Wellnessklettern im Tessin (Speroni di Ponte Brolla)


Publiziert von Fico , 26. Mai 2016 um 00:53.

Region: Welt » Schweiz » Tessin » Locarnese
Tour Datum:24 Mai 2016
Klettern Schwierigkeit: 6a (Französische Skala)
Wegpunkte:
Geo-Tags: CH-TI 
Zeitbedarf: 1 Tage
Zufahrt zum Ausgangspunkt:cff logo Ponte Brolla
Zufahrt zum Ankunftspunkt:cff logo Ponte Brolla

Eigentlich hatten wir für diesen Tag ein anderes Gipfelziel im Visier. Nach dem angekündigten Temperatursturz mit Neuschnee bis auf 1000 m kam das natürlich nicht mehr in Frage. Darum war ich auch nicht überrascht, als mir Matthias schrieb: „Das Einzige, was ich sehe, wäre am Dienstag mit dem Zug ins Tessin nach Ponte Brolla, um dort die 12 Seillängen der Speroni di Ponte Brolla zu klettern. Was meinst du? Tessin wäre Sonnenschein pur.“
 
Hätte ich mir eine solche Gelegenheit entgehen lassen sollen? Man muss bekanntlich die Feste feiern, wie sie fallen… Doch warum Wellnessklettern? Ganz einfach, Matthias ist Bergführer. Und der Bergführer trägt nicht nur die Verantwortung. Er verwöhnt seinen Gast und hilft ihm über alle Schwierigkeiten hinweg. Keine Ungewissheit, wo der nächste Bohrhaken ist. Keine Bange, ob man die Schlüsselstelle schafft. Und zum Schluss bekommt man ein paar schöne Erinnerungsfotos, weil er auch dort noch eine Hand zum Fotografieren frei hat , wo man selber froh ist, überhaupt Griffe gefunden zu haben, an denen man sich festhalten kann. Kurzum, eine Klettertour mit dem Bergführer, das ist Wellnessklettern.
 
Mit dem ersten Zug um 4:45 Uhr fahre ich nach Zürich. Auf dem Weg zum Bahnhof Nieselregen und keine 10 Grad. Erstaunlich viele Leute sind um diese Zeit unterwegs. Ihre Gesichter verraten, dass sie dies nicht aus freien Stücken, sondern aus wirtschaftlichem Zwang tun. Mitleidig schauen sie mich an, als würden sie denken: Dann doch lieber arbeiten gehen als bei diesem Hundewetter auf eine Wanderung! Dass ich in Wirklichkeit auf dem Weg zur Sonnenstube der Schweiz bin, können sie nicht wissen.
 
Als der Zug den Gotthardtunnel hinter sich gelassen hat, ein nahezu wolkenloser, blauer Himmel. Die Berggipfel und die Hänge sind bis weit unten frisch überzuckert. Grosse Pfützen auf den Feldern in der Magadino-Ebene deuten darauf hin, dass es auch hier am Tag zuvor stark geregnet hat. In Ponte Brolla gehen wir zuerst etwas trinken. Wir sind früh dran und warten lieber ein wenig, bis die Felsen trocken sind.
 
Die erste Seillänge ist nicht nur steil. Es ist, als würden die abwärts geschichteten Platten zur Abschreckung dienen, damit solche, denen die Reibungskletterei nicht behagt, noch rechtzeitig den Rückzug antreten können. Und das hätte ich zweifellos getan, wenn ich nicht mit Matthias hier wäre, der bereits oben beim ersten Stand angekommen ist.
 
Die Kletterfinken bieten ausreichend Halt auf dem rauen Fels. Ich brauche bloss sorgfältig den Druck aufzubauen. Das Problem sind nicht die Füsse. Es ist der Kopf, der sich querstellt, weil er der Sache nicht traut. Sobald die Finger sich irgendwo festkrallen können oder wenn ich das straff gespannte Seil spüre, das ein wenig nach oben zieht, gibt das Gehirn den Füssen grünes Licht und es geht vorwärts. Bis zur nächsten Blockade. Dann nochmals dasselbe. Jedes Mal wenn ich rufe: „Matthias, ziehen!“, geht es weiter. So kann ich mein Gehirn überlisten wie der Pawlow seinen Hund: Sobald ich „ziehen!“ rufe, kann ich weiterklettern, weil das Gehirn daran glaubt. Matthias braucht gar nicht mehr wirklich zu ziehen. Verrückt, nicht wahr?
 
Nach den unendlich langen, fast sieben Seillängen, die ausreichend Gelegenheit zum Üben (und zur Konditionierung!) geboten haben, machen wir Mittagspause. Ich bin froh, dass wir die Platten hinter uns haben und freue mich auf den gut gestuften Fels. Griffe, an denen die Finger Halt finden. Tritte, auf denen man stehen kann. Schnell merke ich, dass meine Vorfreude etwas voreilig war. Der Steilaufschwung ist schwieriger, als ich gedacht hätte. 5a ist ein Gelände, wo ich normalerweise nichts verloren habe.
 
„Die nächste Seillänge ist nochmals Genusskletterei. Nachher kommt die Schlüsselstelle“, verkündet Matthias, als ich mit knapper Not bei ihm angekommen bin. Genusskletterei bedeute, dass die besten Tritte und Griffe meistens an der Kante über den Abgründen sind, schreibt Franz Hohler in seinem Buch „Immer höher“. Und genauso verhält es sich auch hier: Ringsum geht es ins Bodenlose. Tief unten Ponte Brolla mit der Brücke über die Maggia. Ab und zu hat es tatsächlich einen Felsabsatz, auf dem ich so gut stehen kann, dass ich mich umschauen und Fotos machen kann.
 
Und die Schlüsselstelle? Wenn man sie vollständig frei klettere, sei sie mindestens 6a, meint Matthias. Mit andern Worten: weit ausserhalb meiner Kletterkünste. Dass ich mich an den Expressschlingen festhalte, ist ohnehin klar. Doch das genügt nicht. Um mich an den leicht überhängenden Felsen hochzuziehen, reicht meine Kraft leider nicht. Diesmal muss Matthias kräftig ziehen – und zwar ganz real, nicht nur eingebildet wie vorher. Es ist fast wie bei den modernen, elektrischen Velos, den E-Bikes, bei denen man den einfach den Motor einschalten kann, wenn man Unterstützung braucht. Unter solchen Voraussetzungen schaffe ich die Schlüsselstelle ohne nennenswerte Schwierigkeiten. „Das ging aber gut! Wie hast du das gemacht?“, frage ich Matthias, als ich wieder festen Boden unter den Füssen habe. „Weisst du, mit einem kleinen Flaschenzug kann ich viel besser ziehen.“ Er hat also den Flaschenzug von Anfang an eingerichtet, weil er genau wusste, dass das für mich sonst chancenlos gewesen wäre.
 
Als ich am nächsten Tag die Fotos anschaue, die mir Matthias geschickt hat, kann ich kaum glauben, dass  wirklich ich es bin, der an diesem Pfeiler herumturnt. Und der Muskelkater in den Schultern und Oberarmen macht mir klar, dass ich eigentlich über meine Verhältnisse gelebt habe. Ideal wäre nun – nach dem Wellnessklettern – der Besuch irgendeiner Wellnessoase mit Sauna und Sprudelbad. Alles kann man nicht haben, heute muss auch ich wieder arbeiten gehen.

Tourengänger: Fico


Minimap
0Km
Klicke um zu zeichnen. Klicke auf den letzten Punkt um das Zeichnen zu beenden

Galerie


In einem neuen Fenster öffnen · Im gleichen Fenster öffnen

5b
8 Jul 17
Klettertour "Sperone Quarzo" · Matthias Pilz
6a
T4 6a
T2 5b
T3+ 6a
T2 6a
21 Feb 16
Via Quarzo, Valle Maggia · mattia
T2 4+

Kommentar hinzufügen»