Ohne rumzuzicken: Kozí dráha


Publiziert von lainari , 4. August 2015 um 21:36.

Region: Welt » Tschechien » České Švýcarsko
Tour Datum: 2 August 2015
Wandern Schwierigkeit: T1 - Wandern
Wegpunkte:
Geo-Tags: CZ 
Zeitbedarf: 0:45
Aufstieg: 105 m
Abstieg: 105 m
Strecke:2,25 km
Zufahrt zum Ausgangspunkt:Auto bis Telnice und Sonderzug nach Děčín oder Zug direkt nach Děčín, Update 2022: von April bis Oktober wieder Wochenendverkehr zwischen Děčín und Telnice (T11)
Kartennummer:1:50.000, KČT Nr. 12 Česke a Saské Švýcarsko

Über die Ziegenbahn zur Schäferwand
 
Reisen
„Riding the love train“ ♫♪♫…- damit mong das Feld der Musikumrahmung nicht gänzlich allein überlassen bleibt.
Um Missverständnisse über die Zustände an Bord meines heutigen Transportmittels auszuschließen, setze ich die abgewandelten Worte mal in eine neue Reihenfolge: „Lovin‘ the train ride“.
Nach einem kräftezehrenden Arbeitseinsatz am Sonnabend und angekündigten erneut steigenden Temperaturen reicht meine Energie nicht für eine vollwertige Wandertour. Aber ein schöner Ausflug mit einem Erkundungsgang sollte drin liegen. So überquere ich in kurzer Autofahrt den Erzgebirgskamm und fahre ins tschechische Telnice (Tellnitz).
 
Der Ort liegt an der 1871 eröffneten Duchcovsko-podmokelská dráha, auch Dux-Bodenbacher Eisenbahn (DBE). Sie führte einst auf etwa 80 km Länge entlang dem südlichen Erzgebirgsfuß vom heutigen Děčín bis nach Chomutov. Umverlegungen wegen des Braunkohleabbaus und Verkehrsrückgang setzten der Strecke zu. 2007 fuhr der letzte planmäßige Reisezug der ČD über die trať 132. Die umverlegte Strecke ist noch komplett vorhanden, wird aber heute nur auf kurzen Teilstrecken regulär befahren. Der etwa 22 km lange Abschnitt von Telnice nach Děčín ist an Ferienwochenenden und ausgewählten Terminen verkehrenden Sonderzügen vorbehalten. Als Besteller tritt der Magistrát města Děčín auf, das Weitere ist etwas kompliziert. Am heute eingesetzten Triebwagen, der der legendären ex ČSD-Reihe M 262.1/ex ČD 831 entstammt, steht in der Fahrzeugnummer AHD als Einsteller angeschrieben. Ein Aufkleber am Fahrzeug und die Fahrkarte weisen die Severočeské dráhy als Anbieter aus, die Gesamtverantwortung soll bei der Firma Rail system s.r.o. liegen, von der auch die Fahrpläne sind. Vermarktet wird das ganze unter dem Namen Kozí dráha“ (Ziegenbahn).
 
Dann wird es wieder einfach - pünktlich kommt das urige Gefährt am provisorischen Endpunkt der Strecke in Telnice an. Nach der Abfahrt wird der Fahrpreis kassiert, hin und zurück kosten 60 Kč, nach Tageskurs umgerechnet 2,22 € für 44 erlebnisreiche Bahnkilometer - einfach unschlagbar. In Deutschland würde dieser Umstand sofort einige jungdynamische BWLer auf den Plan rufen, die zu erklären versuchten, dass sich so etwas nie rechnen könne und damit sofort abgeschafft gehöre. Aber offenbar gibt es diese Leute in Tschechien nicht oder sie haben das funktionierende System Eisenbahn bereits von klein auf kennen und schätzen gelernt. Das Publikum des Zuges würde jedenfalls dafür sprechen, vor allem junge Familien oder Großeltern mit Enkeln bevölkern das Fahrzeug. Fast jede Sitzreihe ist mit Personen belegt, es ist jetzt nicht überfüllt aber die Nachfrage ist gut, kann man sagen. Es herrscht eine angenehm gelöste Stimmung, alles scheint so normal - man macht kleine Ausflüge, fährt zum Picknick oder zu Besuch und geht auf die Kinder ein, so wie ich es selbst von früher kenne. Könnte man nun in einen gleichartigen deutschen Museumszug blenden, gäbe es gestresste, dauertelefonierende Eltern mit renitentem, sich selbst überlassenem Nachwuchs oder das komplette Gegenteil, in Watte gepackte kleine Prinzen und Prinzessinnen zu sehen. Ein Gesprächsversuch würde von einigen gar als Angriff empfunden. Nicht so hier, trotz einiger Sprachschwierigkeiten ist man mittendrin, statt nur dabei! Einen Teil trägt auch die „Jugendbrigade“ dazu bei, die den Zug heute bewirtschaftet. Ein langer schlanker Triebfahrzeugführer und ein etwas untersetzter Schaffner bilden ein sympathisches Duo. Ein Bedarfshalt wird beinahe vergessen, da sich das mitfahrwillige Publikum im Schatten des alten Bahnhofsgebäudes aufgehalten hat. Kurzerhand wird nach der verspäteten Bremsung einfach die 50 m zurückgesetzt. Was auf einer regulären Bahnstrecke eine Rüge des Fahrdienstleiters eingebracht hätte, hat hier im Status einer vlečka (Anschlussbahn) keine Auswirkungen. Und weiter geht die Reise mit urtümlichem Eisenbahnfeeling - kein hermetisch abgeschotteter Innenraum mit spartanischer Möblierung, keine defekte Klimaanlage, keine verstopfte Vakuumtoilette, kein defekter Schiebetritt, keine nervig piepsenden Türen - so kann Bahnfahren auch sein…
Ich stehe am offenen Fenster und genieße den sommerlichen Fahrtwind. An Bahnübergängen kommt das kräftige Drucklufthorn ausgiebig zum Einsatz, müssen doch die Benutzer davon überzeugt werden, dass manchmal doch noch ein Zug fährt. Immer abwärts fahrend, kommt der Zug ins Stadtgebiet von Děčín. Hier fährt er zunächst in den Güterbahnhof Děčín hl.n.-západ ein und macht Kopf. Das Signal führ die Weiterfahrt springt sofort auf einen Fahrtbegriff, aber wir warten noch. Natürlich, auch wenn es ein Güterbahnhof ist, braucht es einen Abfahrtsauftrag vom Bahnhofsvorstand, der über einen abgestellten Güterzug extra herübergeklettert kommt. Nun dürfen wir die letzten Meter vorbei am Bahnbetriebswerk bis in den Hauptbahnhof zurücklegen.
 
Erkundungsgang
Ich verlasse den Bahnhof Děčín und halte mich davor nach rechts. Vor dem Museum wechsele ich die Straßenseite, halte aber die Richtung bei. Zwischen Bahndamm und dem letzten Haus gehen zunächst einige Treppen, später dann ein Zickzackweg aufwärts. Obwohl es bewölkt ist, wird der kurze Anstieg zur schweißtreibenden Angelegenheit. Langsamen Schrittes erreiche ich den Aussichtspunkt Pastýřská stěna (Schäferwand). Relativ neu ist der Klettersteig Via ferrata Pastýřská stěna. Über den Einstieg am Fuß des Felsens kann die Wand auf fünf Routen (insges. 450 hm) durchstiegen werden. Dabei sind zwei verschiedene Ausstiege möglich. Kritiker sprechen hinter vorgehaltener Hand von einem zu engen Drahtverhau. Als Nichtnutzer kann und mag ich dies nicht beurteilen, sondern nur auf die Möglichkeit hinweisen. Kurzzeitig habe ich den Gedanken, vorbei am Restaurant dem Höhenzug auf dem rot markierten Wanderweg zu folgen und in Děčín-Oldřichov (Ullgersdorf) wieder in den Zug zu steigen. Da ich mir nicht sicher bin, dass auch tatsächlich gehalten wird (geplant ist es) und mir der Zeitansatz für den Weg nicht geläufig ist, lasse ich dies sein. Zunächst relativ eben gehe ich daher wieder in Richtung Stadt. Dann laufe ich über Anliegerstraßen hinunter und zum Bahnhof zurück. Dort habe ich doch noch etwas Zeit mich umzuschauen.
 
Rückfahrt
Im Fahrzeug Platz genommen, entdecke ich einige von der Hinfahrt bekannte Gesichter wieder. Erneut folgt das Kopfmachen im Güterbahnhof. Nach einem letzten Halt im Stadtgebiet von Děčín stürmen wir bergwärts. Ich lasse mir den Wind um die Nase wehen und schaue aus dem Fenster, der Triebfahrzeugführer auch. Er winkt mich nach vorn. Nach einer gestenreichen Rückversicherung mache ich mich auf den Weg durch das kleine Gepäckabteil in den Führerraum. Hier ist auch der Motor untergebracht. Unter einer Haube längs im Raum stehend, ist er mit einer von alten Frontlenker-Lastwagen bekannten Lederabdeckung umhüllt. Alles ist etwas beengt und es ist erstaunlich leise so direkt an der Maschine. Der Triebwagen mit dem Baujahr 1958 hat eine dieselelektrische Traktion und fährt daher butterweich - kein Vergleich zu den modernen Ruckelkisten mit hakelnden Automatikgetrieben und jaulenden Bremsretardern. Hier ist alles mechanisch, pneumatisch und elektrisch, daher mit einfachsten Mitteln reparabel und nahezu unkaputtbar. Die Zahl der Bedienelemente ist sehr überschaubar. Wir tauschen uns so gut es eben geht darüber aus. Mit dem Hinweis auf den großzügigen Fahrplan („Pause“) bekomme ich die Order, im nächsten Bahnhof eine Außenaufnahme anzufertigen. In den Augen der anderen Fahrgäste blockiere ich nun scheinbar die Weiterfahrt, aber alle sind entspannt und niemand beschwert sich. Nun bekommt noch eine junge Frau mit zwei Kindern Gelegenheit zum Besuch des Führerstandes. Ich bedanke mich beim freundlichen Personal und ziehe mich auf meinen Sitzplatz zurück. Kurz darauf geht eine herrliche Tour zu Ende, mit der Empfehlung: Nachmachen solange es dies noch so gibt!
Danke Kozí dráha, na shledanou!

Tourengänger: lainari


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Kommentare (4)


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mong hat gesagt:
Gesendet am 5. August 2015 um 22:17
>damit mong das Feld der Musikumrahmung nicht gänzlich allein überlassen bleibt.

Danke. Da bin ich aber froh. Das Monopol über die Musikumrahmung war eine einsame Sache. Ab sofort fühle ich mich nicht mehr so allein.

♫♬♫

lainari hat gesagt: RE:
Gesendet am 6. August 2015 um 16:54
Gern doch! Man hilft, wo man kann...;-)


Und so zu zweit, man könnte glatt ein (schräges) Duo gründen...

mong hat gesagt:
Gesendet am 5. August 2015 um 23:31
>...daher mit einfachsten Mitteln reparabel und nahezu unkaputtbar.

"unkaputtbar"

Danke für das neue Wort. Ich habe es bisher nicht gekannt. Sehr interessant :-)))
⬇︎☟⬇︎
/de.wiktionary.org/wiki/unkaputtbar

lainari hat gesagt: RE:
Gesendet am 6. August 2015 um 16:59
s. o. ;-)

Ich weiß gar nicht, woher ich das Wort kenne -
vielleicht werbegeschädigt?
Wobei - bin gar kein Konsument der Kapitalistenbrause...


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