Versuch an der magischen Siebentausend.


Publiziert von bergmatze , 1. Februar 2015 um 19:27.

Region: Welt » Kirgisistan » Transalai-Kette » Pik Lenin
Tour Datum:25 Juli 2013
Hochtouren Schwierigkeit: ZS
Wegpunkte:
Geo-Tags: KS   TJ 

Schnupperkurs ins Höhenbergsteigen
 
 
oder „Ein Sommermärchen in Kirgistan“
 
Die oft beschworene Würde des Menschen ist bekanntlich unantastbar und das stimmt im Allgemeinen gesehen durchaus. Nicht jedoch beim Höhenbergsteigen. Ein paar launische Betrachtungen zum Thema konnte ich im Sommer 2013 am „Weißen Riesen“ Kirgistans machen, dem absoluten Traumziel Pik Lenin im Pamir.
 
Wer jetzt schon schmutzt- schmutzt später auch“ sprach ER.
ER- der Dieter. Dieter war mit Mitte Sechzig unser Gruppenältester, Bezwinger von Pik Kommunismus, Alpamayo und er hatte sogar den Cho Oyu bestiegen. Bei jedem halbwegs bekannten Marathon europaweit lief er sowieso Bestzeit in seiner Altersgruppe
Dieter ging nackt durch reißende Bergflüsse und hatte Unmengen von Knoblauch im Gepäck.
Dieter kannte jeden und wusste alles. Dieter war unser Gott, trank Unmengen an Kaffee und befand sich ständig in der Lagersauna, dazu ständig weibliche Bergsportler animierend.
Nun denn- diese weisen Worte bekamen all jene Lenin-Aspiranten unserer Expedition zu hören, welche maulend und etwas überheblich auf die akklimatisationsunterstützende Besteigung des knapp unter fünftausend Meter hohen Pik Petrovsky verzichten wollten. Ein beeindruckend schöner Firngrat, etwas Blockkletterei bei strahlend blauem Himmel war unser Lohn, ein Traumberg vor dem Herrn mit Sicht ins ganze Transalai- Tal. Er hatte leider nur einen Fehler- direkt vor der schier unglaublich hohen Nordflanke des nochmal fast 2300m höheren Pik Lenins verschwand er quasi in völliger Bedeutungslosigkeit.
Dieter prophezeite außerdem, wer auf den Petrovsky kommt, schafft auch den Lenin. Also gingen alle mit zum Gipfel, und zu bereuen gab es absolut nichts.
Von Dieter lernen hieß also siegen lernen, vor allem als es nun endlich ernstwurde.
Ernstwurde es am ersten Abend beim Besuch des kirgisischen Lagerarztes im vorgeschobenen Basecamp auf 4400m Höhe. Der wackere schnauzbärtige Mann sprach kein Englisch und ging tagsüber einer seriösen Arbeit nach, nämlich Steine zu klopfen und mit einer Spitzhacke das Camp zu verschönern. In der Jurte versammelt wurde nun bei jedem Blutdruck gemessen- mit einem Messgerät welches früher gut und gerne zum Messen von Reifendrücken bei Lastkraftwagen russischer Bauart zum Einsatz gekommen sein mag. Es wurde auch direkt  nach „anderen gesundheitlichen Problemen und Operationen“ gefragt.
Ich hatte Glück, der Wert war erstaunlich gut. Mascha, die junge und bildhübsche Lagerchefin (vorstellbar, das der Blutdruck deswegen auch in ungeahnte Höhen vordringen hätte können), übersetzte laut vor versammelter Mannschaft und so konnte jeder Interessierte die Krankengeschichte aller Anwesenden genau mithören. Ein Leipziger Alpinist hingegen hatte Pech, seine Messwerte waren wahrhaft hitverdächtig. Sein Fehler, er nahm die verordneten Tabletten des ehrenwerten Doktors-  und am Tage darauf hatten sich Wert und Befinden dermaßen verschlechtert, das er überstürzt und entnervt die Heimreise antrat.
Ernst wurde es auch nach dem vorgeschobenen Basecamp auf 4400m. Auf dem steilen Anstieg zum Lager 2 auf 5300m graupelte es, schneite es stark und wir konnten das riesige Labyrinth aus Gletscherspalten gerade noch so bezwingen, jene überspringend oder umgehend. Eine „erfahrene“, aber mit zu kurzen Beinen ausgestattete Bergsteigerin in meiner Seilschaft fiel schon im ersten Aufstieg dreimal in diverse Spalten und wurde entsprechend dreimal herausgezogen.
Sie fand Spalten überspringen dann nicht mehr so toll.
Nichts weiter aufregendes also. Nachts zuvor war eine riesige Lawine aus dem Nordhang des Pik Lenin circa 50 Meter neben der Aufstiegsspur niedergegangen und hatte durchaus für gewisse Aufregung gesorgt. Aber solange Neuschneelawinen sich so kameradschaftlich verhalten- nicht besorgniserregend, und unser Lager oben wurde  planmäßig errichtet.
Schnee schmelzen und Wasser kochen vorm Zelt ist anstrengend und langweilig. Wie froh waren wir als wir am Schneehang ein kleines Rinnsal aus dem Gletscher fließen sahen (entdeckt hatte es Dieter, natürlich!) und Wasser in schon flüssiger Form präsentiert bekamen! Ans Abkochen dachte außer Dieter keiner- ein kleiner, aber sehr wirkungsvoller Fehler wie man sehen wird. Mein Zeltpartner schaffte es nicht mehr ganz zum mit einer sehr niedrigen Schneemauer umgebenen Schneegrube, der „Toilette“ und durfte anschließend seine Vliesunterhose nebst Unterwäsche entsorgen. Ein anderer, wackerer Bergsteiger hingegen fand in höchster Not sein Klopapier nicht und riss verzweifelt die ersten 17 Seiten seines mitgebrachten Lesebuches heraus- er wird also nie mehr erfahren können wie der Trailrunner Kilian Jornet seine Kindheit verbrachte und zum Laufsport fand. Norweger berichteten tatsächlich etwas später von interessanten Buchseiten einzeln verstreut im Lager.
Immodium und Dieters Antibiotika (er war auch Arzt) sei Dank, war das Problem einige Tage später endlich behoben.
Mit dieser Toilette hatte ich auch meine Erfahrungen gemacht. Unaufmerksam brach ich beim Pinkeln seitlich stehend ein und fiel etwa anderthalb Meter in eben jene Schneegrube, da ich kurzerhand auf die Innenschuhe verzichtet hatte und nur in den Plaste-Außenschuhen dahin unterwegs geschlappt war. Ich landete höchst sanft auf gottlob tiefgefrorenen Exkrementen wirklich jeden Zustands und kam auch ohne Steigeisen wieder fast sauber oben an.
Es musste natürlich auch hier oben immens getrunken werden. Dieter hatte fürs nächtliche Erleichtern im Zelt eine Ente dabei, wir bewunderten ihn zunächst. Sein Problem war jetzt jedoch nur noch der tiefgefrorene Urin am Morgen, der partout nicht aus der Ente herauszubekommen war. Wie er dasseriös löste war jedoch nicht zu erfahren.
Der später einsetzende Schneesturm und ein halber Meter Neuschnee war jetzt eigentlich nicht mehr sonderlich schlimm.
Am Abend vor dem zweiten Ansturm ins Lager 2 gab es leckere gefüllte Fladenbrote mit Hackfleisch, Pilzen und ordentlich Zwiebeln. Es schmeckte unglaublich gut. Die ganze Nacht danach übergab ich dann ordnungsgemäß die Einzelteile jenes Abendbrotes wieder der kirgisischen Erde und war kein Mensch mehr, sondern ein Reiher. Dennoch schleppte ich mich wieder mit zum Lager 2, allerdings mehr tot als lebendig. Den nächsten Tag ging es lustig den „Killerhang“ zum Lager 3 auf 6100m hinauf und anschließend war ich seltsamerweise wieder in der Lage den nahen Pik Razdelnaya zu besteigen. Oben tobte ein Sturm sondergleichen und den lobten wir dieses eine Mal. Durch ihn waren mein Mitstreiter und ich in der Lage, von der Firnkuppe des Pik Razdelnaya zurück zum Lager 3 zu finden, da er ab und an die dichte Wolkennebelsuppe aufriss und wir das nahe Lager wieder sehen konnten. Die Spuren unseres Hinweges waren nämlich nicht mehr zu entdecken. Auf dem Gipfelfoto sieht man nur ein White Out und das hätte durchaus auch auf dem Fichtelberg aufgenommen worden sein.
Dies war dann auch für alle der höchste erreichte Punkt der Expedition. Eine Woche starker Sturm und Neuschnee verhinderten für alle am Berg anwesenden Bergsteiger ernsthafte Gipfelvorstöße.  Wir beteten nachts zu Dieter, allein es half nichts. Das Wetter besserte sich nicht mehr. Ins Nirwana weggefegte Zelte nebst wichtigen Inhalten wie Schlafsäcken und Daunenbekleidung waren ebenfalls kein Bergsteigerlatein mehr. Die Bergsteigerin mit den kurzen Beinen wurde einmal sogar buchstäblich beim Gehen umgeweht.
Wir waren enttäuscht, Dieter hatte als Wettergott und Prophet versagt.
Für eine interessante Abwechslung sorgte hernach nur das lustige Zelteinfangen in Lager 2 auf dem Rückweg. Auch dort war der Sturm zu Gast und hatte unser Zelt aus den Leinen gerissen und auf eine Reise über den Gletscher geschickt. Waren wir angekommen, trieb eine Böe das Zelt wie eine Feder fünfzig Meter durch die Luft und spielte mit uns Haschen. Schon nach einer  knappen Stunde bekamen wir es kurz vorm Gletscherabbruch zu fassen.
Meine Sternstunde sollte jedoch noch im vorgeschobenen Basecamp kommen. Ausgerechnet Dieter war eine Krone herausgebrochen und er fragte nach einem willigen und mutigen Hobby- Zahnarzt zum wieder Einsetzen derselben. Alle schwiegen betreten, ich erklärte mich also bereit. Dieter wurde mit ausreichend Wodka desinfiziert- man kann auch sagen betäubt- und ich zog unter den bewundernden Blicken des Lagerarztes die sterilen Handschuhe über. Kurzerhand wurde der Zweikomponentenkleber des „Repair Kit“ zusammengerührt und die Krone sachgemäß unter Einsatz eines Zahnarztspiegels eingesetzt.
Das Konstrukt hätte wohl auch länger als eine Stunde gehalten, wäre der Kleber des „Repair Kit“ nicht bereits seit 2001 abgelaufen gewesen.
Der Wintereinbruch am Lenin sank tief hinunter bis ins Basecamp auf 3600m Höhe und verhinderte sogar unser verabredetes Volleyballturnier mit stark Wodka-seligen russischen Sportlern. Wir hatten sogar Siegprämien, wiederum in flüssiger Form, ausgelobt, die nun ohne sportliche Betätigung verteilt und eingenommen wurden. Tags darauf, nach dem Wegtauen des Schnees auf der Zwiebelwiese, schlugen wir die spanischen Bergsteiger eindeutig und sahen uns nun als Vorbild für Jogi's Jungs für kommende Fußballweltmeisterschaften.
Es war ein schöner Sommer mit vielen neuen Erfahrungen. Ich würde es wieder tun. 

Tourengänger: bergmatze


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Kommentare (2)


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sri hat gesagt: Comic-Strip im Kopf
Gesendet am 2. Februar 2015 um 13:11
Danke für den erfrischenden Bericht. :D

dominik hat gesagt:
Gesendet am 8. September 2015 um 16:02
Muah, ich lach mich weg. Muss ja lustig gewesen sein :-)))


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