Vajont - Schauplatz einer Katastrophe


Publiziert von 83_Stefan , 9. Januar 2018 um 21:45.

Region: Welt » Italien » Friaul-Julisch Venetien
Tour Datum:26 Mai 2017
Wegpunkte:

Es war der späte Abend des 9. Oktober 1963 und mal wieder gab das persönliche Gewinnstreben einiger Weniger den Ausschlag für das Leid von Vielen. An diesem Abend verloren etwa 2000 Menschen in einem Wimpernschlag ihr Leben durch das "Tschernobyl der Wasserkraft", als bei einem gewaltigen Bergrutsch fast 300 Millionen Kubikmeter Gestein das Wasser aus dem Vajont-Stausee fast 200 Meter nach oben katapultierten und damit fast alles Leben im Umkreis vernichteten.

Der Plan "Grande Vajont" sollte die aufstrebende nordostitalienische Region um Venedig mit Strom versorgen. Eine Mischung aus Ehrgeiz und Größenwahn der Adriatischen Elektrizitätsgesellschaft SADE sah hierfür die höchste Staumauer der Welt vor, die das enge Vajonttal absperren und das gleichnamige Flüsschen aufstauen sollte. Mit dem Wasser aus diesem Reservoir sollte im tiefer gelegenen Piavetal Elektrizität gewonnen werden. Aber wie schon beim biblischen Turmbau zu Babel ging etwas schief...

In einer eigentlich nicht beschlussfähigen Abstimmung wurde 1943 die Erlaubnis für das Projekt durch das zuständige Energieministerium erteilt. Daraufhin wurden Familien enteignet und umgesiedelt sowie weitere Vorarbeiten durchgeführt. 13 Jahre später begann man mit dem Bau der 261 Meter hohen Staumauer - bereits vor der Genehmigung durch die Regierung. SADE-nahe Geologen hatten zuvor grünes Licht gegeben - schließlich hilft man sich unter Freunden. Aber bereits der Name des Berges Monte Toc, von dem später der verheerende Bergsturz niederging, hätte alle stutzig machen sollen - "Toc" heißt so viel wie "morsches Stück".

Bald kam es zu ersten kleineren Bergstürzen, Straßen rissen auf und Erdstöße wurden registriert. Der öffentliche Druck stieg und es mussten weitere Gutachten in Auftrag gegeben werden. Prominentester Gutachter war der österreichische Professor für Felsmechanik, Leopold Müller, in dessen Team auch der frisch diplomierte Sohn des Bauleiters war. Er schätze die kritische Situation richtig ein und wies auf instabiles Gestein sowie einen bereits erfolgten, früheren Bergsturz hin. Müller prognostizierte, dass etwa 300 Millionen Tonnen Gestein abrutschgefährdet seien. Der Bereich ließ sich durch ein "M" in der Flanke des Monte Toc beschreiben. Gegengutachten durch SADE-nahe Geologen relativierten die drastischen Warnungen aber wieder.

1960 begann man mit dem Aufstauen des Sees und die Beben verstärkten sich. Im November des Jahres brachen 700.000 Kubikmeter Gestein ab und stürzten in den See, eine zwei Meter hohe Flutwelle bildete sich. Das destabilisierte die übrige Bergflanke weiter und ein tiefer Riss in Form des von Professor Müller vorhergesagten "M" am Monte Toc wurde erkennbar. Man war gewarnt und rechnete nun damit, dass die gesamte Flanke abrutschen würde. Anstelle das Projekt aufzugeben, wurde ein unterirdischer Bypass zwischen dem vorderen und dem hinteren Teil des Stausees eingerichtet, für den Fall, dass der Bergrutsch den See zerteilt. Mit einfachen Modellen wurde von der SADE abgeschätzt, wie hoch die bei dem zu erwartenden Bergsturz auftretende Flutwelle sein würde. Man ermittelte 20 Meter, zählte zur Sicherheit nochmal 5 Meter dazu und postulierte, dass also bei einem Füllstand des Stausees von 25 Meter unter der Dammhöhe gar nichts passieren könne. Einfache Logik ist aber nicht immer die beste.

Auf die immer heftigeren Erdbeben reagierte man, indem man in der instabilen Flanke vier Messsonden verankerte und die Bewegungen beobachtete. Bei drei Sonden schien es eine Korrelation zwischen Füllstand des Stausees und der Stärke der Gesteinswanderung zu geben. Also ging man davon aus, dass man durch Variieren des Wasserstands die Geschwindigkeit der Bewegung steuern und das Gestein auf diese Weise kontrolliert in den See rutschen lassen könnte. Der vierte Sensor, der unerklärbare Werte lieferte, wurde für defekt erklärt. In der Folge hob und senkte man mehrfach den Wasserstand des Stausees und man schien zunächst Recht zu behalten - bei niedrigem Füllstand verlangsamte sich die Gesteinsbewegung erheblich, bei gefülltem Stausee bewegte sich der Berg massiv.

Am 4. September 1963 wurde der höchste Wasserstand erreicht, woraufhin sich die Bergflanke in noch nie dagewesenem Ausmaß bewegte. Im Schnellverfahren wurde Wasser abgelassen und ein scheinbar sicherer Stand von 25 Metern unter der Dammkrone erreicht. Doch der Berg bewegte sich immer schneller und ließ sich nicht mehr bremsen. Dass der Bergsturz unmittelbar bevorstand, war klar, trotzdem wurde die Bevölkerung nicht informiert, denn man wähnte sich durch die einfachen Modellversuche in trügerischer Sicherheit. SADE versammelte sogar seine leitenden Ingenieure auf der Dammkrone, damit sie das Schauspiel bestaunen konnten.

Um 22:39 Uhr ereignete sich schließlich der lange vorhersehbare, katastrophale Bergsturz. Binnen 45 Sekunden riss der Berg auf einer Breite von über 2000 Metern ab. Dabei gingen 270 Millionen Kubikmeter Gestein - rund das Doppelte des Stauvolumens - in den Stausee nieder, wobei eine Energie von fast drei Hiroshima-Bomben freigesetzt wurde. Im Modellversuch hatte man für die Rutschung aber 60 Sekunden einkalkuliert. Aus dieser Differenz resultierte eine 200 Meter hohen Tsunamiwelle, anstelle der prognostizierten 20 Meter. Die kleinen Ortschaften auf der anderen Seite des Vajonttals lagen deutlich oberhalb des Stausees und wurden trotzdem von der Flutwelle getroffen, die Stadt Longarone im tiefer gelegenen Piavetal sowie fünf weitere Dörfer wurden in Sekundenbruchteilen ausradiert. Es gab nur wenige Überlebende. Die Zahl der Opfer kann bis heute nicht genau beziffert werden, da etwa die Hälfte der Leichen nie gefunden wurde - teilweise wurden sie bis in die Adria gespült. Was bleibt, ist der 261 Meter hohe Staudamm, welcher der Flutwelle nahezu unbeschädigt standgehalten hat - sie ging einfach über ihn hinweg. Er steht als mahnender Zeitzeuge bedrückend im engen Vajonttal und erzählt auch heute noch - rund 54 Jahre nach der Katastrophe - von der Arroganz der Menschheit, die stets in besonderem Maße befeuert wird, wenn viel Profit in Aussicht steht. Dann werden Risiken regelmäßig klein kalkuliert, Lobbyarbeit wird betrieben und falls doch etwas passiert, dann ist niemand schuld. So ist es auch noch heute. Warum lernen wir eigentlich nie nachhaltig aus unseren Fehlern?

Ausschlaggebend für das gewaltige Ausmaß der Katastrophe waren allen voran drei Faktoren. Die Rutschfläche am Berg war nach drei Jahren schleichenden Bergrutsches besonders glatt geschliffen. Zweitens diente als Gleitschicht eine besonders labile (nur wenige Zentimeter breite) Lehmschicht, die sich mit dem Wasser aus dem Staudamm vollgesaugt hatte. Durch die Rutschbewegungen erhöhte sich die Temperatur im Berg und der Porenwasserdruck stieg - die Bindung der Schichten ging schlagartig verloren. Und drittens tat die letzte Schnellabsenkung des Wasserstands im Stausee ihr Übriges, denn die Lehmschicht war noch nass und auf dem abwärts fließenden Wasserfilm rutschte der Fels mit. 

Heute befindet sich neben der Staumauer eine Gedenkstätte. Für jedes der 1910 offiziell bestätigten Todesopfer der Katastrophe ist ein kleines Fähnchen im Wind angebracht. Zur Mahnung und zum Gedenken. Man kann direkt mit dem Auto hinauf zur Staumauer fahren, es gibt diverse Parkplätze. Auf dem Schuttberg des Bergrutsches kann man wandern, der hintere Teil des Stausees ist erhalten geblieben und wird vom Bergrutsch von 1963 gestaut. Es werden regelmäßige Führungen an der Staumauer angeboten. Das Städtchen Longarone, von dem einst nur der Kirchturm übrig blieb, ist komplett neu aufgebaut worden. Man schaut von ihm direkt hinauf zur Staumauer, die von den Geröllmassen des Unglücks überragt wird.

Knapp 12 Jahre später, im August 1975, ereignete sich in China ein Kaskadenbruch von über 60 miteinander verbundenen Staudämmen, bei dem je nach Quelle 26.000 bis 85.000 Menschen direkt ums Leben kamen. Die 2008 fertiggestellte Dreischluchten-Talsperre liegt in erdbebengefährdetem Gebiet...

Eine Literaturauswahl für Interessierte:
Eintrag bei Wikipedia
Artikel zum Thema bei Spiegel online
Artikel der Stuttgarter Zeitung
Beitrag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zum 50. Jahrestag
Dokumentation aus der Reihe "Sekunden vor dem Unglück" auf YouTube

Anmerkung:
Die Besteigung des Monte Toc ist hier beschrieben: *Cima Mora (1940 m) - Schicksalsberg Monte Toc.

Kategorie: Südliche Karnische Alpen.

Tourengänger: 83_Stefan


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Kommentare (12)


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trainman hat gesagt:
Gesendet am 9. Januar 2018 um 23:32
Sehr interessanter Bericht über ein profitorientiertes Projekt ohne fundierte wissenschaftlich gesicherte Basis und ohne Rücksicht auf Menschenleben.
Beste Grüsse
Emil

83_Stefan hat gesagt: RE:
Gesendet am 12. Januar 2018 um 18:53
Hallo Emil, vielen Dank! Ich wünsche dir einen guten Start ins neue Jahr und viele schöne Wanderungen bei hochsommerlichem Wetter. Beste Grüße!

QuerJAG hat gesagt:
Gesendet am 10. Januar 2018 um 08:09
Erschütternd, die Geschichte wiederholt sich immer wieder, der Mensch lernt nicht aus seinen Fehlern.
Sehr gut geschriebener, informativer Bericht!

83_Stefan hat gesagt: RE:
Gesendet am 12. Januar 2018 um 18:54
Hallo QuerJAG, ich danke dir für deinen netten Kommentar! Leider kommt es mir wirklich immer öfter so vor, als lerne der Mensch nicht aus seinen Erfahrungen. Trotzdem gibt es immer Grund zur Hoffnung. Schöne Grüße!

scan hat gesagt:
Gesendet am 10. Januar 2018 um 10:52
Hab ich auch mal was darüber gesehen. Das war damals so, als ob man in ein Planschbecken einen flachen Stein mit halben Durchmesser des Beckens hineinwirft und hofft, es spritzt nichts heraus. Leider zieht sich diese Gewinnsucht um den ganzen Erdball, sei es Atomkraftwerke in einer Erdbebenzone oder auch vor der Haustür, wo durch Kohleabbau ganze Landstriche dem Erdboden plattgemacht werden.


83_Stefan hat gesagt: RE:
Gesendet am 12. Januar 2018 um 18:58
Servus! In der Tat - die Magie des Profits zieht den Menschen magisch an und zwar rund um den gesamten Erdkreis. Aber seltsamerweise verhalten sich Gier und Vermögen scheinbar direkt proportional - je mehr man hat, desto gieriger wird man. Für mich ein Grund, mit dem Wenigen zufrieden zu sein. Viele Grüße!

Kommunist hat gesagt:
Gesendet am 10. Januar 2018 um 10:58
Danke für diese Dokumentation!
So wie wir heute im Hinblick auf Müll, Plastik, Ackergift etc mit der Umwelt umgehen ist es ähnlich. Nur werden die langfristigen Auswirkungen nicht auf kleinen Dörfer beschränkt bleiben, sondern es wird die gesamte Welt treffen. Alles und jeden, bis in die kleinste Blutbahn.

83_Stefan hat gesagt: RE:
Gesendet am 12. Januar 2018 um 19:25
Hallo Kommunist, das ist in der Tat zu befürchten. Ich habe das Gefühl, wir steuern auf eine Wand zu, aber keiner ist in der Lage, am Lenkrad zu drehen. Und das in vielen verschiedenen Punkten. Man muss sich schon Gedanken um die Zukunft der Menschheit machen. Beste Grüße!

orome hat gesagt:
Gesendet am 10. Januar 2018 um 15:50
Super Bericht, danke! Da wollte ich eh schon länger auch mal vorbeifahren. Vielleicht gefällt Dir dieses Buch: https://www.styriabooks.at/verfallen-vergessen
Ich blätter da gerne drin herum, die Vajont Geschichte ist auch drin.
Grüße Manu

83_Stefan hat gesagt: RE:
Gesendet am 12. Januar 2018 um 19:26
Hallo Manu, vielen Dank für den netten Kommentar! Ein Besuch der Staumauer lohnt sich. Es ist schon ein sehr makabrer Anblick, der es einem kalt den Rücken runter laufen lässt. Danke für den Link und schöne Grüße!

sven86 hat gesagt:
Gesendet am 10. Januar 2018 um 17:09
Hallo Stefan,
Interessante Hintergrundinfos zu dieser tragischen Geschichte, auch für den Laien verständlich aufbereitet.

Gibt's eigentlich was Neues von dem Stausee, der am Jochberg mal angedacht war?
Viele Grüße, Sven

83_Stefan hat gesagt: RE:
Gesendet am 12. Januar 2018 um 19:28
Hi Sven, besten Dank! Zum geplanten Pumpspeicherwerk weiß ich nichts Neues. Daher gehe ich mal davon aus, dass zumindest derzeit kein neuer Anlauf im Gange ist. Die Lösung des Problems ist gleichzeitig unangenehm, wie einfach: Wir müssten nur etwas Komfort aufgeben und Energie sparen ;-) . Viele Grüße!


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