Elbrus Westgipfel (5642m)


Publiziert von Chet , 4. September 2018 um 20:59.

Region: Welt » Russland » Kaukasus
Tour Datum:15 August 2012
Wandern Schwierigkeit: T6+ - schwieriges Alpinwandern
Wegpunkte:
Geo-Tags: RUS 
Zeitbedarf: 7 Tage
Aufstieg: 600 m
Abstieg: 1800 m

Ankunft im Kaukasus
Es geht lange los, bevor es losgeht. Nach viertägiger Vor-Akklimatisierung in den Alpen und einer beschwerlichen Anreise in den Kaukasus, komme ich am Abend des 10. August 2012 im Baksan-Tal am Fuße des Elbrus an.
Unsere Reisegruppe besteht aus zwölf Deutschen sowie zwei russischen Führern: Konstantin und Mikhail. Beide sind sehr nett und hilfsbereit. Konstantin bzw. Kostja (die Russen lieben es, Vornamen abzukürzen) ist der jüngere und fittere unter den beiden Bergführern, er kommt aus dem Altai-Gebirge und war schon sehr oft auf dem Elbrus.
Mikhail, der Ältere, hat vor 20 Jahren als Ausbilder im Gebirge gearbeitet und stand bisher fünf Mal auf dem Elbrus. Inzwischen hat er einen (nicht ganz so) kleinen Bauch angesetzt und seine Stärken liegen weniger in physischer Stärke als vielmehr in seiner Erfahrung und seinem großen Wissens über die russische Kultur und den Bergsteiger-Tourismus in Russland. Er spricht sehr gutes Deutsch und kann viele Hintergründe erklären, z.B. warum die meisten Russen Gorbatschow heute mehr hassen als Stalin. Einen deutschen Bergführer hatten wir nicht dabei. Wozu auch? Er wäre ein beträchtlicher Kostenfaktor gewesen und hätte uns doch im russischen Alltag nicht helfen können, z.B. als wir bei der Anreise von Straßenräubern in Uniform wegen angeblicher Geschwindigkeitsübertretung gestoppt wurden und Strafe zahlen sollten.
Einen Teil der Gruppe kenne ich schon, denn mit Karsten und Patrick war ich schon am Kilimandscharo. Damals waren wir immer die Schnellsten und wurden wegen unserer gleichen roten Jacken die „Three Red Devils“ getauft. Leider ist meine rote Hard-Shell-Jacke wenige Tage vor der Abreise kaputtgegangen. Der Geschäftsführer der AlpinBasis Frankfurt, Frank Piatkowski, schickte mir freundlicherweise seine eigene Haglöfs Spitz Jacke. Sie ist allerdings schwarz, so dass ich nun aus der Reihe falle. Ein schlechtes Omen für die Dreier-Allianz. Ohnehin war diesmal auch Karstens Kumpel, der Weltenbummler und Anwalt Christian zusätzlich mit dabei – zwei Rotjacken und zwei Schwarzjacken.

Akklimatisierungstage
11.8.2012
Am ersten Tag steht eine Akkli-Tor auf den Aussichtsberg Cheget, der zwischen den Bergriesen Dongus-Orun und Elbrus liegt, auf dem Programm. Wir fahren mit Sesselliften auf 3050m und steigen auf breitem Pfad noch 420m hoch auf den Gipfel. Nach 57 min ist Karsten oben, ich komme 2 min später. Nach und nach trifft der Rest der Gruppe ein. Wir sitzen rum, trinken und unterhalten uns. Die scheinbare Faulheit hat einen Sinn. Es geht in diesen Tagen vor dem Gipfelsturm nicht mehr darum, Kondition aufzubauen. Vielmehr soll sich der Körper akklimatisieren und dass kann er am besten, wenn er in große Höhe gebracht und dort in Ruhe gelassen wird. Nach einigen Stunden laufen wir wieder zur Seilbahnstation, fahren runter und gehen in dem netten Bergdorf, das ebenfalls Cheget heißt, shoppen.
 
 
12.8.2012
Anders als im Programm des Reiseveranstalters angegeben, machen wir heute keine Tour auf den 3819m hohen Kogutai, weil es eine weglose, technisch anspruchsvolle Bergtour in Fels und Eis gewesen wäre (etwa so schwierig wie der Großglockner). Ein Teil der Gruppe hätte es aufgrund der klettertechnischen Problemen gar nicht hochgeschafft. Für die Akkli ist ein ruhiger Aufenthalt in 3000-4000 m wie am Vortag ohnehin viel besser. Die beiden Führer mieten Jeeps und wir lassen uns in einem abenteuerlichen Ritt an der Südostflanke des Elbrus auf 3000 m kutschieren. Dort befindet sich ein Observatorium. Von dort aus wandern auf einem breiten Weg wir bis zu einer verfallenen Forschungsstation am Gletscherrand des Garabashi-Gletschers in 3650m Höhe. Hier sehen wir zum ersten Mal den Elbrus in seiner ganzen Pracht.

Für den Aufstieg (618 Hm) brauche ich als Schnellster nur 1:30 h, Patrick und Karsten kommen 10 min später. Wir halten uns etwa zwei Stunden oben auf 3663m auf, um uns zu akklimatisieren. Bei herrlichem Wetter sehen wir von unserem Standpunkt, der alten Meteostation, die Aufstiegsroute zum Elbrussattel. Von der Bergstation der Gondelbahn (Mir, 3469 m) geht man zu den Fässern (auf russisch: Botschkis), die das Base-Camp bilden. Diese ausrangierten Ölcontainer, in den russischen Nationalfarben gestrichen, bedecken eine Felsrippe zwischen 3700m und 3850m. Von dort läuft man zur Ruine der Hütte Prijut Odinnadzati (Zuflucht der Elf) auf 4060m. Weiter geht es senkrecht nach oben in Richtung Ostgipfel, vorbei an den langgezogenen Pastushov-Felsen. Dort macht der Weg fast einen 90 Grad-Knick und quert dann in den Sattel. Wir sehen, dass sich zahlreiche Bergsteiger im Abstieg befinden (es ist ja schon Nachmittag). Wie Ameisen laufen sie teils hintereinander, teils nebeneinander eine breite Piste runter. Wie Käfer rasen Ratracs zwischen dem Botschki-Camp und den Pastushov-Felsen hin- und her.
Dieses Bild setzt bei mir einen Erkenntnisprozess in Gang. Sicher, der Elbrus ist mit Gletschern übersäht. Aber oberhalb von 4000 m sind sie auf der Südseite aufgrund der ständigen Niederschläge ganzjährig von einer meterhohen Schneedecke bedeckt, auf der sich sicher laufen lässt. Die von unserem Beobachtungspunkt mit dem Feldstecher gut sichtbare Spur ist meterbreit, diese eine direkt aufwärts führende Landstraße Richtung Ost-Gipfel führt offensichtlich nicht über Spalten. Niemand geht angeseilt, ja die meisten tragen nicht mal einen Hüftgurt, wie mir Konstantin auf Nachfrage bestätigt. Auf der Packliste, die wir in Deutschland vom Reiseveranstalter erhielten, stand die übliche Ausrüstung einer Gletschertour (Eisschrauben...). Aber eine Elbrus-Besteigung von Süden hat einen anderen Charakter: eine Wanderung im Schnee. Für eine Schneewanderung muss man aber anders packen als für eine Gletschertour. Man kann Gewicht sparen und weniger Gewicht bedeutet mehr Gipfelchancen.
Ich nehme mir vor, umzupacken. Gletscherausrüstung inklusive Pickel soll raus, dafür extra warme Klamotten und GPS rein. Zudem will ich drei Brillen einpacken: eine Sonnenbrille für Gletscher, eine richtige, doppelverglaste Skibrille und eine Adidas-Brille, die von ihrer Funktionalität dazwischen liegt: doppelt verglast und mit Schaumgummi anliegend, aber nur die Augen verdeckend, nicht die Wangen und die Nase.
Wir bleiben lange bei der Ledovaya Baza, der nach dem Zusammenbruch des Kommunismus aufgegebenen Gletscherforschungsstation. Zwischen Drahtseilresten, Holzbalken und gelbem Eis finde ich einen wunderschönen marmatit- bzw. hämatitartigen Lavastein und stecke ihn ein.
Zurück nehmen wir Schusters Rappen. Mit dem langen Abstieg (1500Hm) sind wir über 7 Stunden unterwegs.
Im Tal, in einem Ort namens Terskol, besuchen wir zwei interessanten Läden mit den Namen Cullur Mullur und 7SummitClub. Während sich die meisten von uns für viel Geld in Deutschland mit Ausrüstung eingedeckt haben, kann man hier alles leihen. Ein Paar steigeisenfeste Bergschuhe mit Plastikschale kosten je nach Shop 200-300 Rubel, Steigeisen 100-150 Rubel, ein Gurt 50-70 Rubel, jeweils pro Tag (40 Rubel = 1 Euro). So kann man sehr viel Geld sparen. Naja, allerdings bekommt man wahrscheinlich bald Blasen unter den Füßen wie unser Tour-Guide Mikhail, der sich hier Bergschuhe leiht.
 
13.8.2012
Heute geht es richtig los. Dem bequemen Zimmer mit Steckdose und Internet im Hotel Elba in Bajdaebo (2 km vor Terskol) sage ich Dosjwedanja, denn heute beziehen wir unser Hochlager. Wir fahren für 15 Euro pro Person mit der modernen Gondel zur Station Mir und weiter mit einem klapprigen Sessellift bis zu den Botschkis und quartieren uns auf rund 3720m in zwei Containern ein, Männer und Frauen soweit möglich getrennt. Die Botschki-Hütten sind zwar etwas niedriger als die Diesel-Hütte (nahe der abgebrannten) Prijut Odinnadzati, aber viel bequemer. Ich bin positiv überrascht. Jeder hat ein Bettgestell mit Decke und Kissen, nicht nur ein Matrazenlager wie in vielen Hütten in den Alpen. Insgesamt ist Botschki-Camp aber in einem üblen Zustand. Es liegt Holz- und Eisenschrott auf diesem Weltraumbahnhof herum – inmitten einer einsamen Landschaft aus Stein und Eis, in der kein Vogel singt.
Auf dem Weg von der Bergstation des Sesselliftes zu unserer Tonne bleibe ich dicht hinter dem Führer. Ich will ein gutes Bett. Immerhin bleiben wir 3 Nächte in diesen Tonnen. Ein Bett direkt unter dem Fenster kann die Gipfelchance beeinträchtigen. Ich erreiche als einer der ersten die Hütte und nehme mir das Bett genau in der Mitte. Nachdem auch alle anderen Männer ein Bett belegt haben, kommt Mikhail, schaut mich an und fragt mich höflich, ob er nicht das Bett haben könnte, auf dem meine Sachen liegen. Er müsse als Führer einfach einen schnellen Zugang zur Tür haben und es sei für alle nachteilig, wenn er nachts über Sachen stolpere. Ich überlasse ihm mein Bett und verziehe mich in ein Eckbett unter dem Fenster. Grumpf. „Die Ersten werden die Letzten sein“ oder so ähnlich steht ja bereits in der Bibel. Es hätte aber noch schlimmer kommen können. In der Frauen-Tonne tropft es anfangs (bis jemand das Loch stopft).
Wir haben jeder ein paar Liter Wasser mitgenommen ins Hochlager, das sollte für 3-4 Tage zum Trinken, aber auch zum Zähneputzen und für eine Katzenwäsche reichen. Der nächste Gletscherbach ist zwar nicht weit entfernt und natürlich kann man Gletscherwasser abkochen. Aber manchmal ist der Gasherd in der Küchenbotschki besetzt und dann gibt es Wartezeiten und wenn man dann gerade Durst hat, ist das unangenehm. Die Botschkis sind an sich unbewirtschaftet. Daher nehmen unsere Führer auch jede Menge Nahrungsmittel mit. Und eine Köchin namens Luba. Sie versorgt uns in den nächsten Tagen ganz vortrefflich. Ich überlege, in die nächste Selbstversorger-Hütte in den Alpen auch eine Köchin mitzunehmen.
Kaufen kann man hier oben nichts, außer Fahrten mit dem Ratrac in Richtung Elbrus-Gipfel. Für unsere eigene Fahrt mit der Pistenraupe werden pro Person 2000 Rubel, also 50 Euro, von jedem der 12 Gäste eingesammelt (keine Ahnung, ob die Führer auch zahlen).
Gegen 16 Uhr setzt ein Gewitter ein. Unsere Container beginnen leicht zu zittern. Sie stehen auf Pfählen. Das Thermometer sinkt auf 8 Grad. Draußen stürmt und hagelt es. Wer jetzt groß auf die Toilette muss, hat Pech gehabt. Ich lege trotzdem die 40 m zum Klohäuschen zurück (ein anderes ist näher, aber verschissener). Der Koreaner, der nur 10 Sekunden, nach mir ankommt, muss wegen mir nun einige Minuten im Regen stehen. Ich entschuldige mich nachher dafür, obwohl ich nur kausale, keine moralische Schuld an seiner Durchnässtheit trage.
 
14.8.2012
Heute steht eine weitere Akkli-Tour auf dem Programm. Für uns ebenso wie Mongolen, Israelis, Russen, Amis und wer sonst noch morgen den Elbrus besteigen will. Alle gehen sie zu den Pastushov-Felsen, die in 4550-4700m aus dem Gletschermeer aufragen. Unsere Gruppe entscheidet sich allerdings, eine Pistenraupe (Modell Käsbohrer, frisch importiert aus Österreich) für das erste Viertel des Wegs zu benutzen, um länger schlafen zu können. Wir wollen um 9:30 Uhr losfahren, zu einem Zeitpunkt also, wenn andere Gruppen schon von dieser Tour zurückkommen. Doch der Ratrac-Fahrer taucht nicht auf. Nach einer Dreiviertelstunde kommt er schließlich direkt aus dem Tal, breit grinsend. Aufsitzen auf der Ladefläche und los geht`s. Statt klarer Bergluft atmen wir Diesel-Abgase. Mir stockt der Atem, als die Pistenraupe auf einer Schneebrücke über eine Gletscherspalte fährt. Bei hartgefrorenem Schnee ist das sicher kein Problem, aber mit Überlast (14 statt 10 Leute) und am späten Vormittag ist das etwas anderes. Auch an einem Steilhang muss der Ratrac mehrmals ansetzen. Ich habe große Angst, dass er ins Rutschen kommt. Am liebsten würde ich austeigen, wahrscheinlich wäre ich genauso schnell. Ich schäme mich ein wenig für den ganzen Luxus und die niedrigen Anforderungen dieser Bergsteiger-Reise. Das ist ja mehr Ratrac-Fahren als Laufen! Wer Abenteuer will, muss den Elbrus von Norden oder den Kashbek (5033 m) buchen. Beides sind Zelt-Expeditionen ohne Hütten und Pistenraupen-Transfers.

Um 10:49 beginnen wir endlich die Schneestapferei, nahe der Prijut 11. Wir starten knapp über 4000m und gehen in 2 ½ h erst auf 4700m und dann wieder zurück zu unseren Botschkis auf 3750m. Ich war diesmal nicht Schnellster, sondern komme etwas später als Karsten und Patrick an. Wir beenden die Tour an einer Art halbfertigem Iglu, welches hervorragend vor Wind schützt. Vier von unserer Gruppe schaffen es nur bis 4500m und sind abends frustriert. Auf dem Rückweg ist der Gletscher sehr weich, überall kleine Bäche. Einen dieser Bäche leite ich aus Versehen um und er donnert auf neuem Weg den Gletscher hinab, Schnee und Schlamm mit sich führend. Zum Glück läuft unten niemand.
Morgen soll der Gipfeltag sein, also Schlafengehen um 20 Uhr. Micha spürt aber, dass die Gruppe nicht fit ist. Er sagt, dass ihm ein weiterer Akkli-Tag am liebsten wäre, weil die Nacht davor viele kaum geschlafen hätten und nun auch nur eine halbe Nacht zur Verfügung stehe. Es stimmt, einige haben höllische Kopfschmerzen und schlucken schon eifrig Tabletten. Manche wirken müde und erschlagen und leiden unter den Auswirkungen der trockenen Höhenluft. Harndrang und Einschlafschwierigkeiten führen dazu, dass zahlreiche Toilettengänge üblich sind und das Schlafdefizit weiter vergrößern. Auch ich bleibe davon natürlich nicht völlig verschont. Dennoch ärgert mich Mikhails angedeutetes Vorhaben, den Gipfelversuch morgen abzublasen. Die Botschkis sind an sich nicht unbequem, jedenfalls im Vergleich mit einem Zelt. Klar, in über 3700m Höhe treten in der ersten Nacht normalerweise Anpassungsprobleme auf. Aber wenn man vor der Elbrus-Reise paar Mal auf hohen Alpen-Hütten übernachtet hätte, dann wären die Schlafprobleme doch geringer gewesen? Wie auch immer, ich finde nicht, dass der geplante Gipfeltag (der einzige Tag dieser Woche mit guter Wetterprognose) nur wegen dieser (vorhersehbaren) Problemchen zum Ruhetag werden muss.

15.08.2012: Gipfeltag
Gipfeltag: Die Planung sieht so aus: 01:30 Uhr Frühstück, 02:30 Uhr Abfahrt mit dem Ratrac. Der Fahrer soll uns bis zum oberen Ende der Pastushov-Felsen, also auf ca. 4700m, bringen. Von dort soll über eine senkrechte Aufstiegsroute auf 5000m und dann eine lange Traverse auf den Sattel (5300m) gehen. Dort trifft unsere Route mit der nördlichen Aufstiegsroute zusammen. Auf einem ziemlich steilen Stück werden wir rasch an Höhe gewinnen, bevor es recht ausgesetzt an der abgeblasenen Flanke auf den Kraterrand zugehen wird. Nachdem der Krater durchquert ist, wird es kurzzeitig bergab gehen, bevor wir das plattgetretene Gipfelplateau erreichen und in Jubel ausbrechen. So der Plan.
Die Wettervorhersage sagt für den morgigen Tag auf dem Gipfel Windgeschwindigkeiten von 25-30 km/h voraus (gegenüber 15 km/h am Tag davor u 40 km/h am Tag danach), nachts soll es -15 Grad (mit Windchill -26 Grad) kalt werden, morgens dann -7 (-15) und mittags -8 (-17). Die Wettervorhersage sagt weiter für die Nacht leichten Schneefall voraus, morgens soll der Himmel klar sein, bevor es laut Vorhersage nachmittags wieder zu schneien anfängt.
Um 01:15 klingelt mein Wecker, aber draußen regnet es. Mikhail sagt an, dass wir eine Stunde warten, ob das Gewitter sich legt. Die Köchin Luba und der Ratrac-Fahrer seien schon benachrichtigt. Auch die 6 Personen in der andere Botschki wüssten Bescheid (beide Führer, Micha u Kostja, schlafen zusammen mit der Hälfte der Teilnehmer in Botschki 1). Ich stelle den Wecker auf 02:15, ändere aber dann meine Meinung. Weil ich davon ausgehe, dass mich schon jemand wecken wird, wenn sich das Wetter bessert, stelle ich den Wecker aus. Um 05:30 wache ich von selbst auf und schaue aus dem Fenster. Die Sonne ist gerade aufgegangen. Blauer Himmel, das Gewitter ist abgezogen. Um mich herum aber lautes Geschnarche, auch aus der Richtung der Bergführer. Ich merke, dass Kostja wach ist und mache ihn leise auf die Wetterlage aufmerksam. Er antwortet ausweichend, dass man jetzt nicht alle wecke solle. Der Ruhetag scheint beschlossene Sache zu sein, obwohl wir gestern noch alle davon ausgegangen waren, heute nacht den Gipfelsturm zu versuchen. Ich nehme meinen für den Gipfeltag gepackten Rucksack an mich und sage ihm, dass ich auf eine weitere Akkli-Tour gehen wolle und erst in 5 h zurücksein werde. „Ok, you can go“, sagt er.
Nachdem ich vor der Hütte ein wenig heißen Tee getrunken und 2 Müsliriegel gefrühstückt habe, wandere unschlüssig den Gletscher Richtung Prijut 11 hinauf und mache mir so meine Gedanken. Heute würde die Gruppe im Lager nur rumsitzen. Morgen würden wir in jedem Fall alle gemeinsam einen Gipfelversuch machen. Wir waren zwölf, in Bezug auf Alter und Fitness recht heterogene, Hobby-Bergsteiger, und 2 Führer. Wenn das Wetter schlecht sein würde, was zu erwarten war, würden manche Teilnehmer bald umkehren wollen. Vermutlich würde Mikhail dann mit ihnen zurückgehen, während Kostja mit den Stärkeren weitergehen würde. Aber wenn sich dann ein einziger in Kostjas Restgruppe schlecht fühlte, würden alle zurückgehen müssen, weil Kostja es anordnen würde. Der Führer hat in diesem Fall gar keine andere Wahl. Ich selbst würde auch keine andere Entscheidung treffen, wenn ich für das Wohl der Gesamtgruppe verantwortlich wäre. Eine Seilschaft ist wie eine Kette, und die ist bekanntlich genauso stark oder schwach wie ihr schwächstes Glied. Für die Stärkeren würde das aber bedeuten, dass sie ihr Potential nicht ausschöpfen können. Es sollte je vier Bergsteiger einen Bergführer geben, denke ich. Wunschdenken. Das war aus finanziellen Gründen nicht drin gewesen. Missmutig laufe ich weiter. Ich nehme mir vor, jedenfalls den heutigen schönen Tag optimal auszunutzen. Um etwas höher hinauf zu kommen als gestern bräuchte eine Mitfahrgelegenheit auf einem Ratrac. Ich prüfe, ob ich meine Brieftasche einstecken habe. Ja, sie ist im Rucksack. Aber ich spreche fast kein Russisch und weiß nicht, wie man sich ein Fahrzeug organisiert, zumal sie alle ausgebucht sein dürften. Gegen 7:30 erreiche ich die Stelle zwischen Dieselnaja, also den Resten der Prijut-Hütte, und den Schutzhütten auf der anderen Seite. Dort steht eine abgestellte Schneeraupe. Kurz entschlossen trete ich in die Dieselnaja ein, in der gerade ein Deutscher und eine Nepalesin beim Frühstück sitzen.
Ich frage sie, ob hier ein Ratrac-Fahrer ist. Sie wissen von nichts, weisen mich jedoch auf ein Matrazenlager hinter einer Tür, auf der Administration steht, hin. Alle Lager sind verlassen außer einem, wo ein Schlafsack sich ausbeult. Darin regt sich etwas. „Are you Ratrac-Driver?“, frage ich in schlechtem Englisch. „Yes“, kommt es verschlafen zurück. Klar, er hatte heute nacht eine Fahrt und holt nun den Schlaf nach. „Can you drive me up, I pay you well“, sage ich. Er richtet sich auf. Ich mache ihm klar, dass ich bereit bin, für eine Fahrt zu den Pastushov-Felsen 200 € zu zahlen. Das ist viel Geld, aber der Reiseveranstalter hatte geschrieben, dass man möglichst Bargeld nach Russland mitnehmen sollte, weil das Abheben mit der Kreditkarte nicht überall möglich sei. Ich hatte 700 € mitgenommen, von denen ich bisher nur 50€ ausgegeben habe. Der Fahrer bedeutet mir, dass er einverstanden ist. Er zieht sich an und kommt mit mir nach draußen. Als wir im Ratrac sitzen, frage ich: „Kak zawut?“ (Wie heißt du?). „Achmed“. Er ist schätzungsweise 25 Jahre alt und hat ein längliches Gesicht mit einer zerbeulten Nase.
Achmed hält schließlich am unteren Rand der Felsen, nicht wie ich es mir gewünscht hätte, am oberen Rand. Ich protestiere. Achmed lächelt. Er malt mit seinem Finger eine Zahl an die beschlagene Windschutzscheibe: 100. Ich male eine 50 daneben. Achmed schüttelt den Kopf und deutet auf die Hundert. Ich gebe mich geschlagen. Er dreht wieder den Zündschlüssel herum und wir fahren weiter. Im nächsten Leben werde ich Ratrac-Fahrer am Elbrus, denke ich mir. Je 200 (Höhen)meter = 100 €, das ist das teuerste Taxi der Welt. Ich schreibe auf Englisch eine SMS an Kostja, Mikhail, aber auch Patrick und Karsten, dass ich von den Pastushov-Felsen nach oben gehen werde, solange es mir gut geht und ich mich sicher fühle. Mikhail schreibt mir zurück, dass ich unbedingt auf dem Weg bleiben soll, der mit roten Stangen bezeichnet ist.
Als wir am oberen Ende der Felsen sind, stellt Achmed den Ratrac ab. Ich mache mich zum Aussteigen bereit, aber Achmed macht eine Handbewegung nach oben und schaut mich fragend an. Ich wusste bisher nicht, dass die Ratracs noch höher fahren können. In den Reiseunterlagen stand, dass der weitere Aufstieg (30-35 Grad Steigung) zu steil für die Pistenraupen ist. Vielleicht gilt dies in unserem Fall nicht, weil wir nur zu zweit sind, die Raupe also quasi unbeladen ist? Oder weil in der Nacht Neuschnee gefallen ist? Achmed holt sein Handy hervor und tippt erst eine 5000 und dann eine 200 ein. Es dauert eine Weile bis ich begreife, dass er anbietet, mich noch mal dreihundert Höhenmeter, also bis auf 5000m zu fahren, wenn ich ihm weitere 200€ gebe. Nach kurzem Zögern nicke ich und zahle. Als eine Bergsteigergruppe im Aufstieg unseren Weg kreuzt, wechselt Achmed nicht die Spur und verringert auch nicht das Tempo. Ein Bergsteiger muss hastig zur Seite springen. Ich schäme mich. Mit Bergsteigen by fair means hat das hier nichts zu tun. Schließlich sind wir auf 5000m angekommen. Die Aufstiegsroute macht hier einen Knick nach links und traversiert den südlichen Teil des Ostgipfels. Wenn die Pistenraupe hier weiterführe, würde sie umkippen, bedeutet mir Achmed mit Handbewegungen.
Ich öffne die Tür des Ratracs: Nebel, Wind, Kälte. Ich ziehe meine Handschuhe, Gesichtsmaske und Jacke an und steige aus. Achmed schaut mich nachdenklich an. Zurückbringen wird er mich nicht, von jetzt an bin ich mir selbst überlassen. „Good luck“ sagt er und es klingt, als meint er es ernst. „Spasiba“ antworte ich und schlage die Tür zu. Er dreht ab und überlässt mich meinem Schicksal. Langsam beginne ich meinen Aufstieg. Ich bin ausgeschlafen, gut trainiert und akklimatisiert. Ich komme so leicht voran wie eine aufwärts rollende Kugel. Es beginnt zu schneien. Der erste Mensch, den ich oberhalb von 5000m treffe, ist ein Inder oder Pakistani, der ganz allein und sichtlich erschöpft ist. „Where is your group?“ frage ich ihn (nicht daran denkend, dass ich ja auch allein unterwegs bin). „I don't know“, sagt er lallend. „You should go down“, sage ich zu ihm. Er schüttelt stumm den Kopf. Da kommen auch schon die acht Bergsteiger seiner Gruppe von oben und sammeln ihn ein. Der Guide hat die Tour wegen der Erschöpfung seiner Teilnehmer abgebrochen. Ich bin dagegen noch ausgeruht und setzte meinen Aufstieg gleichmäßig fort. Russische, amerikanische, koreanische Gruppen, die früh morgens aufgebrochen sind, kommen mir entgegen. Bei kurzen Wortwechseln mit englischsprachigen Mitgliedern erfahre ich, dass in den meisten Fällen der Gipfel nicht erreicht wurde, weil die Bedingungen oberhalb des Sattels zu hart sind. Es tobt ein Höhensturm. Noch fühle ich mich stark genug, den widrigen Umständen zu trotzen und gehe weiter. Sobald ich den Sattel zwischen West- und Ostgipfel erreiche, nimmt der Wind zu. Er ist jetzt so stark, dass man sich dagegen lehnen muss, um nicht umgeweht zu werden. Ich wage nicht, meinen Rucksack abzunehmen, um etwas zu trinken oder eine weitere Schicht anzuziehen. Alles würde mir jetzt vom Wind aus der Hand gerissen. Zum Glück friere ich nicht, weil ich mich im Ratrac schon ziemlich warm angezogen hatte, eine sehr warme Unterwäscheschicht, zwei Soft-Shells übereinander und die geborgte Hard-Shell-Jacke. Solange der Wind nicht nachlässt, muss jetzt alles bleiben, wie es ist. Alle Spuren des Wegs sind zugeweht. Mit der vereisten Adidas-Brille kann ich kaum die nächste rote Markierungs-Stange erkennen. Ich fluche, dass ich nicht meine beste Skibrille angezogen habe. Trotzig stapfe ich weiter. Vom Sattel sind es nur noch 246 m bis zum Gipfel, denke ich, das werde ich doch wohl schaffen (die Rechnung war falsch, es sind ein paar mehr, aber das wurde mir erst später bewusst). Die 1,2 km vom Ende des Sattels, wo die Nordroute einbiegt, bis zum Westgipfel, sind das steilste und ausgesetzteste Stück des Weges. Zwei Stunden rechnet man bei guten Bedingungen. Ich sehe keine Spur, nur kaum erkennbar im völligen Weiß die jeweils nächste Stange über mir. Mal ist der Schnee tief, mal weich, mal hart, ohne dass ich ein Muster erkennen kann. Plötzlich kommt mir eine einzelne Gestalt entgegen. Ein Sologänger wie ich, der allerdings gerade abgebrochen hat. Als ich ihn frage, wie weit es noch zum Gipfel sein wird, antwortet er mit „3-4 hours.“ Das kann doch nicht sein, denke ich. Einige Zeit später kommt mir eine amerikanisch-israelische Sechser-Seilschaft entgegen. Sie haben den Gipfel erreicht und befinden sich auf dem Rückweg. Auf meine Frage, wie lange man noch bis zum Gipfel braucht, schaut mich der Führer prüfend an und sagt „40 min“. Mit neuem Mut kämpfe ich mich weiter voran. Ich habe Hunger und Durst und die Kräfte lassen langsam nach, aber ich mache jetzt keine Pause. „Schnelligkeit ist Sicherheit“, sage ich mir. „Wenn Du jetzt aufgibst, dann musst du das alles noch mal durchmachen. Noch mal nach Russland reisen, noch mal die ganze Akklimatisierung, noch mal das Botschki-Camp mit den verschissenen Toiletten.“ Der letzte Gedanke motiviert mich ungemein, weiterzugehen. Während bei der Nordroute der abgedroschene Spruch ‚Der Weg ist das Ziel‘ eine gewisse Berechtigung haben mag, gilt bei der Südroute ohne Zweifel: ‚Der Gipfel allein ist das Ziel. Der Weg belohnt den Bergsteiger nicht.‘
Ich muss jetzt nach jedem Schritt eine Pause machen, um Luft zu schöpfen. Nach etwa einer Viertelstunde treffe ich einige Koreaner, die sich im Abstieg befinden. Wie weit noch? „45 min“, lautet die Antwort, die mich ziemlich frustriert. Nach weiteren 10 min treffe ich auf eine große Seilschaft, die sehr erschöpft zu sein scheint und im Umkehren begriffen ist. Der russische Führer versucht gerade, seine Schäfchen anzuseilen, aber der Wind weht immer wieder sein Seil weg. „How long till the summit?“ Statt eine Zeitangabe zu nennen, brüllt der Mann mich an: „Get down! It's too windy“. Zum Glück gehöre ich nicht zu seiner Seilschaft. Wortlos stapfe ich an ihr vorbei nach oben. In der Folgezeit bin ich allein. Meter für Meter kämpfe ich mich höher. Ich komme an eine abgewehten Stelle vorbei und sehe Felsen - zum ersten Mal etwas anderes in der Landschaft als dieses ewige Weiß. So muss es am Nordpol sein. Und wieder weiter, ich weiß nicht wie lange. Plötzlich lässt die Steigung nach. Ich muss mich am Kraterrand befinden. Aus der Wegskizze weiß ich, dass es nur an dieser Stelle kurz bergab in die Kratersenke geht. Ich gehe hinab. Und auf der anderen Seite wieder hoch. Das Schneetreiben lässt etwas nach und ich sehe, dass rechts von mir ein steiler Abbruch verläuft. Für einen Moment sehe ich die endlosen Abhänge der Nordseite des Elbrus. Der Gipfel muss jetzt sehr nah sein. Aber der Wind ist so stark, dass er mich über den Grad hinweg zu wehen droht. Auf allen vieren tappe ich vorwärts, immer wieder vom Grad zurückweichend. Wie in Lichtgeschwindigkeit rasen Wolkenfetzen über mich hinweg, dazwischen kann ich den blauen Himmel sehen.
Endlich erreiche ich auf allen vieren das Gipfelplateau mit seinen Aufbauten: dem großen dunklen Stein, dem silbernen Stern darauf, der Gedenktafel darunter. Niemand außer mir ist hier. Auf jedem Berg-Gipfel, den ich erreichte, hatte ich bisher ausgiebig gerastet. Aber dieses Gipfelplateau ist der unwirtlichste Ort, an dem ich jemals war. Mit Mühe mache ich im tosenden Sturm ein Gipfelfoto. Der Spruch eines Bergfotografen „Wenn eine Tour wirklich hart war, dann gibt es von ihr keine schönen Fotos. Wenn es schöne Fotos gibt, dann sind sie entweder nachgestellt oder du warst nicht am Limit.“ geht mir durch den Kopf. Ich mache, dass ich wieder wegkomme.
Der Abstieg
Die ersten Meter des Abstiegs fallen mir leicht. Nun, da ich es geschafft habe, breitet sich ein euphorisches Gefühl in mir aus. Ich war tatsächlich nach dem Mont Blanc auch auf dem Elbrus und damit auf dem höchsten Berg Europas, egal wie man Europa geografisch definiert! Ich war zum zweiten Mal auf einem der Seven Summits! Ich habe es trotz aller Widrigkeiten geschafft! Mir kommen die Tränen vor Erleichterung. Zum Glück kann niemand mein Schluchzen hören.
Der Anblick zweier Gestalten im Wind reißt mich aus meinen Gedanken. Sie kommen mir entgegen, sind also noch im Aufstieg. „Only 5 minutes“ rufe ich Ihnen aufmunternd zu. Sie grüßen mich auf Italienisch. Ich sehe, dass der eine zwei verschiedene Handschuhe bzw. an einer Hand eine Plastiktüte über seinem Handschuh trägt. Mir wird klar, dass er im Wind einen Überhandschuh verloren haben muss. Insgesamt scheinen die beiden Italiener aber recht frisch und munter zu sein. Sie gehen festen Schrittes weiter Richtung Gipfel, während ich die entgegengesetzte Richtung einschlage. Sie werden die letzten sein, die heute auf den Gipfel kommen, denke ich mir. Als ich etwas weiter abgestiegen bin, vermisse ich die nächste rote Stange. Der Weg muss abgebogen sein, ohne dass ich es bemerkt habe. Meine Skibrille ist längst vereist. Im totalen White-Out suche ich eine Weile herum, finde aber nichts. Ich muss in die falsche Richtung abgestiegen sein! Jetzt kann mir nur noch das GPS helfen. Darauf würde ich meine Aufstiegsroute sehen und könnte folglich den richtigen Rückweg finden. Aber um es aus der Hosentasche zu holen, müsste ich meinen Über-Handschuh ausziehen.
Schon im letzten Winter hatte ich mir verschiedene Expeditions-Handschuhe schicken lassen. Ich hatte mich an einem der wenigen richtig kalten Tage damit auf die Plattform des Stuttgarter Fernsehturms in den Wind gestellt und gewartet, in welchem Modell die Finger am längsten warm blieben. Das war bei dem Zwei-Schichten Modell Fitzroy von Mountain Equipment der Fall gewesen, einem mit Wolle gefütterten dicken Innenhandschuh und einem riesigen Daunen-Fäustling als Überhandschuh. Alle anderen Modelle, darunter auch sehr teure, hatte ich zurückgeschickt. Im Besitz des wärmsten Handschuhmodells, das es auf dem Markt gibt, in den Kaukasus gefahren. Tatsächlich waren meine Finger bisher nicht allzu kalt gewesen und ich hatte sie immer gespürt. Mein Kälte-Management auf dieser Tour hatte sich bisher ganz gut bewährt. Es war nicht schlimm gewesen, dass ich seit dem Verlassen des Ratracs nichts an- oder ausziehen konnte, denn ich hatte kaum gefroren. Aber nun musste ich mindestens einen der roten Überhandschuhe ausziehen! Erfrierungen kann man sich beim Höhenbergsteigen schon innerhalb von einer halben Stunde zuziehen. Ich durfte auf keinen Fall einen der beiden Handschuhe verlieren. Zum Glück sind sie mit Schlaufen an meinen Handgelenken befestigt und so flattern sie zwar im Wind, als ich sie abstreife, aber sie fliegen nicht weg. Auch das GPS, ein Garmin 60 CSx, zum Glück ohne Touchscreen, mache ich mit dem Bändel an meinem Handgelenk fest. Als ich es dann zu bedienen versuche, entgleitet es mir immer wieder und flattert wie ein Stofffetzen am Handgelenk. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis ich mit dem klobigen Innenhandschuh, der zum Glück einen separaten Zeigefinger hat und also einen Zangengriff erlaubt, die richtige Page aufgerufen und mich hineingezoomt habe. Immer wieder komme ich auf einen falschen Knopf, muss >Quit< drücken und es von neuem probieren. Endlich kann ich meine Aufstiegsroute und die falsche Abstiegsroute sehen. Ich bin zu weit links, in Richtung Nordhänge abgestiegen. Ich bohre die Steigeisen in den Schnee und quere das 40 Grad steile Schneefeld, um wieder auf die richtige Spur zu kommen. Dabei stütze ich mich mit den Händen ab. Einen Pickel habe ich ja nicht dabei, ich hätte ihn jetzt ohnehin nicht herausholen können, zumal der Schnee weich ist, nicht hartgefroren. Schemenhaft sehe ich plötzlich etwa 8 m über mir die beiden Italiener. Sie gehen aufrecht. Sie müssen sich also auf dem Weg, auf der etwa 30 cm breiten, zu hartem Schnee niedergetrampelten Spur, befinden. Ich krabbele auf sie zu. Als ich diese Stelle erreiche, sind sie weg. Immerhin sehe ich jetzt wieder eine rote Stange. Danach aber wieder White Out, das Schneetreiben wird wieder stärker. Ich orientierte mich im Abstieg vom Westgipfel in den Sattel fast nur mit Hilfe des GPS, denn die Sicht ist gleich Null. Erst als ich den Sattel erreichte, klart es etwas auf und ich sehe wieder Stangen. Ich atme auf. Ich hatte auch davor nicht um mein Leben gefürchtet, aber es war mir schon etwas mulmig zu Mute gewesen. Im Sattel kann ich nun mehrere Bergsteiger sehen, die vom Ostgipfel kommen. Auch einen aus Eis errichteten Windschutz kann ich erkennen. Dort stehen mehrere Rucksäcke. Ich bin inzwischen sehr hungrig und durstig, gönne mir aber keine Pause, sondern gehe so schnell wie möglich noch eine Weile abwärts, bis zum oberen Ende der Pastushov-Felsen. Erschöpft lasse ich mich in den dortigen Windschutz fallen und nehme den Rucksack ab. ENDLICH WENIGER WIND! Es ist 14:35. Auf meiner Suunto-Uhr sehe ich, dass ich um 12:06 auf dem höchsten Punkt gestanden habe. Ich hole das Handy heraus, um Kostja und Michael zu schreiben, dass es mir gut geht. Aber zu meiner Überraschung stellte ich fest, dass der Akku leer ist. Das hätte eigentlich nicht passieren dürfen. Was ich in diesem Moment nicht weiß: Um 14:00 sandte mir Kostja eine SMS. Ihr Text: „Where are you? Urgently, go back!“. Erst Tage später, wieder unten im Hotel Elba, werde ich diese SMS lesen.
 
Zum ersten Mal seit vielen Stunden trinke und esse ich etwas. Langsam komme ich wieder zu Kräften. Ich bin in Sicherheit und es geht mir gut. Die Ränder der Skibrille haben sich so tief eingegraben, dass es eine große Erleichterung ist, sie endlich abzunehmen. Nach einer ausgiebigen Pause trete ich den weiteren Abstieg an. Die letzten 1000 Höhenmeter bis zu den Botschkis rutsche ich aus Spaß teilweise auf dem Hosenboden ab. Ich treffe die beiden Italiener wieder und wir tauschen Adressen aus. Bei rund 4200 m wird es fast windstill. Wer hier nach oben schaut, der sieht nur wenig Wolkenschleier rund um den Gipfel und hält wahrscheinlich die Wetterbedingungen am Gipfel für gut. Ein trügerischer Berg!
Neuneinhalb Stunden nach meinem Abmarsch bin ich wieder im Lager, wo mich die anderen erleichtert begrüßen. Sie hatten sich Sorgen gemacht. Nachdem ich Bericht erstattet habe, werde ich von allen Seiten beglückwünscht. Allerdings erzeugt meine Schilderung des Höhensturms auch Sorgenfalten auf den Minen der Anderen, vor allem bei den hoffnungsvollsten Gipfelaspiranten. Für den nächsten Tag, wenn ihr eigener Gipfelsturm ansteht, ist noch mehr Wind angesagt.
 
Der Tote
Da ein Mitglied unserer Gruppe wegen Magenproblemen auf den Aufstieg verzichtet und mir die Erfahrungen des Vortags reichen, – den Gedanken, morgen den Ostgipfel zu versuchen, habe ich schnell verworfen – planen also 10 Deutsche und ihre beiden russischen Führer am Donnerstag, 16.8., ihren eigenen Gipfelversuch. Der Ratrac ist für 2.00 Uhr bestellt. Wegen eines Gewitters verzögert sich die Abfahrt aber auf 03:40, wie ich halb schlafend mitbekomme. Die Gruppe nimmt den Ratrac direkt von den Botschkis aus bis zum oberen Ende der Pastushov-Felsen und zahlt dafür umgerechnet 500€.
Das Wetter ist genauso schlecht wie am Vortag. Bereits nach etwa eineinhalb Stunden kehrt die Hälfte der Gruppe mit Führer Mikhail um. Der Rest geht unter der Führung von Kostja tapfer weiter, bis der Sattel erreicht wird. Der Sturm wird stärker, aber noch ist niemand bereit, den Rückweg einzuschlagen. Bis zu einer schauerlichen Begegnung: Auf dem Weg liegt eine Person, ein wenig vom Schnee zugedeckt. Sie liegt mit seltsam ausgestreckten Gliedern auf dem Rücken. Um sie herum liegen Ausrüstungsgegenstände, Rucksack, Stöcke, Bonbons und komischerweise auch Batterien. Sie liegt direkt auf dem Weg, man müsste quasi drüber steigen. Kostja geht in dem Moment vorne, dann kommt Patrick, dann Karsten, dann Simon, Michael, Marion, Elisabeth und Andrea. Kostja heißt die anderen anzuhalten – den Frauen soll der Anblick erspart bleiben - und untersucht den Körper. Ein Mann. Kostja fühlt den Puls. Tot.
Es muss der Tscheche sein, der seit dem Vorabend vermisst wird. Furchtbar. Ohne Diskussion dreht die Gruppe um. Niemand will mehr weitergehen. Nichts wie runter von diesem Berg.
Am späten Vormittag sind alle wieder im Lager. Wir reden, essen und packen, um die letzte Seilbahn um 15 Uhr zu erwischen. Zum Abendessen sind wir wieder im Hotel Elba. Nun erst setzt das Nachdenken ein. Die Enttäuschung über den verpassten Gipfel wird spürbar. „Das Wetter war in unserem Zeitfenster außergewöhnlich schlecht“, versucht Mikhail zu trösten. Viele aus unserer Gruppe hatten bereits den Kili bestiegen und waren davon ausgegangen, dass der Elbrus vergleichbare Anforderungen stellen würde. Aber der richtige Referenzberg für den Elbrus Mitte August 2012 war nicht der Kili, sondern der Mont Blanc bei Schlechtwetter.
 
Abschied vom Kaukasus
Statt wie im Programm vorgesehen heute (Fr, 17.8) schon ins 36 Grad heiße Krasnodar zu fahren, entscheiden wir uns, eine weitere Nacht im Hotel Elba zu bleiben und von dort direkt zum Flughafen zu fahren. So haben wir einen weiteren Tag im kühlen Gebirge gewonnen. Das Angebot von Mikhail, noch eine versöhnliche kleine Wanderung zu einer Mineralquelle zu machen, nehmen aber nur Michael, Marion und ich an. Mit Konstantin fahren wir in die Provinzhauptstadt, die ebenfalls Elbrus heißt, und steigen von dort in das Tal des Flusses Irik ein. Endlich zeigt sich der Kaukasus von seiner grünen Seite: saftige Wiesen und schattige Wälder. Auf gutem Pfad steigen wir rasch höher. Vier voll ausgerüstete Bergsteiger mit riesigen Rucksäcken und Zelten kommen uns entgegen, darunter auch ein hübsches junges Mädchen. Auf mein Fragen erklären sie, dass der Weg vor unseren Füßen, wenn man ihn immer weitergeht, auf der wenig begangenen Ostroute ebenfalls zum Elbrus-Gipfel führe. Sie hätten den Berg versucht, aber das schlechte Wetter hätte sie zur Umkehr gezwungen.
„Abends gibt es Fisch“, sagt uns Mikhail, aber was er uns nicht sagt, ist, dass wir die Fische selber fangen müssen. Das aber ist in diesem Restaurant so. Dort gibt es einen kleinen Fischteich und die Wirtin drückt jedem eine Angel in die Hand. Es wird ein feucht-fröhlicher Abend mit viel Pivo und Wodka......

Nachdenklicher Nachtrag
Bin ich ein unkalkulierbares Risiko eingegangen? Ok, am 15.8.12 sind viele Menschen gar nicht erst aufgebrochen. Mit mir haben aber immerhin etwa 50 Menschen den Gipfel versucht und rund 15 Personen, so meine Schätzung, haben ihn auch erreicht und sind sicher wieder runtergekommen. Es handelt sich also nicht um Bedingungen, bei denen jeder Gipfelversuch von vorneherein zum Scheitern verurteilt war (wie es etwa bei zuckenden Blitzen der Fall gewesen wäre). Ich war während der Tour auch immer guten Mutes und glaubte nie an ein Scheitern. Auch die Ausrüstung war angemessen. Bis auf einen kleinen braunen Fleck an der linken Wange (Gletscherbrand?), dort wo die Haut unbedeckt gewesen war, habe ich keine bleibenden Schäden davongetragen. Berg-Geschichten werden vom Ende her erzählt. In meinem Fall nahm das Abenteuer glücklicherweise ein gutes Ende. Im Falle des Tschechen, der wohl am gleichen Tag wie ich unterwegs war, leider nicht. Der Gedanke lässt mich schaudern.


Der Elbrus – die Unfallstatistik
Interview mit Boris Tilov – dem Chef der Bergrettung der Elbrus Region; Datum: 19.11.2005
Quelle: http://www.summitpost.org/interview-with-boris-tilov-the-chef-of-the-rescue-service-of-elbrus-region/170539.
 
QUESTION: Boris, which is the most problematic mountain in the area of your responsibility. Where do most of the accidents happen?
 
B.T. Certainly it is Elbrus! (...) I can say that on the average from 15 to 30 people perish every year on Elbrus. The reason (...) is that many unorganized and poorly equipped people attempt to climb Elbrus, unlike the more difficult mountains, people who sometimes do not even bother to register and to receive some advice at the rescue service. (...) Even if such people are not first-timers here, in the mountains, they expose themselves and others to a serious risk by their self-confidence.
 
QUESTION: Well, all this that we spoke of above basically concerns Russian citizens who neglect elementary rules of behavior in the mountains. And what about the climbers from other countries? What number of accidents occurs among foreigners?
 
B.T. It is strange, but the foreigners, whose culture of mountain climbing should be more advanced than that of the Russians, get in emergencies more often than our compatriots. We can clearly see it by an example of this year - seven out of ten lethal accidents occurred to foreign citizens, it amounts to 70%...
 
QUESTION: Boris, what is the most widespread, common and main reason of the accidents on Elbrus?
 
B.T. First, most important as I think, is the general attitude to the Elbrus as to an easy mountain. At first sight it is true. And many are mistaken, taking the appearance for the truth. They start climbing late, go up to the Summit losing their last strength, and on the descent get caught up either by the nasty weather or by the darkness. The result in both cases is the same - people lose their way and perish in crevices. Or they freeze to death. Another cause is the sudden change of weather. The weather conditions on Elbrus can change literally in half an hour. Finding a track without visibility is very difficult, and losing it is easy as a nut. The result remains the same - a fall into a crevice. There are thousands of holes in the glaciers, more than a hundred meters deep - it is practically impossible to find an injured person who perished there.
There was a case when the climbers, going down to the South by the Classical route, lost their way and were led by the wind and the fog far to the right on the Northern side in the direction of Pyatigorsk. They have been found in 15 kilometers from Elbrus. This group was guided by a person who had climbed Elbrus 40 times. It shows how difficult it is to keep the right way on Elbrus in unfavorable conditions - even an experienced guide can lose the way. And the people who are for the first time on this mountain - what is it like for them? The famous climber Tenzing Norgay, the first to scale Mount Everest, couldn't climb Elbrus because of bad weather, he was wise enough to turn back. This fact of the Elbrus history speaks for itself.
The next cause of accidents is insufficient acclimatization. Many climbers overestimate their strength, hurry to climb. And sometimes they even succeed. But the exhaustion tells upon the health during descent, the weather turns bad, then darkness falls. The possibility that a person will be alive next morning after a night on Elbrus with no shelter if he did not reach base camp is very slight.
 
QUESTION: What do you think, Boris, does the use of high-quality equipment reduce the risk of accident?
 
B.T. Of course the use of expensive equipment can not compensate lack of personal experience, but actually good equipment significantly increases the level of your safety. For example, many climbers use portable GPS - navigating systems. This device helps to find the way even in conditions of total invisibility. But it will help only if you are able to operate it properly not only in favorable conditions, but also in extreme conditions, when the wind can lift a person in the air, and a snowstorm reduces visibility down to a couple of meters...
 

Massenbesteigungen am Elbrus – ist er deshalb ein leichter Berg?
Denkt man über den Schwierigkeitsgrad des Elbrus nach, so sind die Alpinaden (die nach den Alpen benannt sind, obwohl es dort nichts Vergleichbares gab) ein interessantes historisches Detail. Diese begannen 1933 und hatten das Ziel, möglichst viele Genossen auf den Gipfel zu bringen. Ähnlich wie in der Schweiz, wo bereits 1912 die Jungfraubahn gebaut wurde, wurde in der Vorkriegszeit auch der Elbrus so weit wie technisch möglich gewaltsam erschlossen. 1935 richtet das Sowjetreich eine Telefonverbindung bis zum Ostgipfel ein. 1937-1939 entstand mit der Prijut Odinnadzati (Zuflucht der Elf) eine bedeutende Bergsteigerunterkunft auf 4060m Höhe. Der überdimensionierte Autobus bot 125 Bergsteigern Platz. Es gab eine Küche, einen Speisesaal, eine Zentralheizung u elektrisches Licht. Sicher auch wegen des für die Zeit außergewöhnlichen Komforts war die Hütte während des Krieges ein umkämpftes Prestige-Objekt zwischen deutschen und sowjetischen Gebirgsjägern.
Nach dem Krieg wurden neue Alpinaden veranstaltet. 1967, zum 50. Jubiläum der Oktober-Revolution, erreichten an einem einzigen Tag 2500 Menschen den Gipfel.
 

Tourengänger: Chet


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