Rotenburg an der Fulda: Erinnerungen, Heimat und Julia
|
||||||||||||||||||||||||||
![]() |
![]() |
Ausgangslage
In diesem Fall sind die verfügbaren Grundlagen besonders dürftig, aber angesichts der Tatsache, dass das Fachwerkstädtchen Rotenburg an der Fulda bislang nur in einem Bericht ganz kurz erwähnt wird (und die nähere Umgebung überhaupt nicht), scheint mir ein Tourenbericht dennoch gerechtfertigt. Er basiert hauptsächlich auf den noch vorhandenen Erinnerungen und den damals entstandenen Bildern, die ich anhand der Wanderkarte und Google Maps so gut wie möglich verortet habe. Dass es sich lohnt, seine Fotos genau zu dokumentieren und die unternommenen Reisen und Ausflüge zu protokollieren, habe ich zu jener Zeit noch nicht realisiert. Da die (einzige) Wanderung nur kurz war, wird der Bericht ergänzt mit allgemeinen Informationen, zum Thema passenden weiteren Details, sowie Auszügen aus einem Buch, von dem gleich die Rede sein wird.
Einleitung
Anfang April 1998 war ich während 4 Tagen zu Besuch in Rotenburg an der Fulda. Die Pension «Sonnenhang» hatte ich mir im Vorfeld anhand eines zugeschickten Unterkunftsverzeichnisses ausgewählt. Computer spielten damals in meinem Leben noch kaum eine Rolle und vom Internet hatte ich bloss hin und wieder mal was gehört. Angesichts dessen, dass sich heutzutage mittels Bildern und Erfahrungsmeldungen anderer bereits zuhause am PC ein umfassendes Bild der verfügbaren Unterkünfte machen lässt, war das damals mehr oder weniger ein Schuss ins Blaue. Ich hatte aber gut gewählt: Der «Sonnenhang» war eine sehr kleine Pension, in der ich der einzige Gast war und von den Inhabern – einem älteren Ehepaar – bestens umsorgt wurde. Auch das Zimmer war sehr gemütlich eingerichtet. Wie früher üblich war es mit einem Telefon mit Wählscheibe ausgestattet und zur Unterhaltung diente ein Kofferradio; gut geeignet um die regionale UKW-Szene zu erkunden. Wollte ich fernsehen, konnte ich das jederzeit gemeinsam mit den Inhabern tun, was an den Abenden gelegentlich der Fall war. Der Name des Hauses war passend; die sehr ruhige Lage im Abhang nördlich der Stadt, ca. 50 m über dem Talgrund wäre sicherlich sehr sonnig gewesen – wenn sie denn geschienen hätte! Leider war der Himmel während des gesamten Aufenthalts bedeckt und teilweise regnete es auch. Dennoch durfte ich mit meinen lokalen «Reiseführern», mit denen ich mich jeweils am Bahnhof getroffen habe, einige interessante Ausflüge unternehmen, bei denen ich mit meiner 1991 geschenkt erhaltenen ersten Kompaktkamera Fuji DL180 Tele auch ein paar Bilder gemacht habe, die hier als Scans eingefügt sind. Zudem sind auch noch einige weitere Scans von Postkarten und anderen Dokumenten jener Zeit enthalten. Dazu gehört das Buch, welches ich als Andenken geschenkt erhalten habe, und welches zum Verfassen dieses Berichtes nun wieder zu seinem Recht kommt. Es heisst «Meine kleine Stadt», wurde verfasst von Frau Dr. Barbara Jordan und basiert auf einer Serie kleiner Geschichten, die 1984 im städtischen Informationsblatt «Rotenburg aktuell» erschienen sind. Im Einbandtext lesen wir:
Erinnern Sie sich noch, in 1984 schrieb ich »Hallo, hier spricht Julia!«
So hieß eine Serie kleiner Geschichten über Geschehnisse in Rotenburg. Kleine Schmunzeleien, liebevolle Seitenhiebe auf aktuelle Ereignisse, gesehen mit den Augen eines Kindes, eben Julias Augen. Und es begann so: »Wir Kinder melden uns zu Wort – sind Sie erstaunt? Aber – was in Rotenburg an der Fulda so geschieht – wer könnte das besser erzählen als Kinder? Natürlich erleben wir unsere Stadt aus der Perspektive eines Dreikäsehochs – aber der erlebt manches sogar intensiver als ein Erwachsener. Wie wär’s – kommen Sie doch mit!«
Natürlich habe ich als Erwachsene diese Geschichten geschrieben. Und manchmal Seitenhiebe verteilt, die ein Kind nicht verteilen könnte. Aber die meisten dieser Geschichten basieren auf dem Ideenreichtum meiner Tochter, die, wie alle Kinder das zu tun pflegen, zu allem und jedem ihre Fragen stellt und damit manchmal bei mir »Erwachsenem« Verwunderung hervorruft.
Um nicht in der Verwunderung steckenzubleiben, habe ich die Dinge, die ein Kinderleben in unserer Stadt so mit sich bringt, einfach aufgeschrieben.
Und so ist ein heiteres, sehr genaues und durch seine Bilder sehr anschauliches Büchlein über die Stadt Rotenburg an der Fulda entstanden, das mit seiner optimistischen Betrachtungsweise des Lebens den Leser hoffentlich anstecken wird!
Die Fachwerkstadt im Grünen
Rotenburg an der Fulda nennt sich «Fachwerkstadt im Grünen», was völlig zutrifft. Grün ist die Umgebung in der Tat – das Städtchen liegt im relativ schmalen Fuldatal, beidseits von bewaldeten Mittelgebirgen umgeben, weshalb dieser Teil Hessens auch als Waldhessen bezeichnet wird. Und Fachwerkbauten gibt es in grosser Zahl in der Altstadt zu bewundern. Wenn man vom Bahnhof durch die so genannte Neustadt zur Fulda spaziert, blickt man gegenüber auf eine geschlossene Häuserzeile, die in dieser Technik erbaut ist. Für die damit nicht Vertrauten, nachstehend eine Definition mit allerlei in diesem Zusammenhang verwendeten Fachbegriffen; entnommen aus dem «Merian: Weserbergland, Nr. 4 / XXIII» vom April 1970:
Fachwerk: Ein Wandgefüge aus senkrecht stehenden Kanthölzern, den Ständern, die auf der waagerechten Schwelle aufsitzen und oben vom ebenfalls waagerechten Rähm gebunden werden. In die so gefügten Rechtecke sind in der Waagerechten Riegel, in der Schräge Streben eingefügt. Mit der Zeit verschönern dann die Bildschnitzer, die Schottilier (Tischler), Maler und selbst die Maurer immer mehr die Arbeit des Zimmermanns: Die Fächer wurden mit Ziegeln in vielerlei Mustern ausgemauert; Schnitzereien, Bemalungen, Inschriften bereichern außerdem die Geometrie der Fassaden.
Das praktische Anschauungsbeispiel dieser Theorie findet sich im Altstadtkern, wo die Gassen und Gässchen zahlreich sind, die beidseits durch Fachwerkhäuser gesäumt werden. Was geschieht eigentlich, wenn sich der Zustand solcher Gebäude(teile) verschlechtert, und sie einzustürzen drohen? Julia verrät es uns und vergleicht es mit eigenen Erfahrungen beim Zahnarzt:
So hat der Kariesteufel die Altstadtstraße heimgesucht und ein Haus in der Fuldaufer-Reihe befallen. Was tun?
Klar – der »Häuser-Zahnarzt« muß ran! Und da die Häuser dort keinen tiefen Keller haben, braucht man noch nicht einmal den »Zahn« zu ziehen, sondern einfach abbrechen und wieder auffüllen. Und so geschieht es. Mitten in der Fachwerk-Straße entsteht über Nacht ein Loch. Rechts und links wird abgestützt, und dann macht sich ein Trupp Maurer und ein riesiger Bagger an die Aufbauarbeit. Man kann vom rechten Fuldaufer aus sehen, wie die »Zahnlücke« zusehends kleiner wird, neues Fachwerk wächst, Dachbalken gesetzt werden – und bald ein »bleibender Zahn« – also schönes Fachwerkhaus entstanden ist.
Allerdings sollte man das Fachwerk rechts und links nicht regulieren wollen wie unsere Zähne – das wäre falsch! Soll doch das manchmal etwas wellige Fachwerk in seiner eigentümlichen Art erhalten bleiben.
Dieses «wellige Fachwerk» lässt sich gut erkennen, wenn man seinen Blick einer der Häuserzeilen entlang schweifen lässt. Und auch die fehlenden Keller sind offensichtlich, wenn man bedenkt, wie hoch das Wasser manchmal steigen kann. Im April 1998 ist das nicht der Fall und so lässt sich problemlos auch ausserhalb der Altstadt am Fuldaufer entlang spazieren. Dass es auch völlig anders aussehen kann, zeigt das Bild im angefügten Zeitungsausschnitt mit der Alten Fuldabrücke beim Hochwasser im Oktober desselben Jahres.
Zum Alten Turm und über die Bedeutung von Heimat
Zur einzigen «richtigen» Wanderung starten wir am Donnerstag bei weiterhin trübem Himmel. Die Route entspricht ungefähr dem ersten Teil der R6 auf der Wanderkarte und führt vom Bahnhof bergauf, vorbei am «Sonnenhang» zum HKZ, dem Herz- und Kreislaufzentrum, dessen auffällige Bauten auf dem Hügel über der Stadt thronen. Direkt daneben befindet sich das Gelände des 4-Sterne Hotels Rodenberg, damals zur Kette MEIROTELS gehörend und gemäss eigener Werbung «eines der schönsten Hotels Deutschlands». Natürlich hat Julia auch dazu etwas zu sagen:
Nach vielen Baujahren ist oben auf dem erwähnten Berg eine Herzchirurgie entstanden, weitere Vor- und Nachsorgekliniken und das wunderschöne Hotel Rodenberg. Architekt Heinz Meise ist der Mann, der auf diesem Hügel residiert und die größten Impulse für die Stadt Rotenburg gezündet und verwirklicht hat. Julia würde dazu gesagt haben: »Rotenburg, Du hast großes Glück! Du hast nämlich ’ne Meise!«
Kommen wir nun zu einem etwas ernsterem Thema, und daran erinnert uns das Mahnmal «Weißes Kreuz» (in der Wanderkarte «Flüchtlingskreuz»), direkt hinter besagtem Hotel am Waldrand gelegen. Es wurde zum Gedenken an die Heimatvertriebenen im Osten, also beispielsweise an die Deutschen aus Jugoslawien, Russland, Ungarn sowie den früheren deutschen Ostgebieten errichtet. 1998 war dies für mich noch ein weit gehend fremdes Themengebiet, heute – ein Vierteljahrhundert später – ist es mir längst sehr vertraut und wichtig geworden, weshalb ich mir erlaube, es kurz etwas zu vertiefen: Was es mit dem Begriff «Heimat» auf sich hat, ist gerade im vergangenen Jahr 2023, anlässlich der Heimattage der Banater Deutschen in der Europäischen Kulturhauptstadt Temeswar ausgiebig erörtert worden, beispielsweise durch den Historiker Thomas Șindilariu, Unterstaatssekretär im Departement für Interethnische Beziehungen im Generalsekretariat der Regierung Rumäniens. Aus dessen Grusswort zitiere ich nachstehend einige Punkte, da sie bestens zu diesem Ort passen. Șindilariu weist darauf hin, dass «Heimat ein sehr deutscher Begriff» sei, der sich «unmöglich» übersetzen lässt. «Heimat ist aber auch im Deutschen schon lange kein einfacher Begriff mehr, dafür hat die Geschichte des 20. Jahrhunderts vor allem mit ihren Abgründen gesorgt.» Und zu dem beim «Weißen Kreuz» verwendeten Begriff der «Heimatvertriebenen» meint er: «Heimatverlust, Heimatvertreibung, Vertreibung in der Heimat sind einige der berechtigten Folgebegriffe, die das Elend dieser Jahrzehnte [2. Weltkrieg und später] beschreiben und ihre Existenz als Begriffe mehr als rechtfertigen – das soll nie verschwiegen werden.» Er sieht aber auch, welche Chance dieser schwierige Begriff haben kann, indem er sein Referat mit der Erkenntnis beendet: «Heimat da zu schaffen […] und es da zu sehen, wo das zugehörige Kulturerbe uns ruft und die es tragenden Menschen, gleich welcher konfessionellen oder ethnischen Angehörigkeit zusammenkommen, indem sie anpacken, ist eine simple und zeitgemässe Antwort auf die offensichtlich nicht enden wollenden Umbrüche aller Art in unserer globalisierten Gegenwart.» Oder auf das einfache Motto reduziert: «Miteinander schafft Heimat».
Von der Gedenkstätte steigen wir weiter den Wald hinauf und erreichen bald das Katzenkopfhäuschen (in der Wanderkarte als «Pavillon» bezeichnet), welches einen ausgezeichneten Ausblick auf die Stadt im engen Fuldatal bietet, und weiter nordwärts steigend, den 418 m hohen Gipfel des Alten Turms. Als (damals schon) Fan von Enid Blyton und ihren Fünf Freunden fand ich diesen Namen sehr faszinierend, erinnert er doch an den Band, der in der deutschen Übersetzung «Fünf Freunde im alten Turm» heisst. Von einem Turm oder einem geheimnisvollen Gebäude ist hier allerdings nichts zu sehen, lediglich einige Mauerreste weisen darauf hin, dass sich an dieser Stelle einst eine Burg befunden hat, die Burg Rodenberg. Gemäss Wikipedia soll sich davon sogar der Name der Stadt ableiten. Wie sich z.B. bei den auf Google Maps hinterlegten Bildern erkennen lässt, stehen dort heute Informationstafeln, die 1998 vermutlich noch nicht vorhanden waren, jedenfalls kann ich mich daran nicht erinnern.
Auf dem Alten Turm ist die Krete erreicht, die sich nordwärts über einige weitere Erhebungen bis zum 549 m hohen Alheimer hinzieht, dem höchsten Punkt der Gemeinde Rotenburg. Stölzinger Gebirge nennt sich diese Gegend und wäre sicherlich ein reizvolles Wandergebiet. Angesichts des garstigen Wetters macht der Weiterweg jedoch keinen Sinn, weshalb wir gemütlich wieder in die Stadt hinunter spazieren. Auch Julia vermisste den Frühling und befürchtete schon, dass der liebe Petrus krank geworden sei:
Weißt Du, Petrus, wir warten nun schon so lange auf den Frühling, auf ein bißchen Wärme, ein bißchen Sonnenschein. Frühlingsanfang ist doch längst vorbei. Und die ersten Schneeglöckchen haben schon wieder ihre Köpfe eingezogen. Mit Frühling wird das wohl nix.
Fazit
Aber Städte erkunden kann man auch, wenn die Sonne nicht scheint, und daher sind dem Bericht noch einige Aufnahmen aus Melsungen angefügt, einer Stadt, die sich knapp 30 km weiter fulda-abwärts von Rotenburg befindet und die ich ebenfalls besuchen durfte. Wie Rotenburg ist auch Melsungen eine äusserst sehenswerte kleine Stadt, deren Kern fast ausschliesslich aus Fachwerkbauten besteht.
So endet dieser Kurzbesuch trotz trübem Wetter mit vielen neuen Eindrücken, und Einblicken in eine wenig bekannte Gegend, die es verdienen würde, wieder einmal besucht zu werden. Oder in den Worten von Julia:
Rotenburg ist kein Venedig. Aber ich freu’ mich schon auf die Fachwerkstadt an der Fulda.
Literatur und weitere verwendete Grundlagen
In diesem Fall sind die verfügbaren Grundlagen besonders dürftig, aber angesichts der Tatsache, dass das Fachwerkstädtchen Rotenburg an der Fulda bislang nur in einem Bericht ganz kurz erwähnt wird (und die nähere Umgebung überhaupt nicht), scheint mir ein Tourenbericht dennoch gerechtfertigt. Er basiert hauptsächlich auf den noch vorhandenen Erinnerungen und den damals entstandenen Bildern, die ich anhand der Wanderkarte und Google Maps so gut wie möglich verortet habe. Dass es sich lohnt, seine Fotos genau zu dokumentieren und die unternommenen Reisen und Ausflüge zu protokollieren, habe ich zu jener Zeit noch nicht realisiert. Da die (einzige) Wanderung nur kurz war, wird der Bericht ergänzt mit allgemeinen Informationen, zum Thema passenden weiteren Details, sowie Auszügen aus einem Buch, von dem gleich die Rede sein wird.
Einleitung
Anfang April 1998 war ich während 4 Tagen zu Besuch in Rotenburg an der Fulda. Die Pension «Sonnenhang» hatte ich mir im Vorfeld anhand eines zugeschickten Unterkunftsverzeichnisses ausgewählt. Computer spielten damals in meinem Leben noch kaum eine Rolle und vom Internet hatte ich bloss hin und wieder mal was gehört. Angesichts dessen, dass sich heutzutage mittels Bildern und Erfahrungsmeldungen anderer bereits zuhause am PC ein umfassendes Bild der verfügbaren Unterkünfte machen lässt, war das damals mehr oder weniger ein Schuss ins Blaue. Ich hatte aber gut gewählt: Der «Sonnenhang» war eine sehr kleine Pension, in der ich der einzige Gast war und von den Inhabern – einem älteren Ehepaar – bestens umsorgt wurde. Auch das Zimmer war sehr gemütlich eingerichtet. Wie früher üblich war es mit einem Telefon mit Wählscheibe ausgestattet und zur Unterhaltung diente ein Kofferradio; gut geeignet um die regionale UKW-Szene zu erkunden. Wollte ich fernsehen, konnte ich das jederzeit gemeinsam mit den Inhabern tun, was an den Abenden gelegentlich der Fall war. Der Name des Hauses war passend; die sehr ruhige Lage im Abhang nördlich der Stadt, ca. 50 m über dem Talgrund wäre sicherlich sehr sonnig gewesen – wenn sie denn geschienen hätte! Leider war der Himmel während des gesamten Aufenthalts bedeckt und teilweise regnete es auch. Dennoch durfte ich mit meinen lokalen «Reiseführern», mit denen ich mich jeweils am Bahnhof getroffen habe, einige interessante Ausflüge unternehmen, bei denen ich mit meiner 1991 geschenkt erhaltenen ersten Kompaktkamera Fuji DL180 Tele auch ein paar Bilder gemacht habe, die hier als Scans eingefügt sind. Zudem sind auch noch einige weitere Scans von Postkarten und anderen Dokumenten jener Zeit enthalten. Dazu gehört das Buch, welches ich als Andenken geschenkt erhalten habe, und welches zum Verfassen dieses Berichtes nun wieder zu seinem Recht kommt. Es heisst «Meine kleine Stadt», wurde verfasst von Frau Dr. Barbara Jordan und basiert auf einer Serie kleiner Geschichten, die 1984 im städtischen Informationsblatt «Rotenburg aktuell» erschienen sind. Im Einbandtext lesen wir:
Erinnern Sie sich noch, in 1984 schrieb ich »Hallo, hier spricht Julia!«
So hieß eine Serie kleiner Geschichten über Geschehnisse in Rotenburg. Kleine Schmunzeleien, liebevolle Seitenhiebe auf aktuelle Ereignisse, gesehen mit den Augen eines Kindes, eben Julias Augen. Und es begann so: »Wir Kinder melden uns zu Wort – sind Sie erstaunt? Aber – was in Rotenburg an der Fulda so geschieht – wer könnte das besser erzählen als Kinder? Natürlich erleben wir unsere Stadt aus der Perspektive eines Dreikäsehochs – aber der erlebt manches sogar intensiver als ein Erwachsener. Wie wär’s – kommen Sie doch mit!«
Natürlich habe ich als Erwachsene diese Geschichten geschrieben. Und manchmal Seitenhiebe verteilt, die ein Kind nicht verteilen könnte. Aber die meisten dieser Geschichten basieren auf dem Ideenreichtum meiner Tochter, die, wie alle Kinder das zu tun pflegen, zu allem und jedem ihre Fragen stellt und damit manchmal bei mir »Erwachsenem« Verwunderung hervorruft.
Um nicht in der Verwunderung steckenzubleiben, habe ich die Dinge, die ein Kinderleben in unserer Stadt so mit sich bringt, einfach aufgeschrieben.
Und so ist ein heiteres, sehr genaues und durch seine Bilder sehr anschauliches Büchlein über die Stadt Rotenburg an der Fulda entstanden, das mit seiner optimistischen Betrachtungsweise des Lebens den Leser hoffentlich anstecken wird!
Die Fachwerkstadt im Grünen
Rotenburg an der Fulda nennt sich «Fachwerkstadt im Grünen», was völlig zutrifft. Grün ist die Umgebung in der Tat – das Städtchen liegt im relativ schmalen Fuldatal, beidseits von bewaldeten Mittelgebirgen umgeben, weshalb dieser Teil Hessens auch als Waldhessen bezeichnet wird. Und Fachwerkbauten gibt es in grosser Zahl in der Altstadt zu bewundern. Wenn man vom Bahnhof durch die so genannte Neustadt zur Fulda spaziert, blickt man gegenüber auf eine geschlossene Häuserzeile, die in dieser Technik erbaut ist. Für die damit nicht Vertrauten, nachstehend eine Definition mit allerlei in diesem Zusammenhang verwendeten Fachbegriffen; entnommen aus dem «Merian: Weserbergland, Nr. 4 / XXIII» vom April 1970:
Fachwerk: Ein Wandgefüge aus senkrecht stehenden Kanthölzern, den Ständern, die auf der waagerechten Schwelle aufsitzen und oben vom ebenfalls waagerechten Rähm gebunden werden. In die so gefügten Rechtecke sind in der Waagerechten Riegel, in der Schräge Streben eingefügt. Mit der Zeit verschönern dann die Bildschnitzer, die Schottilier (Tischler), Maler und selbst die Maurer immer mehr die Arbeit des Zimmermanns: Die Fächer wurden mit Ziegeln in vielerlei Mustern ausgemauert; Schnitzereien, Bemalungen, Inschriften bereichern außerdem die Geometrie der Fassaden.
Das praktische Anschauungsbeispiel dieser Theorie findet sich im Altstadtkern, wo die Gassen und Gässchen zahlreich sind, die beidseits durch Fachwerkhäuser gesäumt werden. Was geschieht eigentlich, wenn sich der Zustand solcher Gebäude(teile) verschlechtert, und sie einzustürzen drohen? Julia verrät es uns und vergleicht es mit eigenen Erfahrungen beim Zahnarzt:
So hat der Kariesteufel die Altstadtstraße heimgesucht und ein Haus in der Fuldaufer-Reihe befallen. Was tun?
Klar – der »Häuser-Zahnarzt« muß ran! Und da die Häuser dort keinen tiefen Keller haben, braucht man noch nicht einmal den »Zahn« zu ziehen, sondern einfach abbrechen und wieder auffüllen. Und so geschieht es. Mitten in der Fachwerk-Straße entsteht über Nacht ein Loch. Rechts und links wird abgestützt, und dann macht sich ein Trupp Maurer und ein riesiger Bagger an die Aufbauarbeit. Man kann vom rechten Fuldaufer aus sehen, wie die »Zahnlücke« zusehends kleiner wird, neues Fachwerk wächst, Dachbalken gesetzt werden – und bald ein »bleibender Zahn« – also schönes Fachwerkhaus entstanden ist.
Allerdings sollte man das Fachwerk rechts und links nicht regulieren wollen wie unsere Zähne – das wäre falsch! Soll doch das manchmal etwas wellige Fachwerk in seiner eigentümlichen Art erhalten bleiben.
Dieses «wellige Fachwerk» lässt sich gut erkennen, wenn man seinen Blick einer der Häuserzeilen entlang schweifen lässt. Und auch die fehlenden Keller sind offensichtlich, wenn man bedenkt, wie hoch das Wasser manchmal steigen kann. Im April 1998 ist das nicht der Fall und so lässt sich problemlos auch ausserhalb der Altstadt am Fuldaufer entlang spazieren. Dass es auch völlig anders aussehen kann, zeigt das Bild im angefügten Zeitungsausschnitt mit der Alten Fuldabrücke beim Hochwasser im Oktober desselben Jahres.
Zum Alten Turm und über die Bedeutung von Heimat
Zur einzigen «richtigen» Wanderung starten wir am Donnerstag bei weiterhin trübem Himmel. Die Route entspricht ungefähr dem ersten Teil der R6 auf der Wanderkarte und führt vom Bahnhof bergauf, vorbei am «Sonnenhang» zum HKZ, dem Herz- und Kreislaufzentrum, dessen auffällige Bauten auf dem Hügel über der Stadt thronen. Direkt daneben befindet sich das Gelände des 4-Sterne Hotels Rodenberg, damals zur Kette MEIROTELS gehörend und gemäss eigener Werbung «eines der schönsten Hotels Deutschlands». Natürlich hat Julia auch dazu etwas zu sagen:
Nach vielen Baujahren ist oben auf dem erwähnten Berg eine Herzchirurgie entstanden, weitere Vor- und Nachsorgekliniken und das wunderschöne Hotel Rodenberg. Architekt Heinz Meise ist der Mann, der auf diesem Hügel residiert und die größten Impulse für die Stadt Rotenburg gezündet und verwirklicht hat. Julia würde dazu gesagt haben: »Rotenburg, Du hast großes Glück! Du hast nämlich ’ne Meise!«
Kommen wir nun zu einem etwas ernsterem Thema, und daran erinnert uns das Mahnmal «Weißes Kreuz» (in der Wanderkarte «Flüchtlingskreuz»), direkt hinter besagtem Hotel am Waldrand gelegen. Es wurde zum Gedenken an die Heimatvertriebenen im Osten, also beispielsweise an die Deutschen aus Jugoslawien, Russland, Ungarn sowie den früheren deutschen Ostgebieten errichtet. 1998 war dies für mich noch ein weit gehend fremdes Themengebiet, heute – ein Vierteljahrhundert später – ist es mir längst sehr vertraut und wichtig geworden, weshalb ich mir erlaube, es kurz etwas zu vertiefen: Was es mit dem Begriff «Heimat» auf sich hat, ist gerade im vergangenen Jahr 2023, anlässlich der Heimattage der Banater Deutschen in der Europäischen Kulturhauptstadt Temeswar ausgiebig erörtert worden, beispielsweise durch den Historiker Thomas Șindilariu, Unterstaatssekretär im Departement für Interethnische Beziehungen im Generalsekretariat der Regierung Rumäniens. Aus dessen Grusswort zitiere ich nachstehend einige Punkte, da sie bestens zu diesem Ort passen. Șindilariu weist darauf hin, dass «Heimat ein sehr deutscher Begriff» sei, der sich «unmöglich» übersetzen lässt. «Heimat ist aber auch im Deutschen schon lange kein einfacher Begriff mehr, dafür hat die Geschichte des 20. Jahrhunderts vor allem mit ihren Abgründen gesorgt.» Und zu dem beim «Weißen Kreuz» verwendeten Begriff der «Heimatvertriebenen» meint er: «Heimatverlust, Heimatvertreibung, Vertreibung in der Heimat sind einige der berechtigten Folgebegriffe, die das Elend dieser Jahrzehnte [2. Weltkrieg und später] beschreiben und ihre Existenz als Begriffe mehr als rechtfertigen – das soll nie verschwiegen werden.» Er sieht aber auch, welche Chance dieser schwierige Begriff haben kann, indem er sein Referat mit der Erkenntnis beendet: «Heimat da zu schaffen […] und es da zu sehen, wo das zugehörige Kulturerbe uns ruft und die es tragenden Menschen, gleich welcher konfessionellen oder ethnischen Angehörigkeit zusammenkommen, indem sie anpacken, ist eine simple und zeitgemässe Antwort auf die offensichtlich nicht enden wollenden Umbrüche aller Art in unserer globalisierten Gegenwart.» Oder auf das einfache Motto reduziert: «Miteinander schafft Heimat».
Von der Gedenkstätte steigen wir weiter den Wald hinauf und erreichen bald das Katzenkopfhäuschen (in der Wanderkarte als «Pavillon» bezeichnet), welches einen ausgezeichneten Ausblick auf die Stadt im engen Fuldatal bietet, und weiter nordwärts steigend, den 418 m hohen Gipfel des Alten Turms. Als (damals schon) Fan von Enid Blyton und ihren Fünf Freunden fand ich diesen Namen sehr faszinierend, erinnert er doch an den Band, der in der deutschen Übersetzung «Fünf Freunde im alten Turm» heisst. Von einem Turm oder einem geheimnisvollen Gebäude ist hier allerdings nichts zu sehen, lediglich einige Mauerreste weisen darauf hin, dass sich an dieser Stelle einst eine Burg befunden hat, die Burg Rodenberg. Gemäss Wikipedia soll sich davon sogar der Name der Stadt ableiten. Wie sich z.B. bei den auf Google Maps hinterlegten Bildern erkennen lässt, stehen dort heute Informationstafeln, die 1998 vermutlich noch nicht vorhanden waren, jedenfalls kann ich mich daran nicht erinnern.
Auf dem Alten Turm ist die Krete erreicht, die sich nordwärts über einige weitere Erhebungen bis zum 549 m hohen Alheimer hinzieht, dem höchsten Punkt der Gemeinde Rotenburg. Stölzinger Gebirge nennt sich diese Gegend und wäre sicherlich ein reizvolles Wandergebiet. Angesichts des garstigen Wetters macht der Weiterweg jedoch keinen Sinn, weshalb wir gemütlich wieder in die Stadt hinunter spazieren. Auch Julia vermisste den Frühling und befürchtete schon, dass der liebe Petrus krank geworden sei:
Weißt Du, Petrus, wir warten nun schon so lange auf den Frühling, auf ein bißchen Wärme, ein bißchen Sonnenschein. Frühlingsanfang ist doch längst vorbei. Und die ersten Schneeglöckchen haben schon wieder ihre Köpfe eingezogen. Mit Frühling wird das wohl nix.
Fazit
Aber Städte erkunden kann man auch, wenn die Sonne nicht scheint, und daher sind dem Bericht noch einige Aufnahmen aus Melsungen angefügt, einer Stadt, die sich knapp 30 km weiter fulda-abwärts von Rotenburg befindet und die ich ebenfalls besuchen durfte. Wie Rotenburg ist auch Melsungen eine äusserst sehenswerte kleine Stadt, deren Kern fast ausschliesslich aus Fachwerkbauten besteht.
So endet dieser Kurzbesuch trotz trübem Wetter mit vielen neuen Eindrücken, und Einblicken in eine wenig bekannte Gegend, die es verdienen würde, wieder einmal besucht zu werden. Oder in den Worten von Julia:
Rotenburg ist kein Venedig. Aber ich freu’ mich schon auf die Fachwerkstadt an der Fulda.
Literatur und weitere verwendete Grundlagen
- Jordan, Barbara. Meine Kleine Stadt …mit Julia durch Rotenburg an der Fulda. Verlag Friedrich Gajewski, Ringgau-Datterode, 1994. ISBN 3-930342-04-9
- Wikipedia: Burgruine Rodenberg: https://de.wikipedia.org/wiki/Burgruine_Rodenberg
- Mahnmal «Weißes Kreuz»: https://erinnerungsorte.bdv-hessen.dilewe.de/inhalt/218-36199-mahnmal--wei%C3%9Fes-kreuz-/index.html
- Gesamter Festakt der Heimattage der Banater Deutschen in der Europäischen Kulturhauptstadt Temeswar vom 3. Juni 2023: https://www.youtube.com/watch?v=ADYt8pHiDds
Tourengänger:
ABoehlen

Minimap
0Km
Klicke um zu zeichnen. Klicke auf den letzten Punkt um das Zeichnen zu beenden
Kommentare