König Ortler von seiner kalten Seite


Publiziert von Paco , 1. Dezember 2019 um 17:08.

Region: Welt » Italien » Trentino-Südtirol
Tour Datum: 4 Oktober 2018
Wandern Schwierigkeit: T5 - anspruchsvolles Alpinwandern
Hochtouren Schwierigkeit: ZS
Klettern Schwierigkeit: IV (UIAA-Skala)
Wegpunkte:
Geo-Tags: I 
Zeitbedarf: 2 Tage
Aufstieg: 2000 m
Abstieg: 2000 m

Was tun wenn nicht alles läuft wie geplant? Auf jeden Fall Nerven behalten und etwas Glück kann auch nicht schaden. Aber der Reihe nach…

Hoch oben thront der König Ortler mit seinen 3905m über dem Meeresspiegel. Eine Höhe bei der eine Akklimatisierung sinnvoll ist. Idealerweise mit einer Tour um die 3500m und einer Schlafhöhe zwischen 2500m und 3000m.
Wir wollen die Überschreitung machen, d.h. hoch über den schwereren Hintergrat und hinunter über den –auch nicht ganz leichten- Normalweg.
Also los geht’s! Wetterbericht gecheckt und verdammt…

Gutes Wetter ist nur für Donnerstag und Freitag angesagt. Somit doch keine Akklimatisierungstour und sofort auf den höchsten Südtirols.
Die Hütten sind Anfang Oktober schon alle geschlossen. Also Winterraum und schwere Rucksäcke. Naja, wäre nicht das erste Mal. Zum Tag der deutschen Einheit Aufbruch in München und 4h Autofahrt nach Sulden in Südtirol auf einer Seehöhe von knapp unter 1900m. Als erster Stützpunkt soll der Winterraum der Hintergrathütte herhalten. Ein guter Ausgangspunkt direkt am Fuße des Hintergrates. Nach ca. 2h erreichen wir die Hütte und verdammt…

Alle Türen verschlossen und kein Zugang zu einem Winterraum. Was nun? Eine Nacht im Freien? Das wird sehr kalt und Isomatten haben wir auch keine dabei. Also Planänderung. Wir lassen alles schwere Gepäck oben und eilen wieder hinunter zum Parkplatz. Dort schlafen und in einem Rutsch zum Gipfel.

Donnerstag, 3:15 Uhr.

Der Wecker klingelt. Das Frühstück hatten wir schon am Vorabend zubereitet. Kocher angeschmissen, heißes Wasser für Instantkaffee und Tee bereitet, Müsli gelöffelt und zehn nach 4 Uhr los. 1,5h bis zur Hütte. Nicht schlecht, wir sind gut in der Zeit.
Die Rucksäcke mit Seil, Pickel, Steigeisen, Helm und der Schlosserei beladen und weiter zum Grat. Im Dunkeln folgen wir einem schmalen Pfad, der unter der Schneedecke noch geradeso sichtbar ist.
Nach 45 min kurze Pause. Es wird langsam hell und die Dämmerung gibt uns Sicht auf den gewaltigen Berg. Wo soll es da nur hoch gehen? Alles ist sehr steil und abweisend und der dunkle Fels wirkt sehr bedrohlich auf uns. Ein kurzer Blick in die Karte verrät, wir sind nach der Hütte falsch abgebogen und müssen weiter südwestlich. Wir traversieren mühsam im losen Geröll und kommen wieder auf den richtigen Weg. Gut eine Stunde verloren…

Wir kommen nun rasch vorwärts und der Pfad zeichnet sich durch die nicht zu hohe Schneedecke gut ab. Wir machen schnell Höhenmeter aber mit jedem Meter wird die Wegfindung schwieriger. Aufgrund fehlender Markierungen und Trittspuren müssen wir unsere eigene Linie finden. Wir sind wohl die ersten, die nach den Schneefällen der letzten Woche den Hintergrat gehen. Nur selten findet man Steinmänner und manchmal weisen sie den falschen Weg. Die Orientierungspausen sind aber nicht verkehrt. Die Luft wird immer dünner und in gleichem Maße nimmt unsere Steiggeschwindigkeit ab.
3350m. Uhrzeit? Keine Ahnung. Wir kommen direkt auf den Grat. Nicht durch die Verschneidung, wir lassen uns verleiten auf einem Band, mit Steinmännern markiert, nach links zu queren. Übles brüchiges Gestein, abwärts geschichtet, mit Eisglasur. Als wir merken, dass das eine wackelige Angelegenheit wird, ist es schon zu spät und wir  treten die Flucht nach oben an. Man sollte sich vorher die Topo besser durchlesen… Vor genau dieser Stelle wird gewarnt.

Am Grat geht es luftig weiter, ausgesetzt auf Messers Schneide. Tiefblick die Wand hinunter gefühlt wie 1000 hm. Real 1500 hm. Verdammt ist das hoch! Wir kommen zum ersten Eisfeld und rüsten auf Gletscherseil um. Wir stapfen durch den Bruchharsch und brechen bis zum Knie ein. Eine mühsame Plackerei. Links der großen Spalte steuern wir auf die Fortsetzung des Grates zu. Doch plötzlich entdecken wir zwei Tourenstöcke rechts neben der schneebedeckten Spalte. Die Gedanken kreisen. Was ist, wenn hier jemand…? Wir unterbrechen den Gedanken und reden uns ein, die hat hier jemand liegen lassen.

Die letzten Meter kosten nochmal richtig Energie, da wir hüfttief im Schnee versinken. Kurze Zeit später ist es geschafft! Wir haben endlich wieder brüchigen Fels unter den Füßen. Wir steigen empor. Der Fels wird besser. Wir klettern seilfrei bis an die Spitze des Signalkopfes. Hier muss irgendwo ein Sicherungsring sein. Nichts zu sehen. Auf dem Grat geht es nicht weiter. Hinten kommt der Steilabbruch. Hier muss es links vorbei gehen. Wir steigen ein paar Meter ab. Nichts zu sehen. Verdammt…

Ist hier das Ende schon erreicht? Karte und Topo gecheckt. Ich klettere nochmal hoch, blicke links um eine Kante und da ist er! Gott sei Dank! Der rettende Haken. Ich richte den Standplatz ein. Bernd kommt zu mir hoch. Gesichert klettere ich nach unten ab. Versuche im Schnee einen guten Tritt zu finden und komme zum nächsten Standhaken. Nur eine Zwischensicherung geklippt, entdecke ich erst von unten, wo es eigentlich entlang gehen sollte. Noch ein paar Meter flankieren wir den Signalkopf, dann weiter auf dem ausgesetzen Grat und wir kommen zur ersten Schlüsselstelle.
Eine leicht abdrängende Verschneidung im 4. Schwierigkeitsgrad. Gar nicht so trivial mit Bergschuhen und nassen Sohlen. Es ist alles recht glatt… Erster Versuch und… Fehlgeschlagen. Nochmal zurück. Mir fehlt der Mut und das Vertrauen in die Füße. Die 1500m links und rechts nach unten setzen mir gehörig zu. Ich klopfe die letzten Schneereste energisch aus dem Profil. Mental sammeln. Immer wieder spreche ich leise: „Ich kann das.“ Und zudem hänge ich an einem soliden Klebehaken, hier draußen im Felsall. Was soll da schon passieren? Der stärkste Muskel ist der Kopf.
Zweiter Versuch. Griff rechts, links stützen. Rechter Fuß auf den Tritt. „Wird schon halten.“ denke ich, schiebe mich nach oben und greife rechts höher. Ich bekomme eine Kette zu greifen und geschafft. Ich bin oben. Stand! Bernd kommt nach.

Etwas leichteres Gelände nach oben und wir stehen vor dem zweiten Eisfeld. Es ist steil. Steigeisen an und seilfrei hoch. Wenn man hier auskommt, dann ist ein Flug bis Sulden Downtown sicher. Rückflug unwahrscheinlich. Besser man hängt nicht zusammen an einem Seil, sonst teil man sich das Schicksal. Danach weiter im Fels, der logischen Linie folgend. Teils sind ein paar alte Schlaghaken, Typ Rostgurken, zu sehen. Pit Schubert hätte seine wahre Freude daran. Sie sind die besten Sicherungen, die zur Verfügung stehen. In einer Kletterhalle würde man wohl nicht mal die Jacken daran aufhängen. Naja, es ist wie es ist und stürzen wollen wir hier lieber nicht. Eine kurze 4er Stelle noch und dann in schöner Kletterei immer am Grat bis zum Gipfel.
Die letzte Seillänge führe ich. Ein Griff, ein Block und nochmal hochschieben. Da ist es! Das Gipfelkreuz.

Die Sonne scheint durch das farbige Glas inmitten des Kreuzes. Einen Moment bleibt die Zeit stehen. Nach etwas mehr als 12 h haben wir es geschafft. Wir stehen auf dem höchsten Gipfel weit und breit. Höher ist erst wieder der 49 km entfernte Piz Zupò. Die Sicht ist grandios, bis in die letzten Winkel der Alpen. 16:30 Uhr. Noch drei Stunden bis es dunkel wird. Wir gönnen uns trotzdem eine halbe Stunde rast. Zu ausgelaugt sind wir um gleich weiter zu gehen. Wir füllen die Energiespeicher wieder auf, trinken und essen. Die Aussicht, ein Genuss.

Wir müssen weiter. Wir wollen zumindest mit Einbruch der Dunkelheit vom Gletscher runter sein. Bis zur bewirtschafteten Tabarettahütte, wo wir die Übernachtung gebucht haben, wird es jedoch sportlich. Wir gehen den Abstiegsspuren nach und kommen gut voran. Meter um Meter kommen wir runter und bei etwa 3600m verliert sich die Spur. Verdammt…
Also den Nase nach! Wir steigen weiter ab und kommen in eine Spaltenzone. Es ist noch flach, aber die Spalten klaffen einige Meter auf. Zu weit um darüber zu kommen. Wir suchen uns Schneebrücken, überwinden Spalte um Spalte. Es wird immer steiler. Nach unserem Gefühl zu steil. Stopp! Kein Schritt mehr! Wir müssen falsch sein. Karte raus uns neu orientieren. Aus zu diesem Zeitpunkt unerfindlichen Gründen findet das GPS kein Signal. Wir müssen wieder hoch. Verdammt…
Die Zeit sitzt uns im Nacken. Nur noch eine Stunde bis es dunkel wird. An dem Punkt, wo sich der Weg verloren hat, schlagen wir nun eine andere Richtung ein. Wieder Spalten, wieder zu groß um darüber zu kommen. Wir gehen Zickzack. Da wo sie am schmalsten sind, geht es drüber. Wir kommen weiter runter und der Blick auf den Abstiegsgrat lichtet sich. Die rettende Biwakschachtel ist im Blick. Noch eine halbe Stunde Helligkeit. Es dämmert schon. Wir steigen weiter ab und plötzlich wieder voller Halt. Ein Gletscherabbruch von etwa 15m hindert uns am Weitergehen. Verdammt…
Wir kommen nicht mehr runter. 19 Uhr. Es ist fast dunkel. Wir sind am Ende. Unseres Lateins und unserer Kräfte. Kein klarer Gedanke kommt mehr zustande. Verdammt…
Was tun wenn nicht alles läuft wie geplant? Auf jeden Fall die Nerven behalten und etwas Glück kann auch nicht schaden…

Wir schauen uns an. Was machen wir? Wir sind auf 3500 m und inmitten des Gletschers. Im Dunkeln durch die Spaltenzone? Keine gute Idee. Das Lombardibiwak zum Greifen nah. Wir müssen hier die Nacht ausharren. Wir graben uns mit unseren Pickeln in Firn und Eis. So tief wie möglich, damit uns der Wind nicht trifft. Mit Seil, Hüttenschlafsack, Bandschlingen und Rettungsdecken versuchen wir eine isolierende Schicht zwischen den Boden und uns zu bekommen. Wird schon gehen. Wir ziehen alles an, was wir dabei haben. Es ist kalt, bitter kalt. Eine sternenklare Nacht. Der Wind frischt auf. Wir zittern. Die Bodenkälte kriecht uns ins Knochenmark. Wir drehen uns immer wieder von links nach rechts. Eng umschlungen. Die Wärme des anderen lässt hoffen, das hier unbeschadet zu überstehen. Die Nacht ist lang. Minuten ziehen sich wie Stunden. Ich liege da, immer wieder zittert der Körper. Dann geht es wieder eine Zeit lang. An Schlaf ist nicht zu denken. Eine Brotdose als Kopfkissen und eine unter das Knie um nicht so sehr auszukühlen. Die Hüfte eiskalt. Meine Füße eiskalt. Nicht mehr zu spüren. Der Wecker klingelt. Der Alarm vom Vortag! 3:15 Uhr. Nur noch 4 h ausharren bis es wieder hall wird. Nach zähen Stunden bei heftigem Wind und klirrender Kälte kommt allmählich die Morgendämmerung zum Vorschein. Vielleicht noch eine Stunde, dann können wir weiter.

Freitag, ca. 7 Uhr.

Die Sonne geht auf. Die Nacht ist zu Ende. Wir sind nicht zu Eisklötzen gefroren. Die ersten Sonnenstrahlen tauen langsam unsere Glieder auf. Wir packen alles zusammen und schauen nach unten. Und siehe da! Aufstiegsspuren. Hoffnung keimt auf. Die Spuren ziehen auf eine riesige Spalte zu. Zu groß um darüber zu kommen. Oberhalb sind keine Spuren zu sehen. Vielleicht kamen die anderen nur bis dahin und mussten dann Kehrt machen? Es erscheint uns zu riskant. Wir entscheiden uns für einen anderen Weg. Im Abbruch gab es eine flachere Stelle zum Abklettern. Ich gehe vor, setze eine Eisschraube und sichere Bernd auf dem Weg nach unten. Er macht unten Stand und ich komme nach. Mit Führerpickel und Gletschereisen eine sehr wackelige Angelegenheit. Wir kommen heil über die Stufe und befinden uns kurze Zeit später auf den Pfad der von unten hochzieht. Geschafft! Wir sind überglücklich.

Was wir jetzt erst sehen, dass über die Spalte, die unüberwindlich erschien, eine Aluleiter gelegt ist. Wir schauen uns an und lächeln. Das hätten wir einfacher haben können. Beim nächsten Mal bestimmt! Wir erreichen die Biwakschachtel und machen Rast. Ein paar Jacken ablegen. Wir haben noch alles von der Nacht an. Mein rechter Fuß ist immer noch nicht zu spüren. Ich ziehe die Schuhe aus und massiere die Zehen bis wieder Blut hindurch fließt. Sie werden wieder warm und mit der Wärme kommt der Schmerz. Weiter geht’s! Schließlich sind wir noch lange nicht im Tal.

Es folgt eine 20m Abseilstelle und dann weiter auf dem unteren Teil des Gletschers. Eine Dreierseilschaft ist bereits auf dem Weg nach oben, sodass wir nur noch deren Spuren nachlaufen müssen. Somit gewinnen wir Zeit im Spaltengewirr des unteren Gletschers. Langsam wendet sich alles zum Guten. Wir sind uns sicher, dass wir den Rest auch noch schaffen. Eine weitere Abseilstelle folgt und dann bewegt man sich in leichter Kletterei auf dem teils sehr luftigen Grat zur Payerhütte. Wir merken jetzt, dass uns die Nacht sehr zugesetzt hat. Jeder Schritt kostet Überwindung. Als drückt dich einer auf den Schultern nach unten. Wir sind einfach komplett fertig. Aber weiter volle Konzentration. Fels mit Schnee ist eine tückisch-glatte Angelegenheit und wir müssen doppelt aufpassen. Hier wäre ein Ausrutscher zwar kein Flug bis Sulden aber die Höhe reicht allemal fürs letzte Stoßgebet.
Es dauerte noch ein paar Stunden und wir erreichten die Payerhütte auf knapp 3000m. Ende der Schwierigkeiten. Wir haben es geschafft.

Nichts mehr zu essen, die Trinkflasche mit Schnee gestreckt, um flüssig zu bleiben. Eine elend kalte Brühe. Aber besser als nichts. Wir erfreuen uns wieder an Kleinigkeiten. Der Abstieg zur Tabarettahütte auf dem markierten Weg geht schnell. Die Aussicht auf ein alkoholfreies Weizen und eine Tiroler Speckknödelsuppe lässt uns eilen. Nach einer Stunde sind die 500 hm geschafft und wir sind überglücklich. Das erste Getränk fließt in einem Zug die Kehle runter. Nummer zwei auch. Etwas zu Trinken und Warmes zu essen. Was will man mehr? Die Sonne scheint uns ins Gesicht. Die wärmenden Strahlen sind angenehm auf der Haut. Wir sind zufrieden. Zufrieden und stolz über die vollendete Tour und das wir heil wieder unten sind. Wir hatten Glück. Es war eine relativ milde Nacht. Es hätte anders kommen können. Aber so kam es nicht. Glück gehört eben manchmal dazu.

Jetzt noch 600 hm Abstieg zum Audi 100, Codename Escobar. In letzter Zeit beim Kaltstart etwas unzuverlässig. Wird er anspringen?
Auf jeden Fall die Nerven behalten und etwas Glück kann auch nicht schaden.

Ortler. 4./5. Oktober 2018

Tourengänger: Paco


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