren. Verglichen mit wütenden niedersächsischen KFZ-Führern, sind mir diese Verkehrsteilnehmer ohnehin eine willkommene Abwechslung. 
Wie meine Kräfte schwinden, so fallen gegen Ende der Nacht auch die Temperaturen. Als es gegen 4 Uhr nur noch 1 Grad hat und ich durch lange vernebelte Senken fahre, wird es das erste und einzige Mal auf der Tour gefährlich. Nach 400km und 19h im Sattel kommen zur Grunderschöpfung steife Finger, die zum Bremsen nicht taugen, hinzu. Außerdem stellt sich bei mir eine Art Trance mit Tunnelblick und relativer Gleichgültigkeit ein. Soweit ich mich erinnern kann, war mein einziger Gedanke: Weiterfahren.
Bevor irgendwas passiert, wache ich dann zum Glück auf und realisiere, dass ich so mein Ziel nicht erreichen werde. Ich biege ab nach Bad Windsheim, was mir bisher nur als Standort einer Rehaklinik bekannt war. Dort flüchte ich mich in den beheizten, beleuchteten und mit Radio beschallten Vorraum einer Bankfiliale und taue erstmal auf.
Um 5 Uhr kommt die Verkäuferin einer angeschlossenen Bäckerei um den Laden zu öffnen. Sie fragt nur: "Sind Sie die Nacht durchgefahren?" als Sie mir Kaffee und Semmel unterm Plexiglas durchschiebt. Mein Nicken kommentiert Sie nur mit einem nüchternen "Aha" - Wer weiß wen oder was Sie schon bei Ladenöffung im Bankvorraum vorgefunden hat...

Wieder etwas gestärkt und vor allem aufgewärmt schwinge ich mich wieder aufs Rad um die letzten 200km in Angriff zu nehmen. Wie es sich bei solchen Touren verhält, werden die Probleme gegen Ende nie weniger, höchstens anders. So tut mir nun mein, inzwischen wund gesessener, Hintern weh und das auch noch die restlichen 10h. Während mancher Rennradkollege auf Sitzcremes schwört lautet meine Devise - All natural. Bei bis zu 300km Touren hat das auch meistens gut geklappt, aber irgendwann hisst jeder Hintern mal die weiße Flagge...
Und jede Bodenwelle erinnert einen an diese Kapitulation - Mann, das war echt unangenehm!

Ich erreiche

Ansbach Um 7.50 Uhr

Hier bleibt mir nur die Toilette des örtlichen Edeka in Erinnerung, wohin mich beginnender Durchfall führt. Während die Kräfte weiter schwinden, wächst der Stolz auf das bereits geschaffte und motiviert unheimlich nicht aufzugeben und das Projekt durchzuziehen. Mit Erreichen des Nördlinger Ries, komme ich nun in die Gegend, welche ich meine weitere Heimat nennen kann. Die Harburg und Donauwörth wecken Erinnerungen an schöne Familienausflüge und so geht das radeln subjektiv doch ganz gut. 

Spätestens als ich "meine" Großstadt 

Augsburg um 13.45 Uhr 

durchquere, sind die Strapazen der zurückgelegten 550km in 27h verblasst und ich habe das Gefühl heute noch Zuhause anzukommen. Die letzten 40km sind schließlich wie ein Rausch. 
Im Wiegetritt, in memoriam meines Hinterns, rolle ich um
15.30 Uhr auf den Hauptplatz in Landsberg
Die Kraft reicht sogar noch für eine kleine Runde durchs örtliche Industriegebiet um die 600km voll zu machen (vorher waren es nur 592 ;).

Dann wird ein Traum der letzten 29 Stunden Realität: 

Ich stehe an unserem Gartentor und drücke dieses auf.
Ich schiebe mein Fahrrad hoch zur Gartenbank.
Ich lege mich ins Gras.
Ich denke
Geschafft


Tourengänger: AIi


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Kommentare (2)


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Toni83 hat gesagt:
Gesendet am 21. Juni 2020 um 09:01
Genial!
Zumindest deine letzten fünf Zeilen kann ich gut nachvollziehen. Irgendwie läuft es (bei mir zumindest) doch die ganze Zeit nur auf diese hinaus.
Gruß
Toni

©bergundradlpeter hat gesagt:
Gesendet am 12. Juli 2020 um 20:34
Servus Ali,
Deine Tor(-Tour) erst gerade entdeckt macht man nicht alle Tage, aber irgendwie ganz nach meinem Geschmack. Gewaltiges Sitzfleisch braucht's halt dazu - sauber:-)

Beste Grüße aus Herrsching
Peter


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