Seltsam, im Nebel zu Wandern...


Publiziert von lorenzo , 26. Oktober 2011 um 22:28.

Region: Welt » Schweiz » Tessin » Locarnese
Tour Datum:22 Oktober 2011
Wandern Schwierigkeit: T5- - anspruchsvolles Alpinwandern
Hochtouren Schwierigkeit: WS-
Klettern Schwierigkeit: II (UIAA-Skala)
Wegpunkte:
Geo-Tags: CH-TI   Gruppo Poncione Piancascia   Gruppo Pizzo delle Pecore   Gruppo Monte Zucchero 
Zeitbedarf: 4 Tage
Zufahrt zum Ausgangspunkt:cff logo Bignasco, Autostop nach Broglio; cff logo Broglio
Zufahrt zum Ankunftspunkt:cff logo Brione
Unterkunftmöglichkeiten:Rifugio Tomeo; Alpe Spluga; Alpe Masnée; Corte di Starlaresc
Kartennummer:LK 1272/1292; G. Brenna, Clubführer Tessiner Alpen 2, SAC 1992; C. Blum/D.Silbernagel, Ticino keepwild! climbs, topo.verlag 2009

Da die Wetterprognosen und die Verhältnisse nach ersten Schneefällen im Tessin wohl keine grossen Sprünge mehr zulassen würden, entschied ich mich für eine abgekürzte Variante der 2010 eröffneten Via Alta Vallemaggia, von der ich einige Etappen schon kannte. Ich freute mich darauf, einfach den weiss-blauen Markierungen folgen zu können, nicht überlegen und ständig die Karte konsultieren oder im Führer nachlesen zu müssen, und stattdessen die einzigartigen Herbststimmungen im Tessin geniessen zu können, bevor die ganze Farbenpracht einen ganzen Winter lang von bleibendem Schnee verschluckt würde. Und ich freute mich auf komfortable Rifugi, wohin ich nicht viel Material hinauftragen müsste und wo ich nicht frieren würde. Aber obwohl ich im Tessin schon einige Erfahrungen sammeln durfte, und trotz des in jeder Hinsicht komfortablen Ausbaus der Via Alta, bestätigte sich mir einmal mehr die bekannte Regel der Chirurgen: wie in ihrem Fach gibt es auch in den Tessiner Alpen angesichts oft nur schwer vorhersehbarer Komplikationen keine kleinen Operationen, sondern nur kleine Operateure...

22.10.: Da der erste verfügbare Bus erst um 14.13 in Broglio ankommt, ich mich aber noch ein wenig an der Sonne wärmen wollte, wählte ich die erste öV-Verbindung mit Ankunft um 10.50 in Bignasco, wo mich zwei Zürcher, die zum Klettern nach Prato-Sornico fuhren, mitnahmen. In Broglio wünschten sie mir "Guete Latsch", ich bedankte mich und machte mich 11.30 auf den Weg. Dieser führt, weiss-rot markiert (wr), zuerst hinunter zur Brücke 673, dann flach ansteigend ins Val Tomè und durch dieses zum Rifugio Tomeo. Eine exponierte Querung eines zu dieser Jahreszeit ev. bereits gefrorenen Bachs kurz unterhalb Corte Grande ist mit einer Kette gesichert, 1065Hm, 3h, T3. Das alte Rifugio wurde renoviert, vom neuen steht erst das Fundament. Alles Nötige ist vorhanden, Wasser muss aber ev. im Lago di Tomè geholt werden (je 10min hin und zurück). Schon kurz nach 15.30 ging die Sonne hinter dem Larasedo unter, und die wunderbar leuchtenden Herbstfarben verlöschten in der einsetzenden Dämmerung.

23.10.: Start um 7 Uhr bei dichtem Nebel und auf dem weiss-blau (wb) markierten Pfad zu Lago di Tomè (1692m) und Pian del Lago und über Ganna und Piodina (2123m) zum Passo di Chent. Hier tauchte ich kurz aus dem Nebelmeer auf und erfreute mich einer klaren Fernsicht auf die Tessiner- und Walliser Alpen. Aber schon nach kurzem Abstieg ins oberste Val Cocco steckte ich wieder tief im Nebel. Der Pfad führt W der Kette Pizzo dei Chent - Cima di Broglio auf ca. 2000m und zuletzt steil ansteigend zu einem Uebergang SE von P. 2115 auf dem NW-Grat der Letzteren. Eine Begradigung in der ersten Hälfte vor der Abzweigung zum Passo del Coco befindet sich in Bearbeitung, ist aber schon gut passierbar. Kurz hinunter ins oberste Val Serenello, das leicht absteigend gequert wird, und zuletzt durch ein steiles Couloir hinauf zur Bocchetta del Sasso Bello. Die Blockfelder NW von Cima di Broglio und Pizzo delle Pecore, die inzwischen vermutlich ganztags im Schatten liegen, waren mit Rauhreif bedeckt und äusserst glitschig, ihre Traversierung entsprechend ein heikler und zeitraubender Eiertanz à quattre pattes...Zuletzt - der Nebel hatte sich inzwischen endlich gelichtet - problemloser Abstieg nach Pascolo dei Laghi (1964m) und weiter zur Alpe Spluga, 1070Hm, 7h, T5 (Ketten, Kabel, Eisenbügel, Stellen I). Die verschiedenen Cascine sind bekanntlich bestens eingerichtet und ausgestattet, und sogar fliessendes Wasser war noch vorhanden.

24.10.: Nach sternenklarer Nacht Aufbruch wieder um 7 Uhr bei erneut dichtem Nebel, der sich zwar schon bald auflöste, aber bloss, um aufziehenden Wolken der angekündigten SW-Front Platz zu machen...Vorerst blieb das Wetter aber recht freundlich und trocken und ich gelangte wb zügig SW am P. Albèr vorbei zum Passo dei Due Laghi und hinunter zur Alpe Cuasca. Hier hatte ich vorübergehend genug, mich ständig von den Markierungen - über die ich im Nebel natürlich noch so froh gewesen war und auch wieder sein würde - an der Nase herumführen zu lassen und verspürte Lust auf Ticino selvaggio nach Jägerart... Entlang dem auf der LK-Ausgabe von 2003 zwar noch eingezeichneten, aber kaum mehr auffindbaren Pfad (sich nicht vom deutlichen nach N führenden Pfad verleiten lassen, sondern SE des Bachs bleiben!) nach NE über Stauden und Blöcke zum Sattel 1906 und auf guten Pfadspuren zur nördlichen Piancascia W-Flanke bei ca. 1980m. Schräg nach ESE aufsteigend zu einer schwach ausgeprägten Scharte auf der nördlichsten W-Rippe bei ca. 2160m, T5. Zuerst in der Flanke S der Rippe, dann dieser entlang über steiles Gras und Platten auf den NW-Grat und über diesen auf den Poncione Piancascia, WS-. Abstieg entlang dem SE-Grat zurück auf die Via Alta, T3, zusätzlich ca. 220Hm bzw. 1h 30min (der Gipfel kann schwieriger - keepwild! 4b - auch über die zentrale W-Rippe, oder einfacher von der Via Alta über den SW-Grat erreicht werden). Nach dem mein Mütchen gekühlt war, wieder gemütlich wb SW der Gratkante oberhalb Scarpioi zum Sattel NE P. 2182 und auf der anderen Seite leicht absteigend nach Corte di Cima di Scimarmòta. Nun wieder wr nach SSE zwischen Pizzo Costisc und Cima del Masnee hindurch zur Alpe Masnee, 1115Hm, 7h, T5 (Ketten, Stellen I-II). Meine Enttäuschung war gross, als ich zuerst den abgestellten Brunnen und dann die für den Winter verschlossene Hütte erblickte. Aber die Bekanntmachung des Patriziato di Maggia liess an Deutlichkeit nichts vermissen: "CHIUSO, Apertura stagionale 6.2012, RIFUGIO INVERNALE NELLA BARACCA SOPRA, grazie". Da sich die besagte Baracke trotz Pin-up Maddalena nicht als wirklich lauschig erwies, zog ich wr unverzüglich weiter Richtung Passo Deva und auf dem 2003 noch eingezeichneten, vor diesem abzweigenden Pfad hinunter nach Corte di Starlarèsc, -225Hm, 1h, T3. Die Hütte war zum Glück offen, alles Nötige ist vorhanden, und Wasser kann beim nahen Lago del Starlarèsc da Sgiof geholt werden. Schon am Nachmittag hatte sich der Himmel ganz überzogen und gegen Abend begann es leicht zu schneien. Auf Rete 2 wurde zum 200. Geburtstag von Franz Liszt sein 1. Klavierkonzert ausgestrahlt und ich 
verbrachte nochmals einen gemütlichen Hüttenabend. U
m 2 Uhr morgens von einer im Abfall raschelnden Maus geweckt, die mit verängstigten Augen in meine Stirnlampe blickte und dann weghuschte, stand ich kurz auf und schaute hinaus: dichte  Flocken fielen lautlos aus dem Dunkel, und schon lagen 10cm Schnee. Die Rechnung war schnell gemacht: auch wenn nochmals 10cm fallen, würde die kritische Grenze von 30cm 
bis zum Aufbruch kaum erreicht werden. Der Schlaf des Gerechten wollte sich aber trotzdem nicht mehr einstellen, denn ein Spaziergang würde der Abstieg bei diesen Verhältnissen so oder so nicht werden, zudem begann auch Topolino wieder zu rascheln...

25.10.: An diesem Morgen war es dann mit dem spätromantischen Hüttenleben 
endgültig vorbei: mittlerweile lagen gut 15cm Neuschnee, und es schneite unaufhaltsam weiter, auf DRS 1 meldeten sie infolge Südstau ergiebige Niederschläge und zu allem hinzu sangen Simon&Garfunkel "Bye bye love, bye bye happiness"...Ich stülpte die Pelerine über und stapfte in der Dämmerung um 7.30 Richtung Motarüch. Trotz grösstenteils zugeschneiten Markierungen war der Weg gut erahnbar, und der kurze Aufstieg dorthin, und zunächst auch der Abstieg an der Alpe di Sgiof vorbei gingen noch erstaunlich leicht. E von P. 1886, wo der Weg steiler wird, wurde es dann langsam ungemütlich, indem jeder Tritt auf seinen Gleitkoeffizienten hin geprüft werden musste. "Mach itz eifach ke Seich" redete ich mir vor exponierten Stellen zu, über die ich besonders umsichtig und konzentriert absteigen musste. Aber langsam gewöhnte ich mich schliesslich an den unsicheren Untergrund und begann diesen in Gedanken hinsichtlich seines Gleitrisikos systematisch abzustufen: 1. Wassereis, 2. Rauhreif auf Fels, 3. Schnee(-matsch) auf Fels, 4. nasse Flechten oder Laub auf Fels, 5. nasse Wurzeln, 6. nasse Erde, 7. nasses Gras usw., wobei sich bei Kombinationen wie z.B. von Schneematsch auf Fels, Wurzeln und Laub das Risiko natürlich mehr oder weniger erhöht. Wie auch immer, die Theorie wirkte sich noch oberhalb der Schneegrenze bei ca. 1200m positiv auf die Praxis aus, und unterhalb, wo es nur noch nass war, wurde der Abstieg fast zum Kinderspiel. Auf Piano del Vald, 2h 15min, T3 (Fixseile), empfahl mir ein Muratore, der dort eine Cascina ausbaute, den blau markierten Pfad hinunter zur imposanten Schlucht des Valegg di Gann, wo in nun strömendem Regen auf glatten Platten nochmals ein kleines Abenteuer wartete, bevor ich triefend in Piee und kurz darauf in Brione eintraf, -1270Hm, 1h 30min, T4 (Fixseile, Ketten, gehauene Tritte).

Vorbereitung: Zur Tourenplanung eignen sich Via Alta Vallemaggia, TI-Sentieri, sehr hilfreich waren zudem die zahlreichen Berichte auf Hikr, vielen Dank!

Material: Daunenjacke, Leichtpickel u. ev. -steigeisen zu üblicher Alpinwanderausrüstung.

Tourengänger: lorenzo
Communities: Ticino Selvaggio


Minimap
0Km
Klicke um zu zeichnen. Klicke auf den letzten Punkt um das Zeichnen zu beenden

Galerie


In einem neuen Fenster öffnen · Im gleichen Fenster öffnen


Kommentare (4)


Kommentar hinzufügen

marc1317 hat gesagt: Die Tour...
Gesendet am 26. Oktober 2011 um 22:42
... hat was! Complimento

lorenzo hat gesagt: RE:Die Tour...
Gesendet am 27. Oktober 2011 um 06:55
...und hat's in sich!

grazie e saluti lorenzo

jimmy hat gesagt: seltsam, im Nebel..
Gesendet am 27. Oktober 2011 um 09:58
Auch die 2. Zeile hat sich erfüllt:
jeder ist allein!
Dein herrlicher Bericht (typischer Lorenzo!)hat schöne Erinnerungen an unsere Passage geweckt, als 2009 die weiss-rot-weisse Farbe noch frisch und feucht war.
Jimmy

lorenzo hat gesagt: RE:seltsam, im Nebel..
Gesendet am 27. Oktober 2011 um 18:09
Stimmt, die letzten Beiden, die wegen Vereisung am M. Zucchero umkehrten, traf ich auf Tomeo.

Zu den Farbmarkierungen habe ich ein zwiespältiges Verhältnis: einerseits wäre die Orientierung ohne sie oft sehr schwierig, andererseits wird man durch sie in einem gewissen Sinne bevormundet, M. Brandt sprach meines Wissens sogar von einer Verschmierung der Berge.

Grüsse lorenzo


Kommentar hinzufügen»