Die Kirchlispitzen - ein endloses Projekt


Publiziert von Michael26 , 24. Oktober 2015 um 13:00.

Region: Welt » Österreich » Zentrale Ostalpen » Rätikon
Tour Datum: 8 August 2015
Klettern Schwierigkeit: II (UIAA-Skala)
Wegpunkte:
Geo-Tags: A   CH-GR 
Zeitbedarf: 5:00
Aufstieg: 600 m
Strecke:Douglass-Hütte - 2. Kirchlispitze

Kirchlispitzen – ein endloses Projekt

Die Kirchlispitzen sind ein imposante Felsmauer im Rätikon, die sich über mehrere Kilometer von West nach Ost entlang der Österreichisch-Schweizerischen-Grenze erstreckt. Wer sich mit alpinen Touren im Rätikon beschäftigt stößt über kurz oder lang unvermeidlich auf diese Gebirgsgruppe, denn sowohl auf der Nord- als auch der Südseite laden steil abfallende Felswände zum Klettern ein. Insgesamt sieben gipfelartige Spitzen zieren diese Mauer, durch deutliche Scharten oder Sättel voneinander getrennt, jedoch durch eine durchgängige scharfe Gratschneide miteinander verbunden. Daher der Plural in der Namensgebung.
Auf der Nordseite dieser breiten Mauer befindet sich ziemlich genau in der Mitte eine auffallende Kerbe, die annähernd gerade durch die Felswände zur dritten Kirchlispitze (gezählt aufsteigend von West nach Ost) hinauf zieht, die sogenannte Nordverschneidung. Diese ist eine sehr beliebte Kletterroute, denn einerseits ist die Klarheit und Ästhetik der Route bestechend, andererseits der Schwierigkeitsgrad mit UIAA IV+ zwar noch keineswegs extrem, aber doch bereits anspruchsvoll zu nennen. Der Einstieg ist in einer guten Stunde von der Lünerseebahn und der Douglass-Hütte zu erreichen, was die Beliebtheit nur umso mehr steigert.

Mein Kirchlispitzen-Projekt begann im Sommer 2009, als ich bei einer Wanderung vom Lünersee hinüber ins Gauertal erstmals die Nordverschneidung aus der Nähe beobachten konnte und den Plan fasste, diese Route in Angriff zu nehmen.
Am 25. September 2011 erfolgte der erste Besteigungsversuch. Das Wetter war gut, allerdings war es kalt und die Nordwand durchgehend nass, am Wandfuß lag bereits Schnee.
Die Kletterroute ist schnell beschrieben. Nachdem man den Vorbau der Wand überwunden hat, geht es über 6 Seillängen in homogener Schwierigkeit zwischen III+ und IV+ schnurgerade zum Ausstieg unterhalb der 3. Kirchlispitze.
Wir kamen gut über den Vorbau und durch die unteren 3 Seillängen einschl. der Schlüsselstelle. Aufgrund gesundheitlicher Probleme meines Kletterpartners entschlossen wir uns jedoch umzudrehen und entlang der Aufstiegsroute wieder abzuseilen, was mittels 50 m Doppelseil entlang der gebohrten Standplätze problemlos gelang.
Natürlich möchte ich seitdem die Route zu Ende klettern, bin aber nie mehr zusammen mit einem Kletterpartner ins Rätikon gekommen.

Im letzten Sommer plante ich einen Familienbesuch in Vorarlberg und wollte bei dieser Gelegenheit auch etwas in den Bergen unternehmen. Mangels eines geeigneten Seilpartners schied die Nordverschneidung von vornherein aus, ich erinnerte mich jedoch in einem älteren Bergbuch von Toni Hiebeler gelesen zu haben, dass die Überschreitung der Kirchlispitzen von West nach Ost eine lohnende Unternehmung wäre, die in ihren Schwierigkeiten den 3. Grad nicht übersteigt. Also nahm ich den (auch nicht mehr ganz neuen) AV Führer über das Rätikon zur Hand, studierte die diversen darin enthaltenen Routenbeschreibungen und entschloss mich die Sache einmal zu versuchen.

Freitag 7.8., Auffahrt mit der ersten Bahn hinauf zum Lünersee.
Zunächst möchte ich mir den im AV Führer beschriebenen ´Normalweg´ auf die 1. und 2. Kirchlispitze ansehen, der zwischen diesen beiden Spitzen auf der Nordseite hinauf ziehen soll. Denn für den Fall, dass ich bei einem Überschreitungsversuch vor der Schlüsselstelle, dem Grataufschwung von der 2. auf die 3. Spitze, durch ungeahnte Schwierigkeiten gezwungen werden sollte den Rückzug anzutreten, möchte ich eine Rückzugsmöglichkeit erkundet haben. Also marschiere ich auf dem schönen Wanderweg vom Lünersee Richtung Schweizertor so lange an den Nordwänden der Kirchlispitzen entlang, bis ich den beschriebenen Routenverlauf einsehen kann und bin sofort wenig begeistert. Dieser sogenannte ´Normalweg´ führt unten durch eine üble und sehr steile Schuttreiße, in der sich riesige Felstrümer angesammelt haben. Oben sieht es besser aus, aber durch die untere Schuttreiße werde ich definitiv nicht steigen. So weit zur Aktualität der Routenbeschreibungen in den (älteren) AV Führern.
Etwas desillusioniert steige ich zum Cavelljoch auf, wo der Grat auf der westlichen Seite seinen Anfang nimmt, um einen möglichen Einstieg in die Überschreitung zu erkunden. Das sind doch einige Höhenmeter und es wird langsam sehr heiß, denn ich habe einen der heißesten Tage des Jahres erwischt. Als ich oben ankomme ist von Begehungsspuren weit und breit nichts zu sehen, wahrscheinlich ist diese Überschreitung schon seit ewigen Zeiten nicht mehr gemacht worden. Zwar könnte man sich hier einen Weg durch die ersten Gratzacken suchen, aber es bleibt unklar, wie es weiter oben aussieht und ob man wieder herunter klettern könnte. Das ist mir zu heikel, hier werde ich nicht einsteigen. Ich weiß, dass auf der Nordseite ein einfacher Weg vom Verajoch auf die 3. Spitze führt. Dort komme ich sicher problemlos hinauf, um dann vielleicht oben am Grat Richtung 4. und 5. Spitze weiter zu gehen. Damit habe ich einen neuen Plan.
Den gleichen Weg, den ich gerade herauf gekommen bin, will ich aber nicht wieder zurück gehen. Da ein anderer Weg entlang der Südseite der Kirchlispitzen gerade so schön vor mir liegt, entschließe ich mich diesen zu wählen, um östlich der Kirchlispitzen durch das Schweizertor wieder auf die Nordseite zurück zu gelangen und die Kirchlispitzen dabei zu umrunden. Tatsächlich ist dieser Weg wunderschön und sehr zu empfehlen, nur brennt heute die Sonne hier auf der Südseite gnadenlos herunter, der folgende Aufstieg durchs Schweizertor ist auch ordentlich steil und bis ich das Schweizertor erreiche fühle ich mich leicht gegart und meine Wasserflasche ist bereits weitgehend geleert.
Nun stehe ich direkt neben der 7. Kirchlispitze und um der langsam aufkommenden Frustration entgegen zu wirken beginne ich einfach auf diese hochzusteigen. Leider hat der AV Führer diesmal recht, denn dort steht, dass sich diese Route zwar ´ohne Hindernisse´, aber dafür völlig unlohnend zwischen Schrofen hochmüht. Übrigens ist es trotzdem durchaus Absturzgelände. Das alles wird mir bald klar, außerdem ist es hier in der prallen Sonne brütend heiß und ich drehe wieder um.
Der Rest des Tages wird zum völligen Desaster. Bis ich hinauf zum Verajoch komme habe ich gar kein Wasser mehr und fühle mich durch die Hitze völlig ausgelaugt. Damit kann ich auch den weiteren Aufstieg auf die 3. Kirchlispitze vergessen, es ist jetzt viel zu heiß und zu spät. Also begnüge ich mich für heute mit der Umrundung der Kirchlispitzen und mache mich auf den Rückweg zum Lünersee. Beim Abstieg vom Verajoch komme ich an der Nordverschneidung unter der 3. Spitze vorbei und sehe eine Seilschaft gerade im Abstieg, die sich zunächst in den Sattel zwischen der 3. und der 2. Spitze abseilt und dann weiter durch die Schrofenflanke abklettert. Dieser Weg sieht viel einladender aus als der sogenannte ´Normalweg´ zwischen der 2. und der 1. Spitze und scheint eine gute Möglichkeit zu bieten, auf den Grat hinauf zu gelangen. Ich entschließe mich am nächsten Tag einen neuen Anlauf genau über diese Route zu machen.  
Den Rest des Tages hänge ich im Schatten auf der Douglass-Hütte ab, lege mich früh ins Lager und stehe am nächsten Morgen um 5 h früh auf um in der Kühle der Morgendämmerung endlich einmal eine Kirchlispitze zu besteigen.

Samstag 8.8., 6 h, Abmarsch von der Douglass-Hütte.
Es dämmert noch und ich kann den Sonnenaufgang bewundern, als ich den Lünersee Richtung Kirchlispitzen umrunde. Nach der ausgiebigen Wegerkundung vom Vortag läuft es wie geschmiert, gegen 7 h stehe ich unterhalb der Nordverschneidung, gegen 8 h habe ich bereits den Sattel zwischen der 2. und der 3. Spitze und damit die Gratkante der Überschreitung erreicht. Wie am Vortag vermutet ist dieser Aufstieg problemlos, ja, bis auf ein 30-40 m Schrofenwandl im Schwierigkeitsgrad I-II, sogar Gehgelände.
Nun inspiziere ich ausgiebig den möglichen weiteren Wegverlauf der Überschreitung, der von hier aus auf die 3. Spitze hinauf ziehen soll (siehe Foto). Wieder einmal zeigt es sich, dass manche Wegbeschreibungen in den alten AV Führern (aus dem Jahr 1981) nicht mehr zeitgemäß sind. Hier einen III. Schwierigkeitsgrad anzuschreiben ist aus heutiger Sicht unverantwortlich. Vielleicht ließe sich bei genauer Kenntnis der Gegebenheiten eine Route im oberen vierten SG finden. Soweit ich es vom Sattel aus einsehen kann, schätze ich diesen Grataufschwung im SG V oder höher ein. Für einen Toni Hiebeler, der hier in den 50er und 60er Jahren unterwegs gewesen ist, mag das ein III-er gewesen sein. Zu dieser Zeit wurden nur Bewertungen bis zum VI. Grad ausgegeben und Toni war ein Extrembergsteiger mit Erstbegehungen an der Sulzfluh Südseite, Eiger Nordwand im Winter, etc. Vermutlich ist später die Bewertung von Hiebeler einfach in den AV Führer übernommen und dort bis heute belassen worden, was zu einer völligen Fehleinstufung der Schwierigkeiten aus heutiger Sicht führt. Dessen sollte man sich bewusst sein, wenn man auf den Spuren der Bergpioniere wandelt.
Auf jeden Fall denke ich nicht daran einen Versuch an diesem Aufschwung zu wagen und steige stattdessen ohne Schwierigkeiten in der anderen Richtung auf die 2. Spitze. Das ist nicht schwer und sehr schön, vor allem der Blick hinunter in die senkrecht abbrechende Südwand ist atemberaubend.
Um noch mehr auf meine Kosten zu kommen und „richtiges Überschreitungsgefühl“ zu erleben klettere ich den Grat auf der anderen Seite hinunter in den Sattel zwischen 2. und 1. Spitze. Und tatsächlich erweist sich dies als eine lohnende Idee. Der Grat wird luftig und schmal und bietet bis hinunter in den Sattel sehr anregende Kletterei im II. Schwierigkeitsgrad, heikel ist nur die Brüchigkeit der Felsen.
Überhaupt scheint es mir nun eine hübsche Idee zu sein, von ganz unten zwischen der 2. und 1. Spitze bis hier her aufzusteigen, die 2. Spitze zu überschreiten und den vorangehend beschriebenen Weg zwischen der 2. und der 3. Spitze abzusteigen, wenn nur nicht überall so viel Schutt und Felsentrümer den Weg verleiden würden.
Nachdem ich wieder über den Grat zurück auf die 2. Spitze geklettert bin mache ich am Gipfel eine ausgiebige Rast und genieße den Rundumblick, nach Osten auf den weiteren Verlauf der Kirchlispitzen und dahinter Drusen- und Sulzfluh, nach Südosten auf die Silvretta, nach Süden auf die Bernina, nach Westen auf die 1. Kirchlispitze und dahinter die Cesaplana und nach Norden auf die Zimba. Es ist vom allerfeinsten, über mir strahlend blauer Himmel, unter mir grüne Almmatten, kein Mensch weit und breit und tiefe Ruhe, untermalt nur vom idyllischen Geläute der Kuhglocken auf den Almen, Heidi-Land pur. Ich bin jetzt sehr froh hier herauf gestiegen zu sein und fühle mich für die Mühen des Vortags mehr als entschädigt.
Später steige ich auf dem Aufstiegsweg auch wieder ab. Es ist erst 10 h und mir kommen Seilschaften auf dem Weg zum Einstieg der Nordverschneidung entgegen, die wahrscheinlich mit der ersten Bahn zum Lünersee aufgefahren sind. Da mein Abstiegsweg gleichzeitig auch der Normalabstieg von der Nordverschneidung ist, schauen mich die anderen Bergsteiger ganz verblüfft an. Ob sie glauben, ich wäre als Alleingänger frühmorgens durch die Nordverschneidung geklettert und nun wieder auf dem Abstieg ? Wie auch immer, zumindest fällt es auf, wenn man ausgefallene Bergtouren macht.
Der weitere Abstieg ist problemlos und ich komme rechtzeitig zurück ins Tal, noch bevor die Sommerhitze erneut zuschlägt.

Obwohl ich nun den Gipfel einer Kirchlispitze erreicht habe, ist mein Projekt noch immer nicht abgeschlossen, denn nach wie vor möchte ich die Nordverschneidung als Ganzes durchsteigen. Das endlose Projekt geht also weiter.
Interessieren würde mich auch, ob irgendwann in den letzten Jahren die gesamte Überschreitung der Kirchlispitzen gemacht worden ist, zumindest konnte ich keine dementsprechenden Einträge im Internet finden. 

Tourengänger: Michael26


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Kommentare (4)


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arallall hat gesagt: Überschreitung Kirchlispitzen
Gesendet am 28. Juli 2016 um 18:10
Wir haben am vergangenen Wochenende die komplette Überschreitung gemacht. Die Route sieht wirklich nicht sehr begangen aus. Ist vielleicht auch gut so, es liegt viel loses Gestein rum und direkt unterhalb verläuft der viel begangene Prättigauer Höhenweg.

Insgesamt brauchten wir knapp 6h vom Gafalljoch bis zum Schweizer Tor.

Zum Thema Schwierigkeit: vom Ausstieg der Nordverschneidung auf die 3. Spitze gibt es schon einen IIIer Aufstieg. Wie im AV-Führer beschrieben geht es ein Stück den Fels entlang in Richtung Osten und dann über Platten und Kamin nicht wirklich schwierig hoch.

Michael26 hat gesagt: RE:Überschreitung Kirchlispitzen
Gesendet am 28. Juli 2016 um 18:58
Danke, dass Du Dich meldest, vielleicht versuche ich es auch noch einmal.
Dazu ein paar Fragen:
Wo ist genau der Einstieg ? Direkt vom Joch weg oder etwas weiter östlich ?
Wo war aus Deiner Sicht die Schlüsselstelle ?
Wie seid Ihr aus der tiefen Einsattelung nach der 2. Spitze hinauf zum Ausstieg der Nordverschneidung vor der 3. Spitze gekommen ? Dieser Aufschwung schien mir zu schwierig um ohne solide Sicherung einen Versuch zu machen.
Herzliche Grüße
Michael

arallall hat gesagt:
Gesendet am 28. Juli 2016 um 21:07
Zum Einstieg läuft man noch ein Stück den Höhenweg in Richtung Osten, dann durch das Schotterfeld hoch in eine Rinne und in einem Kamin fast direkt auf die erste Spitze

Die Frage nach der Schlüsselstelle ist schwer zu beantworten, mir als Kletterer fallen die "schwierigeren" Kletterpassagen leichter als das ungesicherte Gehen im ausgesetzten, brüchigen IIer-Gelände. Klettertechnisch ist der Aufstieg zur 3. Spitze sicher am anspruchsvollsten.

Wie wir genau von der Scharte auf die Spitze gekommen sind kann ich nicht mehr exakt beschreiben. Nach kurzem Suchen ging es relativ problemlos hinauf.
Direkt vor der Verschneidung gab es eine kurze Querung die wir gesichert passierten.
(war dann aber unproblematisch)

Generell ist die Tour nur schwer abzusichern, wir sind die gesamte Route bis auf die Querung und die beiden Abseilstellen seilfrei gegangen.

Viele Grüße
Arnold

Michael26 hat gesagt: RE:
Gesendet am 29. Juli 2016 um 09:28
Cool - danke und viele Grüße


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