Mit wackeliger Schulter zum höchsten Berg von Afrika


Publiziert von Chet , 4. September 2018 um 21:03.

Region: Welt » Tansania
Tour Datum:16 Februar 2011
Wandern Schwierigkeit: T5+ - anspruchsvolles Alpinwandern
Wegpunkte:
Geo-Tags: EAT 

„In Afrika ist etwas im Morgenlicht wahr und mittags eine Lüge, und man gibt nicht mehr darauf als auf den reizenden, von hohem Gras gesäumten See am anderen Ende der sonnenversengten Salzebene. Man hat diese Ebene am Vormittag durchquert, und man weiß, es gibt dort keinen solchen See. Und doch ist er jetzt unbestreitbar wahr, schön und glaubhaft.“

Ernest Hemingway, Die Wahrheit im Morgenlicht


Der Kilimandscharo
Der Kilimandscharo ist ein Bergmassiv mit den drei Gipfel Kibo, Mawenzi und Schira. Der mächtigste dieser drei, der Kibo, ist mit 5892 m der höchste Berg Afrikas und der größte frei stehende Berg der Welt. Er ist ein Vulkan, der zuletzt um 1700 ausbrach (und vermutlich irgendwann in der Zukunft wieder Feuer speien wird). Auf den sechs freigegebenen Routen zum Gipfel durchwandert man unterschiedliche Klimazonen. An die Savanne schließt sich zunächst eine bewirtschaftete Kulturzone an, die bis etwa 1800m reicht. Dort sind dann die ‚Gates’, also Eingangstore zum Kilimandscharo-Nationalpark, durch die man in die Regenwaldzone eintritt, die bis etwa 2800m reicht. Oberhalb davon, im Heide- und Moorland (2800m-4000m), ist es im Durchschnitt 7 Grad kälter als auf 1800 m. Hier finden sich die einzigartigen Pflanzen der Region, etwa die seltsamen Riesensenecien. Darüber gibt es die alpine Wüste, in der sich nur noch einige Flechten halten, bevor oberhalb von 5000m die heute noch eisbedeckte Gipfelzone beginnt. Das Kilimandscharo-Massiv gehört seit 1987 zum Weltnaturerbe der UNESCO.
 
Der Berg ist bei Trekkern aus aller Welt beliebt und wird jährlich von etwa 25.000 Menschen besucht. Wunderschöne Natur, traumhaftes Wetter, beeindruckende Menschen, moderate Anstrengungen – so steht es in den Reiseprospekten. Ist es wirklich so?

Vorbereitungen
Ein vielzitierter Spruch lautet: „Es ist nicht möglich, zum Kilimandscharo zu reisen und unverändert zurückzukommen“. In meinem Fall stellte sich aber zunächst die Frage, ob ich wirklich hinreisen sollte. Eine große Gefahr bei der Besteigung eines Fast-Sechstausenders Bergen ist die Akute Höhenkrankheit (Acute Mountain Sickness), die in ein tödliches Lungen- oder Hirnödem münden kann. Jedes Jahr müssen viele Bergsteiger mit vor Schmerzen zerspringendem Kopf vor dem Gipfel umkehren, weil sie sich ungenügend akklimatisieren. Grundsätzlich gelten folgende Regeln der Höhenakklimatisation:
  • Die Schwellenhöhe, ab der man überhaupt höhenkrank werden kann, liegt in den Alpen bei 2500 m. In den Tropen, also z.B. am Kili, liegt sie bei 2800 m.
  • Maßgeblich ist die Schlafhöhe, weil die Nacht ein langer Zeitraum (8 h) ist. Die Schlafhöhe sollte pro Tag höchstens um 400 Höhenmeter zunehmen
  • Die Tagesziele (Berggipfel) können deutlich höher liegen, weil man sich nur kurz dort oben aufhält, aber nach Möglichkeit sollten 1500 Hm nicht überschritten werden
  • Über 5300 m ist keine vollständige Akklimatisierung mehr möglich, daher sind darüber nur Kurzaufenthalte möglich
  • die erreichte Akklimatisierung hält mindestens 5 Tage an, auch wenn man zwischenzeitlich auf Meereshöhe absteigt
Normalerweise darf man also das Nachtlager nur 400 Hm pro Tag nach oben verlegen, bei der Machame-Route sind es teilweise über 1000 Hm (bei der am häufigsten begangenen Marangu-Route=CocaCola-Route noch mehr). Uhuru Peak ist mehrere hundert Meter höher als das Everest-Basecamp, aber das übliche Trekking dorthin dauert 2 Wochen, nicht 4-6 Tage wie bei dem von mir gebuchten Trekking. Eine kürzere Zeit am Berg hat natürlich den Vorteil, dass die fast unvermeidlichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen beim Trekking minimiert werden. Gewichtsverlust, Durchfall- und andere Erkrankungen und der allgemeine Abbau der körperlichen Leistungsfähigkeit würden sich bei diesem Höhen-Zeit-Profil in Grenzen halten. Aber es bedeutete eben auch, dass man ohne vorgeschaltetes (!) Höhentraining nicht nach Tanzania aufbrechen sollte. Der Reiseanbieter, Hauser Exkursionen, schreibt dies auch ziemlich deutlich. Trotzdem hatte die Mehrzahl der Teilnehmer, wie sich später rausstellte, den Rat ignoriert. Die Begründungen, oder sollte man es Ausreden nennen, lauteten z.B. „Hauser wird uns schon keiner echten Gefahr aussetzen.“, „Es war schon so schwierig genug, den Urlaub freizuschaufeln, mehr war nicht drin.“ oder „Man muss halt die Zähne zusammenbeißen.“ Eine Respektlosigkeit gegenüber dem Berg, die noch Folgen haben würde.
Die Kili-Besteigung war für den 16.-24.2. geplant. Unmittelbar davor, vom 10.-15.2. hatte ich mich in das höchste Hotel der Alpen, das Hotel Grawand in Südtirol auf 3212m, eingebucht. Dort wollte ich mich akklimatisieren. Dazu hätte ich in meinem komfortablen Zimmer einfach nur am Laptop arbeiten brauchen, abends das 4-Gänge-Menü genießen und eine Runde schwimmen können. Aber ich machte mit einem Bergführer eine Snowboardtour zur Weißkugel und die endete damit, dass mir mehrfach die Schulter heraussprang. Das Labrum meines rechten Schultergelenks war zusammen mit einem Stückchen Knochen abgerissen. Diesen Befund hatte allerdings ich bei der Abreise noch nicht, sonst hätte ich die Afrika-Reise wohl abgesagt. Am 15.2.2011, als ich die Frage der Stornierung hin- und her überlegte, wusste ich nur, dass die rechte Schulter schmerzte. Die kurze Aufenthaltszeit in Deutschland ließ mir keine Möglichkeit, ein MRT zu machen. Nun war ich bestens akklimatisiert, aber verletzt: dumm gelaufen! Aber ich hielt die Risiken für vertretbar, denn zum Glück ist die Machame Route auf den höchsten freistehenden Berg der Welt eine reine Wanderroute.Nur an ganz wenigen Stellen – etwa an der Breakfast Wall im Barranco Valley oder beim Aufstieg zum Stella Point – muss man die Hände zur Hilfe nehmen. Hier würde es zur Not mit der linken gehen. Ein weiterer wichtiger Aspekt war, dass ein einheimischer Träger mir den Löwenanteil meines Gepäcks abnehmen würde. Bis zu 18 kg würde mein Porter tragen, so dass nur 4-5 kg in meinem Rucksack verbleiben würden (im Vergleich zu 12-14 kg beim sommerlichen Alpen-Trekking). Aber trotzdem: Wird die Schulter wenigstens so weit genesen, dass ich nachts ohne Schmerzen schlafen kann? Werde ich mir ohne allzu viel Schmerzen die Schnürsenkel binden können? Oder, worst case, was wenn die Schulter nochmals herausspringt?

Es geht los
16./17.2.11
Der Flug mit Ethiopian Airlines ist anstrengend. Um 22:40 Uhr geht es in Frankfurt los, fast ohne Schlaf komme ich um 13 Uhr deutscher Zeit bzw. 15 Uhr local time im Kili Airport an. Zwischenstopps hatten wir in Addis Abeba und in Mombasa. Im Kili Airport kommt es zum ersten Kennenlernen der Gruppe: Der Chef einer Medizintechnikfirma Michael Friebe und die Radiologin Aliki Papathanassiou aus Castrop-Rauxel, die beiden Krankenschwestern Bele Huckert aus Zorneding und Dagmar Rohowsky aus Berlin (medizinisches Personal ist also genug dabei J), der Maurer Robert Blank aus Frechenrieden, der Elektriker Günter Lipphardt aus Immenhausen, und meine beiden Kumpels, der Jurist Karsten Stein und der Start-Up-Gründer Patrick Paulisch, beide aus Berlin. Die Altersspanne reicht von 35 bis 60 Jahre, die bisherige Bergerfahrung von „Münchner Hausberge bis 2500m“ bis zu „5800m in den Anden“.

Unser Gepäck wird in verschlissene Jeeps geladen und wir fahren los in Richtung Aishi Hotel, laut Lonely Planet die beste Unterkunft am Platz. Schon auf diesem Transfer sehen wir das Ziel unserer Wünsche: Gewaltig baut sich das Kilimandscharo-Massiv auf einer Grundfläche von 40 mal 60 km auf. Der höchste der drei Gipfel, der Kibo, ist regenverhangen, aber man kann deutlich erkennen, dass bis in tiefere Lagen Schnee liegt.
Auf Karstens Wunsch fährt ein Jeep (mit Aliki, Michi, Patrick, Karsten und mir) statt direkt ins Hotel zuerst in die Provinzhauptstatt Moshi, wo er eine vergessene Regenhose einkaufen will. Eine schlechte Idee. Während wir bei laufendem Moter eine halbe Stunde im Auto warten und kräftig Abgase schlucken, werden Karsten und der einheimische Fahrer von Shop zu Shop geschickt und können schließlich für 15 $ eine uralte Armeehose ersteigern, die bestialisch stinkt. Als ich das Auto mal zum Pipimachen verlasse, werde ich begafft und von Händlern umringt. Nein, ich brauche jetzt nichts! Außer ein Bett. Endlich kommen wir im Aishi Hotel an, in dem es – entgegen der Aussage des Reiseveranstalters Hauser – keine Moskitonetze über den Betten gibt. Ich beziehe mein Einzelzimmer, dusche und lege mich zum Ausruhen ein paar Minuten hin. Ich weiß nicht genau warum – das nach Schweiß riechende Bett, das braune Wasser aus der Dusche, meine nach Mückenspray stinkende Kleidung – jedenfalls muss ich mich übergeben. Ich erkläre den anderen, die gerade die einheimische Biermarke ausprobieren, dass es mir nicht so gut geht und ich deshalb aufs Abendessen verzichte. Ab ins Bett! Um 4 Uhr wache ich gestärkt auf: keine Übelkeit mehr, kein Durchfall, alles ist gut.
 
1. Etappe (18.2.): Machame Gate 1840 m - Machame Camp 2990 m (1150 Hm).
Am Machame Gate ist einiges los. Junge, kräftige Männer aus der Umgebung bieten sich als Träger an, Händler verkaufen Fahnen, Bergsachen und Kili-Accessoires wie bedruckte T-Shirts, Bilder oder den Text vom Kili-Lied.
Da ich einen Träger für mich allein gebucht hatte, versuche ich in wenigen Sekunden, einen geeigneten zu identifizieren. Schließlich gibt es eine Menge Geschichten im Lonely Planet über unehrliche Porter. Im Buch Die Erstbesteigung des Kilimandscharo, dem Expeditionsbericht des Erstbesteigers Hans Meyer von 1889, laufen ihm einige Träger sogar mitsamt Gepäck davon. Ich spreche einen an, der muskulös ist, aber gleichzeitig ein ehrliches Gesicht hat. Sein Name ist Paul. Er hebt kurz meine Tasche an und willigt dann ein. Wie sich später zeigen wird, war es eine gute Wahl.
Die Porter müssen unter echt schwierigen Bedingungen arbeiten. Meist balancieren sie ihre Last – eine wasserdichte Tasche, ein Tisch, ein Zelt, manchmal auch ein Toilettensitz – auf dem Kopf. Zusätzlich tragen sie ihr eigenes Zeug auf dem Rücken.
Lange Warterei auf das Permit. Dann endlich, geht es los. Der Weg ist breit und steigt gemächlich durch Regenwald an. Riesenfarne und lianenbehangene Bäume säumen den Weg. Es beginnt zu tröpfeln. Unmittelbar darauf öffnen sich die Schleusen des Himmels und wir werden bis auf die Haut durchnässt. Das ist kein normaler Regen, wie wir ihn aus Europa kennen. Hoffentlich wird mein Daunenschlafsack nicht nass, sonst wird er nämlich nicht mehr trocken.
Zwischen Karsten, dem aktiven Marathoni, Patrick, dem Ex-Marathoni und mir läuft ja immer eine Art (spielerischer) Wettbewerb, wer am schnellsten ist. Auch jetzt würden wir gerne losrennen. Das ausgegebene Motto "Pole, pole" (langsam, langsam) gefällt uns gar nicht. Im Regen stehlen wir uns davon und kommen im noch leeren Machame Camp an. Die drei Führer, der 63jährige Elias, der 24jährige Issa und 25jährige Ali, sind ärgerlich, weil wir die Stallordnung durcheinanderbringen. Eigentlich sollen die Zelte immer schon aufgebaut sein, wenn die Guests ankommen. Aber so schnell wie wir drei können die Träger beim besten Willen nicht laufen.
Da wir die gleichen roten Haglöfs-Jacken haben, werden wir "three red devils" getauft. Statt der im Kili-Buch des Bergführers Peter Rotter angegebenen 6 Stunden haben wir für diese Etappe 3:42 h gebraucht. Meine Schulter habe ich möglichst ruhig gehalten, sie tat kaum weh. Im Machame Camp muss sich jeder Wanderer einzeln in ein dickes Hüttenbuch eintragen, eine Prozedur, die sich in jedem Camp wiederholen wird.
Tansania war einmal eine britische Kolonie. Nachdem die Zwei-Mann-Zelte aufgebaut sind, wird zur Tea-Time gerufen. Es gibt Schwarz- und Ingwertee, Kekse und Popcorn.
Wir treffen im Machame Camp noch insgesamt etwa 50 andere Trekker, die denselben Weg nehmen wie wir. Die ersten Bekanntschaften werden geschlossen, die ersten Geschichten kursieren. Drei Deutsche aus Jena haben vor Ort ihren Kibo-Trip gebucht und plötzlich hatten sie 19 Porter, die alle bezahlt werden wollten. Wir haben 25 Porter (neben 3 Führern und zwei Köchen), aber wir sind auch 9 Trekkingtouristen. Es scheint also Vorteile zu haben, dass wir über Hauser Exkursionen gebucht haben, eine günstigere Alternative als z.B. der DAV Summit Club. Allerdings ist unser Gemeinschaftszelt zugig und zu klein für neun Leute, die versprochene chemische Toilette fehlt. Mit einem einzigen kleinen Gaskocher zaubern die Köche ein mehrgängiges Abendessen: Salat, eine Gemüsesuppe, gebratenen Fisch mit Reis, zum Nachtisch Mango. Aber kann man alles essen? Die Gruppe diskutiert die Hygieneregeln, die in der unserer Hauser-Reisebroschüre stehen. Den grünen Salat lassen die meisten stehen, auch beim Obst sind einige zögerlich.

Wie vermeidet man Durchfallerkrankungen in tropischen Ländern?
  • Über 70% der Erkrankungen auf Reisen sind Reisediarrhoe, die auf verunreinigtes Trinkwasser zurückzuführen sind. Erreger (Viren, Bakterien, Protozoen) sind fast überall auf der Welt im Trinkwasser nachzuweisen.
  • Wasser in bewohnten Gebieten stets aus industriell abgepackten Flaschen mit ungeöffnetem Verschluss konsumieren. Kein Wasser aus Karaffen in Hotels trinken.
  • Unterwegs nur abgekochtes Wasser trinken. Zur Not Bachwasser mit Micropur oder Jodtabletten vor dem Trinken vorbehandeln (2 h Wartezeit).
  • „Boil it, peel it, or forget it!“ Niemals etwas Ungekochtes/Ungebratenes oder Ungeschältes essen. Vermieden werden sollten also z.B. Salat, Gemüse, kaltes Buffet, rohes oder halbgares Fleisch, Meeresfrüchte, Milchprodukte, Cremes, kalte Soßen. Vorsicht auch bei kalten oder abgestandenen Fleisch- oder Fischgerichten.
Abends spielen wir das Kartenspiel Kuhhandel im Licht einer schummrigen Lampe. Gegen 22 Uhr verkrieche ich mich in meinen Schlafsack. Meine erste Zeltnacht ist ok.
 
 
2. Etappe (19.2.): Machame Camp 2990 m - Shira Camp 3761m, (810 Hm hoch, 30 Hm runter).
Das Machame Camp liegt noch im Regenwald, aber kurz danach wird die nächste Vegetationsstufe erreicht: der Heidegürtel. Das Thermometer bleibt noch deutlich im Plusbereich. Ich habe nicht die geringsten Anzeichen von Höhenkrankheit und überhole an diesem Tag etwa 40 Leute. Laut Rotter sind 4-5 Stunden das übliche Maß für diese Tagesetappe, ich schaffe sie in nur 2,5 h. Karsten und Patrick kommen diesmal eine Viertelstunde nach mir an. Wir packen unser Lunchpaket aus: ein paar Kekse, eine Banane, ein Fruchtsaft, ein Brot mit undefierbarem süßem Aufstrich. Als ein fremder Porter sich zu uns gesellt, teste ich mein Kishuali an ihm. Aus einem Kauderwelsch-Wörterbuch lese ich Phrasen wie „Ich lerne gerade deine Sprache“ und „Wie geht's Dir?“ ab. Plötzlich greift er sich meine Kekse und isst sie auf. Ich habe eben unbewusst „Karibu Chakula“ gesagt: „Ich lade Dich zum Essen ein.“ Karsten und Patrick lachen sich schlapp. Wir drei haben eine sehr gute Zeit zusammen, und auch in der Gesamtgruppe geht es harmonisch zu.

Shira Camp ist phänomenal, erstmals scheinen die Gletscher des Kibo zum Greifen nah. Ach ja, die Gletscher. Die Geschichte des Kibo wurde über Jahrmillionen geprägt vom Wechsel zwischen Feuer und Eis, denn bei jedem Ausbruch schmolzen die Gletscher, bevor die Natur sie wieder entstehen ließ. In den kleinen Eiszeiten der Erdgeschichte reichten sie bis 3600m herab. Nun aber scheint der Treibhauseffekt ihnen das Todesglöckchen zu läuten. 1912 bedeckte noch eine 12 Quadratkilometer große Eiskappe die Kibospitze, heute sind es noch etwa 2 Quadratkilometer. Trotzdem, wer diese Eismassen sieht, dem erscheint es schwer vorstellbar, dass sie bis 2020 ganz verschwunden sein sollen. Übrigens schmelzen sie nicht, sondern ‚sublimieren’, das heißt das Gletscherwasser geht wegen der trockenen Luft direkt vom festen in den gasförmigen Zustand über. Nicht mal die Wasserknappheit in der alpinen Wüste lindern also die sterbenden Gletscher.
Shira war mal selbst ein aktiver Vulkan, der dritte neben dem Kibo und dem Mawenzi, aber er erlosch schon vor einer halben Million Jahren und wurde teilweise von späteren Lavamassen aus dem Kibo übergossen. Trotzdem ist das Shira Plateau aus meiner Sicht landschaftlich eine der schönsten Ecken im Kili-Gebirge. Und Mount Meru im Westen wirkt von dort so gleichmäßig aufgebaut, als wäre hier ein Zyklop am Werk gewesen.
Nachmittags zeigen sich in unserer Gruppe die ersten Krankheitssymptome. Die Mehrheit der Gruppe hat Kopfschmerzen. Die Gespräche kreisen um die Schmerzpillen, die jeder dabei hat: Voltaren, Ibuprophen, Paracetamol, Valoron, Aspirin… Die stärkeren Mittel bekämpfen wirksam den Kopfschmerz, aber sie schlagen auf den Magen. Bei Robert und Aliki treten schwere Magenverstimmungen auf, bei Ailiki zusätzlich mit Durchfall. Mehrfach diese ekligen Latrinen auf dem Campingplatz aufsuchen zu müssen, um sich inmitten von Fliegen zu übergeben, ist wirklich die Höchststrafe. Das als Dopingmittel verschrieene Diamox hat übrigens niemand dabei, zumindest erzählt niemand davon.
Abends spielen wir zusammen mit 3 netten Jenaensern (Konrad, Martin und Michi) Kuhhandel. Danach noch ein kultureller Höhepunkt: Der Waiter Matthew bringt uns ein Kilimandscharo-Lied bei:

Jambo. Jambo bwana,                                  Hallo. Hallo Herr,
Habari gani?                                                 Wie geht’s?
Nzuri sana.                                                    Sehr gut.
Wageni, wakaribishwa,                                 Besucher, seid willkommen.
Kilimanjaro,                                                  Kilimandscharo,
hakuna matata.                                             kein Problem!

Wir revanchieren uns mit deutschem Liedgut wie Ein belegtes Brot mit Schinken, ein belegtes Brot mit Ei und Tränen lügen nicht. Ein wirklich netter Abend.
 
Der nächste Morgen ist wolkenlos. Gegen 6:15 wird alles rot, 10 min später ist die Morgendämmerung vorbei und es ist taghell. Bele, ganz Krankenschwester, hat in der Nacht einem Trekker aus einer anderen Gruppe geholfen, der Luftnot hatte und im Schlaf schrie, weil er zu ersticken glaubte.

3. Etappe (20.2.): Shira Camp 3880m - Lava Tower 4621m, Baranco Camp 3960m (983 Hm hoch, 675 Hm runter), unsere Zeit: 7:13 h, Zeitangabe im Rotter: 6-8 h
Ein Akklimatisatiostag steht uns bevor. Zum Glück befinden wir uns schon über den Wolken, kein Regen mehr zu erwarten. Elias, der älteste Führer, gibt das Tempo vor, also müssen wir diesmal wirklich pole, pole laufen. Der Weg führt für alle in die alpine Wüste bis auf etwa 4400 m, dann kann man gleich bergab zum Barranco Camp, oder man kann noch das Lava Tower Camp besuchen und den Felsturm umrunden. Die Umrundung lassen Bele, Dagmar und Norbert aus. Die drei sind höhenkrank, haben starke Kopfschmerzen und Bele hat sogar Wasseransammlungen (Ödeme) im Gesicht.
So richtig hatten sich außer mir nur Patrick und Karsten akklimatisiert. Karsten war schon vier Tage früher als die anderen nach Afrika aufgebrochen und hat sich im äthiopischen Hochland akklimatisiert. Patrick hat zu Hause in Berlin das ‚Höhenbalance’-Programm absolviert, bei dem man unter künstlich simulierter Höhe trainiert.
Die geschrumpfte Gruppe steigt höher, durch eine Mondlandschaft, die mich an das Teide-Gebirge in Tenariffa erinnert. Am Lava Tower erreichen wir die Schneegrenze. Von hier geht ein direkter Weg durch die Felswand (Western Breach) zum Gipfel. Aber den haben wir nicht bei der Parkverwaltung gebucht, und wir wären auch nicht dafür ausgerüstet. Also wieder runter, Richtung Barranco Camp.
Das Wetter wechselt hier wahnsinnig schnell: Wenn die Sonne rauskommt, wird es innerhalb von Sekunden 10 Grad wärmer. Aber bis man sich dann die Jacke ausgezogen hat, ist die Sonne schon wieder verschwunden und kalte Nebelschwaden treiben durchs Land. Man ist nur am an- und ausziehen.
Mittags bekommen wir "hot lunch", es gibt Maccaroni mit Gemüsesoße. Deutlich leckerer als die Tüte mit "cold lunch", die wir bisher vorgesetzt bekamen.
Wir folgen dem "South Circuit", der den Kibo südlich halb umrundet. Je tiefer wir kommen, desto grüner wird die Landschaft wieder. Nun sehen wir auch zum ersten Mal die bis zu fünf Meter hohen Riesensenecien mit ihren Lumpenkleidern und grünen Köpfen, für die Botaniker unter uns ein Highlight der Tour. Wenn bei diesen Pflanzen die Blätter absterben, bleiben sie dennoch hängen, um den Stamm gegen Kälte zu isolieren
 
Im Barranco Camp sind unsere Zelte schon aufgebaut. Ich glaube, mir gefällt Zelten besser als Hüttenübernachtungen. Man hat (im Einzelzelt) deutlich mehr Platz, kann selbst für Hygiene sorgen (während man Bettlaken in der Hütte auch dann benutzen muss, wenn sie schmutzig sind), und man ist näher an der Natur. Es gibt allerdings auch mehr zu überlegen. Zum Beispiel: Wenn ich nicht jetzt, sondern nachher lese, dann ist das Tageslicht weg und ich brauche die Stirnlampe. Wieviele Ersatzbatterien habe ich noch? Wenn ich (verbotenerweise) das portable Dixieklo der anderen Gruppe benutzen will, dann kann ich erst nach Einbruch der Dunkelheit gehen. Oder soll ich hinter die Felsen gehen? Wann und wie also gehe ich aufs Klo?
Ruhiger als in einer Hütte darf man sich einen Zeltplatz nachts übrigens nicht vorstellen. Die scheinbare Abgeschlossenheit der Zelte verleitet zu Gesprächen, die aber durch die dünnen Zeltwände ungehindert nach draußen dringen. Nicht nur ich höre in dieser Nacht amüsiert zu, wie Aliki Michael auschimpft, weil er seine Sachen auf ihre Schlafseite geworfen hat.

4. Etappe (21.2.): Barranco Camp 3965m-Barafu Camp 4540m (1024 Hm hoch, 600 Hm runter), Zeitangabe Rotter 6-8 h, wir 8:01 h.
Unser letztes Lager, Baranco Camp, liegt spektakulär in einer Schlucht. Die Aussicht auf den Askari, einen Felssoldaten hoch über uns, und nach Moshi, 2500m unter uns, ist sensationell. Wie schon in den letzten Tagen bekommen wir morgens jeder ein Schüsselchen warmes Wasser für die Körperpflege. Dann stärken wir uns mit einem leckeren Frühstück aus Toastbroten mit Rührei und Würstchen, hartgefrorener Erdnussbutter, Marmelade und Honig. Gegen 8.30 Uhr starten wir, das Thermometer zeigt 8 Grad Celsius.
Heute erwartet uns ein recht anspruchsvoller Wandertag. Direkt nach dem Aufbruch gilt es die Breakfast Wall zu überwinden, ein Felsriegel, wo man ein bisschen klettern muss. Für die Porters ist das extrem schwierig, weil sie eigentlich mit ihren Händen die Sachen auf ihrem Kopf festhalten müssen.
 Elias läuft wieder die ganze Zeit vorne, und wir bleiben brav hinter ihm. Im Karanga Valley ist der "Last Water Point", d.h. bis zu unserem Ziel, dem hochgelegenen Barafu Camp, muss Wasser mitgeschleppt werden. "Barafu" heißt übrigens "Eis". Erstaunlich, dass es überhaupt ein Wort dafür in Kishuaeli gibt.
Im windigen Hochlager gibt es zahlreiche Weißnackenraben, die sich um die Essensabfälle raufen. Außer diesen großen Vögeln und einigen Streifenmäusen haben wir seit Verlassen der Regenwaldzone keine Tiere mehr zu Gesicht bekommen. Gut so, dann bekommt man wenigstens nachts keinen ungebetenen Besuch.
Hier, auf über 4500m, sind die Kopfschmerzen bei einigen Trekkern, aber natürlich auch bei vielen Trägern, unterträglich geworden. Ich schenke meinem Porter Paul und anderen Trägern, die mich darum bitten, einige von meinen Pillen. Selbst werfe ich auch vorsorglich eine Aspirin ein, obwohl ich eigentlich schmerzfrei bin.

Der Gipfel
5. Etappe (22.2.): Barafu Camp 4540m-Gipfel 5895m-Barafu Camp (1345 Hm im Auf- u Abstieg)
Rotter: 9-10 h vom Barafu Camp zum Uhuru Peak und zurück (meine Zeit: 8:19 h)
Barafu Camp. So hoch habe ich noch nie geschlafen. In den Alpen ist nur noch die Margherita-Hütte vergleichbar. Tolle Sicht zum Mawenzi. Jetzt ist es 18 Uhr, um 00.30 Uhr ist Frühstück, um 1.00 Uhr Aufbruch. Dagmar kündigt schon abends an, dass sie im Lager bleibt. Alle anderen wollen es versuchen, auch wenn manchen anzusehen ist, dass sie keine rechte Lust auf die Anstrengung haben. Viele dachten, dass sie den Gipfelsturm in bester körperlicher Verfassung antreten werden können. Aber Blasen an den Füßen, Schlafdefizite, Kopfschmerzen, Magenbeschwerden oder Erkältungen dämpfen die Wanderlust. Michi z.B. hat eine münzstückgroße Blase und kann nur seine leichten Wanderschuhe anziehen. Ich bin zum Glück beschwerdefrei, aber trotzdem plagen mich Zweifel. Werde ich den Gipfel erreichen? Wenn ich mir den Fuß verknackse? Wenn ein Sturm aufzieht? Ich setze mir moderate Ziele: höher kommen als jemals zuvor (also als Mont-Blanc-Höhe), höher als 5000m, bis zum Stella Point (also dem Kraterrand, 5745m), oder doch bis zum höchsten Punkt des Kraterrandes, zum Uhuru Peak auf 5895m? Wir starten um 01:17. Es ist extrem kalt, mit dem Wind gefühlte -15 Grad. Trotzdem friere ich nicht: Ich trage ein Odlo-Shirt (höchste Wärmestufe), eine zweite Elasthat-Schicht, einen weißen dicken Kaschmirpulli und die rote Goretex-Windjacke. Aus zwei Zwei-Lagen-Handschuhen habe ich mir einen Drei-Lagen-Handschuh gebastelt. Am Kopf trage ich eine Ganzgesichtsmaske und 2 Wintermützen übereinander, darüber noch die Kaputze. Unten eine lange Unterhose von Odlo (höchste Wärmestufe), darüber meine Trekkinghose, darüber eine Regenüberhose. Die Bergschuhe habe ich gewechselt: die leichteren Trekkingschuhe wurden durch die steigeisenfesten Meindl ersetzt. In den Schuhen stecken 2 paar Socken drin, beide das wärmste Modell von Falke. Mit alledem ist meine Körpertemperatur gerade so, dass ich nicht friere.
Elias gibt ein langsames Tempo vor. Eine Stirnlampe hat er nicht, er findet den Weg auch im Dunkeln. Wir folgen schweigend. Nach ca 400 Hm sagt Robert, dass er nicht mehr kann. Sein Atem rasselt, der Puls rast wie ein ICE. Einige (auch ich) reden mit ihm, während Patrick und Karsten sagen, dass sie weitergehen müssen, weil ihnen sonst kalt wird. Ali führt sie weiter. Mit Aliki und Michael schließe ich kurz darauf zu ihnen auf. Unsere Reisegruppe ist damit erstmals geteilt. Vorne sind Ali, Patrick, Karsten, Aliki, Michi und ich, den Rest sehen wir bald nicht mehr. Bei ca. 5200 m sagt Michi, dass er erschöpft ist und nicht mehr weiter will und wir ihn zurücklassen sollen. Das machen wir prompt, er hat ja eine Stirnlampe, außerdem kommen ständig Gruppen vorbei, vermutlich also auch der zweite Teil der Hauser-Gruppe. Denken wir. Später stellt sich aber raus, dass lange niemand kam und ihm sehr kalt wurde, bis er mit den anderen zusammentraf.
Patrick erwähnt später, dass die gleichen Faktoren, die immer wieder an den großen Bergen der Welt zu Tragödien führen (beschrieben etwa von John Krakauer in seinem Bestseller In eisigen Höhen) auch bei uns wirksam wurden. Issa hatte Ali gebeten, einen vierten Führer einzusetzen, aber der hatte abgelehnt. Nun wird es bald mehr kleine Trekker-Grüppchen als Guides geben.
Das beschauliche Wandern ist Vergangenheit, das hier ist ernsthaftes Bergsteigen. Im Moment sind die drei Rotjacken ganz vorne, zusammen mit Aliki, deren Pausengesuche überhört werden. Immerhin schultert Ali ihren Daypack. Wir gehen langsam, aber stetig. Das führt dazu, dass wir mehrere Gruppen überholen, die ermüdet dahocken oder liegen. Ich warte darauf, dass mein Körper schlapp macht, aber er macht nicht schlapp. Seltsame Gedanken gehen mir durch den Kopf. Ich denke während des stundenlangen gleichmäßigen Steigens an die ganzen Steine zu meinen Füßen. Dass sie erstarrte, aber lebende Wesen sind, die mir gut oder böse wollen können. Bei jedem Tritt können sie meinem Fuß Halt geben oder ihn abrutschen lassen. Ich kommunziere mit dem Volk der Steine und bitte sie um Beistand. Kleiner Nebeneffekt: Ich setze meinen Fuß sehr bewusst auf, immer auf die guten Steine. Kein einziges Mal komme ich ins Rutschen oder trete einen Stein ab.
Die letzten Schritte zum Stella Point. Ich beschleunige, um als erster oben zu sein. Das gelingt mir auch. Ganz plötzlich spüre ich aber die Höhe und mir wird leicht schwindelig. Nachdem alle oben sind, umarmen wir uns.
Wir erreichen Stella Point zum bestmöglichen Zeitpunkt, genau als die Sonne aufgeht und den Mawenzi (5149m) im Osten in gold hüllt. Er sieht zerschunden aus, mit seinen zerklüfteten Wänden und zerrissenen Felsflanken. Der Legende nach hat ihn der Kibo nach einem Verrat so zugerichtet.
Aliki ist sehr kalt, sie bittet Patrick um Wärmepflaster, die sie sich nicht nur in die Handschuhe tut, sondern auch an ihrer Nase befestigt. Sie sagt, dass ihre Körpertemperatur auf unter 34 Grad gesunken ist und dass sie fürchtet, dass ihre Finger erfrieren. In ihrem Überlebenskampf gegen die Kälte – so wird sie es selbst später nennen – traut sie sich nicht mal, die Kamera herauszuholen.
Patrick, Karsten und ich aber sind euphorisiert. Schon hier, am Stella Point, gilt der Kilimandscharo offiziell als bestiegen. Aber der höchste Punkt Afrikas liegt nun mal noch hundertfünfzig Meter höher: der Uhuru Peak (Kisuaheli für ‚Gipfel der Freiheit’). Dank unseres Adrenalinkicks ist diese letzte Etappe schnell gemeistert, wobei ich hierfür etwas länger brauche als die anderen beiden. Da Ali mit Aliki nur sehr langsam hinterherkommt, sind wir drei jetzt ohne Führer unterwegs, wahrscheinlich als einzige von allen Touristen-Gruppen hier am Kraterrand. Die Sonne taucht die fremdartige, von unten nicht sichtbare Szenerie von Krater und Gletschern in ein immer neues Licht. Die senkrechten Eiswände (Decken- und Rebmanngletscher) im Westen des Kraterrandes sind in ihrem Farbwechsel von wunderbarer Schönheit. In der nächsten Stunde machen wir ca 200 Fotos. Es ist so schön hier. Mir kommen fast die Tränen vor Glück. Ich berühre das berühmte Schild, das statt eines Gipfelkreuzes am höchsten Punkt steht, um 7:11 Uhr. Es ist gar nicht so einfach, diesen Fotospot zu erobern. Da der Kili einer der 7 Summits ist, also der höchsten Gipfel aller 7 Kontinente, sind hier Teams und Bergsteiger aus der ganzen Welt anzutreffen, viele mit ihren Landesfahnen. Und jeder will sich mit dem berühmten Gipfel-Schild fotografieren lassen.

Die kindliche Begeisterung erinnert mich an die Erstbesteigung vor 122 Jahren, die Hans Meyer so beschreibt: „Anderthalb Stunden Steigens durch sonnenerweichten Firn und zerfressenes Eis führte uns an einer seltsam abgebrochenen, 6m hohen Eismauer vorbei zu dem Fußpunkt der drei höchsten, aus losen Trümmern bestehenden Felsspitzen (...) Um halb elf betrat ich als erster die Mittelspitze. Ich pflanzte auf dem verwitterten Lavagipfel mit dreimaligem, von Herrn Purtscheller kräftig sekundiertem Hurra eine kleine, im Rucksack mitgetragene deutsche Fahne auf und rief frohlockend: "Mit dem Recht des ersten Besteigers taufe ich diese bisher unbekannte, namenlose Spitze des Kibo, den höchsten Punkt afrikanischer und deutscher Erde: Kaiser-Wilhelm-Spitze."“
 
Inzwischen ist auch Aliki mit dem Guide Ali angekommen. Zu diesem Zeitpunkt denken wir, dass die anderen längst zurückgegangen sind. Wie wir später erfahren, sind sie jedoch alle unter großen Mühen und Schmerzen bis zum Stella Point gelangt. Jedes Mal, wenn sie umdrehen wollten, hat Guide Elias sie motiviert, weiterzumachen. Bele ist sogar dann noch weiter zum Uhuru Peak, den Rucksack nahm ihr Elias ab. Die Mountain Guides erhalten von der Parkverwaltung eine Provision, wenn sie möglichst viele Touristen nach oben bringen. Letztlich bekommen also doch alle aus unserer Gruppe (außer Dagmar) eine Urkunde, bei fünf Personen steht Uhuru Peak drauf, bei den anderen vier Stella Point. Das ist eine sehr hohe Erfolgsquote für eine Hauser-Gruppe am Kilimandscharo.
 
Unsere Freunde aus Jena haben es zwar auch geschafft, aber sie hatten mit ihren lokalen Führern neuen Ärger: Die Führer ordneten an, schon um 12 Uhr aufzubrechen und so erreichen unsere Bekannten den Gipfel eine Stunde vor Sonnenaufgang. Sie sehen nichts, frieren bitterlich und steigen deshalb nach 10 min schon wieder ab. Und dafür wochenlange Planung und Vorfreude. Führer, Träger und Koch sind übrigens vorgeschrieben, man kommt ohne sie nicht rein in den Nationalpark. Den Berg im so genannten Alpinstil zu besteigen ist also schlicht nicht möglich. Stattdessen ist hier jeder Bergsteiger mit einer Karawane im Schlepptau unterwegs –die Kolonialzeit läßt grüßen.
 
Karsten, Patrick und ich machen uns nun aber ohne Führer an den Abstieg und fahren im nun aufgetauten Lavasand wie auf einer Skipiste runter. Ich versuche, meine Stöcke einzusetzen, gebe es aber mit dem rechten bald auf, weil die Schulter zu sehr schmerzt. Der Wind, der beim nächtlichen Aufstieg an den Kräften zehrte, hat sich gelegt. Die Sonne brennt nun vom Himmel und es ist heiß geworden. So heiß, dass ich eines meiner Sockenpaare ausziehe. Ein Fehler, denn beim weiteren Abstieg rutschen die Füße in den Schuhen hin- und her und im Lager entdecke ich eine große Blase an der Spitze des großen Zehs. Für den Abstieg brauchen wir trotzdem höchstens ein Drittel der Aufstiegszeit, schon gegen 9.45 Uhr kommen Karsten und ich wieder im Barafu Camp an, wo uns die Trägermannschaft beglückwünscht und einen Saft serviert. Die Anstrengungen der letzten Stunden sind mir ins Gesicht geschrieben Nichts wie ins Zelt, raus aus den Sachen und ausruhen. Patrick ist (ohne Führer) ein Stück weit ins falsche Tal abgestiegen und kommt daher etwas später. Bis 12 Uhr sind alle acht Trekker wieder heil im Lager angekommen und werden mit einem warmen Lunch versorgt.
 
Allerdings gibt es nachmittags keine Chance, sich auszuruhen. Das ist besonders hart für diejenigen, die spät vom Gipfel zurückkehrten und noch gar nicht pausieren konnten. Die Planung von Hauser sieht vor, dass nochmals 1500 Hm (also insgesamt an diesem Tag 3000 Hm) im Abstieg gemacht werden. Abends soll das Lager im Mweka Camp auf 3060m aufgeschlagen werden. Dabei gäbe es auch die Möglichkeit, im High Camp (Millenium Camp) auf 3700m zu übernachten, da auch dieses eine gute Wasserversorgung hat. Für den Gewaltmarsch ins Tal hat niemand Verständnis. Die letzten 700 m sind verschlammt und die Überanstrengung fordert ihren Preis: Mehrfach rutschen Mitglieder aus unserer Gruppe aus und stürzen. Wir teilen uns wieder in Grüppchen auf, die letzten kommen kurz vor Anbruch der Dunkelheit im riesigen Mweka-Camp an. Auch emotional kommt die Rückkehr aus der Eiszone in die feucht-tropische Regenwaldzone zu abrupt. Wir sind wieder umgeben von Insekten. Abends, als ich eine Toilette aufsuche, hockt dort schon eine fette Spinne. Ich verschiebe meine eigene Sitzung.
 
Eine Begebenheit gibt es noch von diesem Tag zu erzählen: Bei unserem Abmarsch aus Barafu Camp sahen wir, wie der starke Wind ein Zelt einer anderen Trekking-Gruppe losriss. In kürzester Zeit entschwand es in den Wolken.
6. Etappe (23.2.) Mweka Camp 3060m - Mweka Gate 1800 m (1260 Hm runter)
Die letzte Etappe führt unspektakulär durch den Regenwald, dann werden wir mit Kleinbussen ins Hotel gebracht. Vorher kommt es aber noch zu einer herzlichen Verabschiedung. Es hat sich eingebürgert, dass die Einheimischen eine Art zweites Gehalt in Form von Trinkgeldern erhalten, da ihr Grundgehalt sehr niedrig liegt. Wir gaben für die 6-Tage-Tour je 60 $ für die Mountain Guides, je 42 $ für die Cooks und Waiter, und je 30 $ für die Porter. Ich wurde von unserer Trekking-Gruppe dazu auserwählt, das Geld zu übergeben. Also übernahm ich die Übergabe am Mweka Gate und gab jedem der 30 Afrikaner mit Handschlag ihr Trinkgeld. Danach führte die gesamte afrikanische Mannschaft einen minutenlangen Freudentanz auf und Kilimandscharo-Lieder wurden gesungen, die den Berg sowohl anpreisen als auch verfluchen.
Bergsachen und Schlafsäcke spendete jeder Teilnehmer individuell. Sympathie und Bedürftigkeit waren die Kriterien, nach denen die Trekker die Empfänger auswählten. Möge das schwere Los der Porter, ohne die wir nie den Gipfel erreicht hätten, dadurch gelindert werden.

Ist der Kilimandscharo ein gefährlicher Berg?
Im Ratgeber Trekking & Expeditionsbergsteigen von Thomas Hochholzer und Martin Burtscher ist zu lesen: „Genaue Statistiken über Gipfelerfolge, Komplikationen und Todesfälle sind leider von den dortigen Behörden nicht zu bekommen. Man schätzt, dass etwa nur jeder fünfte Bergsteiger den Kraterrand erreicht und wahrscheinlich nur jeder Zehnte bis Zwanzigste das eigentliche Ziel, den Uhuru Peak auf 5895m. (…) Von mehreren Seiten wird immer wieder über schwere Fälle der Höhenkrankheit berichtet; auch Recherchen im Internet zeigen ungewöhnlich viele Komplikationen und Todesfälle auf.“ Und der Kili-Fotograf Oswald Oetz munkelt, dass jährlich zehn bis zwanzig Bergsteiger an den Komplikationen des Höhenaufenthaltes sterben. Die Parkverwaltung, für die die Eintrittsgelder von rund 135 Dollar/Tag eine wichtige Einnahmequelle sind, veröffentlichte vor rund zehn Jahren, dass 80 Prozent der Trekker den Kraterrand und 50 Prozent Uhuru Peak erreichen. Von Toten war dort nichts zu lesen. Die Wahrheit dürfte in der Mitte liegen. Issa, unser Führer und eine recht vertrauenswürdige Quelle, berichtete auf Nachfrage von 2 Touristen und 5 Porters, die 2010 am Kili starben. Ich habe selbst gesehen, wie Guides am Kraterrand benommene Trekker stützten, die nicht mehr alleine laufen konnten. Ein Südafrikaner aus unserem Hotel erlitt am gleichen Tag, als wir oben waren, mehrere Knochenbrüche, als er stürzte. Ist der Kili deshalb gefährlich? Nur für den, der nicht weiß, worauf er sich einlässt. Die meisten Bergsteiger oben am Kraterrand wirkten fit. An manchen Prestigebergen in den Alpen sterben deutlich mehr Leute als am Kili, allein zwölf pro Jahr am Matterhorn. Wer aber glaubt, man könne den Kili en passant ‚mitnehmen’, der wird eine böse Überraschung erleben. Nicht deshalb, weil der Berg technische Schwierigkeiten aufweisen würde. Der Spruch so vieler Agenturen, „jeder halbwegs sportliche Mensch kann den Kili besteigen“ ist ja nicht falsch. Aber man sollte sich schon Gedanken über die richtige Taktik machen, vor allem um jede Art von Krankheiten zu vermeiden. Dann wird man den härtesten Spaziergang der Welt nicht nur bewältigen, sondern auch genießen können.
 
Postscriptum: Meine Schulter wurde am 11.3.2011 operiert. Heute, sechs Wochen später, kann ich schon perfekt mit links Suppe essen, Socken anziehen oder mich rasieren. In den nächsten Wochen werde ich das wieder verlernen, weil ich zunehmend auch wieder den rechten Arm benutzen kann. War aber eine interessante Erfahrung, was man alles als Einarmiger machen kann.

Tourengänger: Chet


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