Auf den Spuren Otto Lilienthals, Teil 1: Rhinower Berge
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Version 2.0 vom 07.09.2024
Eine telefonische Anfrage von Herrn Wolfgang Lill von https://www.radiomuseum.org/ im Frühling dieses Jahres (dazu später mehr), hat mir eine vor 16 Jahren unternommene und dokumentierte Tour wieder in Erinnerung gerufen. Dank einiger neuer Erkenntnisse und Möglichkeiten, habe ich mich entschlossen, diesen Bericht von Grund auf zu überarbeiten und neu zu publizieren. Nebst dem eigentlichen Wanderbericht von 2008 werfe ich immer mal wieder einen Blick in die Geschichte, versuche aber aber auch die aktuelle Situation zu berücksichtigen, soweit ermittelbar.
Vorgeschichte
In den 1980er Jahren hat mich mein Vater gelegentlich mit der Zeitschrift FLUG REVUE erfreut, die ich genauso intensiv studiert und gelesen habe wie er, da er mir schon früh die Faszination für die Fliegerei mit auf den Weg gegeben hat. In der August-Ausgabe von 1986 stiess ich auf einen ganzseitigen Bericht über den Flugpionier Otto Lilienthal, der mir zuvor nicht bekannt war (S. 97, Scan siehe Galerie). Dabei haben vor allem folgende Sätze meine kindliche Phantasie beschäftigt:
Otto Lilienthal, der erste Flieger der Welt ist tot. Sein letzter Flug fand am Gollenberg bei Stölln in den Rhinower Bergen, etwa 100 km nordwestlich von Berlin statt. Eine Sonnenbö dürfte die Ursache gewesen sein, daß sein Flugapparat sich aufbäumte und abstürzte.
Wo das wohl sein könnte? Die mir damals zur Verfügung stehenden Karten zeigten nordwestlich von Berlin nur Flachland und lediglich ein paar wenige Ortsnamen. Von irgendwelchen Bergen oder einem Ort Stölln keine Spur. Dabei blieb es erstmal für einige Jahre.
Mit dem beruflichen Einstieg in die Kartographie 1991, der ungefähr zeitgleich mit der politischen Wende in Osteuropa erfolgte, rückte diese Geschichte wieder in den Vordergrund. Wie in diesem Bericht vom Sommer 2023 bereits erläutert, wurde durch die Übernahme des «Tourist Verlag» durch Fink-Kümmerly+Frey recht detailliertes Kartenmaterial aus der früheren DDR zugänglich. Am Hauptsitz in Bern nutzten wir diese Grundlagen, um die heute noch bekannten blauen Kümmerly+Frey Strassenkarten zu produzieren – eine Arbeit, in die auch wir Lehrlinge mit einbezogen wurden. Und bei dieser Tätigkeit stiess ich eines Tages auf eine Gegend, die mit «Ländchen Rhinow» bezeichnet war und an dessen Nordrand ein Ort Stölln eingetragen war. Des Rätsels Lösung lag vor mir.
Über den seinerzeitigen Reisebuchladen «Atlas» an der Schauplatzgasse in Bern, konnte ich in der Folge einige Kartenblätter der Massstäbe 1:25’000 und 1:50’000 beschaffen, welche diese Region abdecken. Für die Hintergründe verweise ich ebenfalls auf den zuvor verlinkten Bericht. Nun war es mir möglich, den zitierten Text des FLUG REVUE Berichts genau zu verorten. Dabei wurde mir auch bewusst, dass die Formulierung nicht ganz korrekt ist: Der Gollenberg liegt nicht in den Rhinower Bergen, sondern ostwärts davon und bildet einen isolierten Gipfel. Jetzt fehlte nur noch ein Augenschein vor Ort.
Anreise
Die Gelegenheit ergibt sich während eines Aufenthalts in der «Optikstadt» Rathenow, die südlich des Rhinower Ländchens an der Bahnlinie Hannover – Berlin liegt. An einem nebligen Morgen Ende September besteigen wir den Havelbus und fahren aus der Stadt nordwärts ins flache Land hinaus. Rund 45 Minuten dauert die Reise nach Rhinow und gibt einen guten Einblick in die Charakteristik dieser Region, die sich Westhavelland nennt. Ein noch vorhandener Ausdruck von einem meiner ersten «Gehversuche» im Internet vom März 1999 beschreibt das so:
Kilometerweit geht es durch einsame Wälder. Ländchen Rhinow nennt sich die Gegend, im Norden begrenzt durch die Rhinower Berge, da ist ein 96er dabei, wie sich Herr B. ausdrückte.
Vor allem aber ist es eine Landschaft zum Durchatmen mit einer Weite, von der wir im zersiedelten Schweizer Mittelland nur träumen können.
Stadt Rhinow
Rhinow liegt am Rand dieser grossen Weite und am Fuss der Hügelkette, deren Name «Rhinower Berge» mir schon so lange bekannt ist. Der Ort zählt zwar nur noch knapp 1600 Einwohner (Stand 2023), besitzt aber seit 1281 Stadtrecht. An der Haltestelle «Grundschule» steigen wir aus und machen uns bei beissender Kälte auf Entdeckungsreise. Weiterhin liegt dichter Nebel über uns, aber ein heller Streifen über den Rhinower Bergen zeigt an, dass die Sonne nicht mehr allzu fern ist. Wir haben genügend Zeit und wärmen uns erstmal bei einem Kaffee im Hotel «Zum Mühlenberg» auf. Dieses ist eigentlich noch geschlossen, dennoch werden wir freundlich empfangen und bewirtet!
Schräg gegenüber der Strasse liegt der still gelegte Bahnhof der ehemaligen Brandenburgischen Städtebahn. Seit hier 2003 zum letzten Mal Züge rollten, zerfällt die ganze Infrastruktur kontinuierlich. Die Gleise sind bereits so dicht mit Gestrüpp überwuchert, dass sie kaum noch zu sehen sind. Dabei hatte alles so viel versprechend angefangen:
Von grossem Einfluss auf die Hebung des Ortes war vor allem der Bau der Städtebahn im Jahre 1904. Durch diesen wichtigen Kulturfaktor […] sind neue Grundlagen einer weiteren gedeihlichen Entwicklung geschaffen. In ihnen liegen die Keime, aus denen der Stadt noch eine schöne Zukunft erblühen wird. (Specht, 1908, S. 55)
Leider wurde das Potenzial dieser Bahn in der jüngeren Vergangenheit wohl nicht mehr erkannt, mit der Folge, dass von den ehemals 4 Abschnitten der Städtebahn heute deren 3 still gelegt sind. Nur die Strecke Brandenburg a.d. Havel – Rathenow ist weiterhin (Stand 2024) in Betrieb. Ansonsten wird der Nahverkehr von der Havelbus Verkehrsgesellschaft mbH abgewickelt, die mehrere Linien mit unterschiedlichen Intervallen betreibt.
Positiv stimmt mich, dass das Bahnhofsgebäude in der Zwischenzeit umfassend saniert und im Innern gänzlich neu aufgebaut wurde. Auf der Seite des Kreativbüro Berlin – Kreativerie – sind die Details erläutert und dort erfährt man auch, dass in diesem altehrwürdigen Gebäude heute übernachtet werden kann.
Rhinower Berge
Beim Schützenhaus verlassen wir den Park, überschreiten die Städtebahn und kommen nun zu der größten Schönheit Rhinows, den Rhinower Bergen. (Specht, 1908, S. 45)
Der Stadtpark war vermutlich im westlichen Teil des Städtchens, zwischen der Bundesstrasse 102 (Rathenower Straße) und der Städtebahn, wo sich heute Wald erstreckt. Wir folgen stattdessen der Lilienthalstraße (etwas weiter östlich davon) und überqueren einen gut 5 m tiefen Graben, in dem das auch hier stark eingewachsene Gleis der Städtebahn verläuft. Dahinter steigt der Pfad weiter an und erreicht die bewaldeten Rhinower Berge. Das waren sie nicht immer:
Die Berge, die größtenteils kahl sind, boten vor zwei Jahrhunderten ein anderes Bild. Das ganze Gebirge des Ländchens war mit prächtigem Wald bestanden, der später von den Herren v. d. Hagen gefällt wurde. (Specht, 1908, S. 47)
Die zwischenzeitlich also kahlen Erhebungen kamen dann auch dem Flugpionier Otto Lilienthal zugute, wie wir noch sehen werden. Dass nun aber der ursprüngliche Zustand wieder hergestellt ist, kann uns nur recht sein, denn die lichten Kiefern- und Eichenwälder bieten gerade an einem sonnigen Herbsttag wie heute ein prächtiges Bild.
Unser erstes Ziel ist der 76.1 m hohe Galgenberg, der westlichste Punkt, der ca. 2.5 km langen Hügelkette, den wir aus einem engen Graben heraus erreichen. Der auf der Freizeitkarte «Westhavelland Nord 1:50’000» hier vermerkte Aussichtsturm, erweist sich als eine Art Hochsitz, befestigt an einem frei stehenden Baum und über eine Eisenleiter zu erreichen. Klein, aber fein!
Wir gehen anschliessend ein Stück zurück bis zum «Bergrundweg» und folgen dann einer dünnen Spur, die sehr steil gegen die andere Seite des Grabens ansteigt. Weiter oben verliert sie sich im lichten Wald aber wir stossen bald auf den Weg, der zum Osterberg (Pt. 94.4 gemäss Generalstabskarte um 1900) führt. Durch eine Einsattelung ist es nun nicht mehr weit bis zum Falkenberg, Pt. 96.1.
Dem Galgenberg gegenüber, auf der anderen Seite des Hohlweges, erhebt sich der höchste der Rhinower Berge, der Fackelberg, mit 98 m Höhe, weiterhin der Namensberg. Der Fackelberg, der […] auf den Generalstabskarten aber fälschlicherweise als Falkenberg bezeichnet wird, hat seinen Namen vielleicht von den Osterfeuern, die dort früher wie eine Fackel in das Land leuchteten. (Specht, 1908, S. 47)
Der «falsche» Name ist auf den amtlichen topographischen Karten bis heute geblieben, kennzeichnet aber eindeutig den Pt. 96.1, während der weiter östlich gelegene, höchste Punkt (98.5 m) namenlos ist.
Auf dem Falkenberg wuchern Essigbäume, eine aus dem Nordosten der USA stammende Pflanzenart, die gelegentlich auch in Europa anzutreffen ist. Daran angrenzend, links des Pfades, tauchen hinter Mauern und Stacheldraht teilweise verfallene Gebäude auf. Es ist das Gelände der Funkbetriebsstelle Rhinow und deren spannende Geschichte wurde von Wolfgang Lill 2024 hier dokumentiert. Bei der Grundlagenbeschaffung stiess er u.a. auf meine anschliessend an diesen Urlaub erstellte Detailkarte, weshalb er mich kontaktiert hat, wie eingangs erwähnt.
Wesentlichstes Merkmal der Funkbetriebsstelle ist der etwas weiter östlich gelegene, weithin sichtbare, 86 m hohe «Fernsehturm», der wie ein Leuchtturm aussieht. Aufgrund des seitlich angebrachten Fahrstuhlschachtes wurde er von vielen auch als «Raketenabschussrampe» bezeichnet. Der Mauer entlang stehen wir bald am Zaun, welcher das Turmgelände für Unbefugte absperrt. Dort oben genösse man sicherlich eine grossartige Aussicht, während hier inmitten des Waldes der Blick leider nicht sehr weit reicht, auch wenn der Wanderführer Mark Brandenburg/West hierzu anderes berichtet:
Durch die Waldschneise überrascht uns der Blick nach Süden in das Ländchen Rhinow und auf die Röneberge. (Frey, 1993, S. 74)
Entweder ist eine Stelle weiter östlich gemeint oder die Waldschneise ist seit der Begehung, die diesem Routenbeschrieb zugrunde liegt, wieder zugewachsen.
Die 1956 für den Bau der Anlage erstellte Pflastersteinstrasse führt von Rhinow bis hier hinauf. Wir folgen ihr ein Stück abwärts und biegen beim Pumpwerk in der Haarnadelkurve links in einen Pfad ein, der uns zum Hauptmannsberg (Pt. 95 gemäss Generalstabskarte um 1900) führt. Am Gipfel liegt Joachim von der Hagen (1874 – 1914) begraben, einst Hauptmann und «Herr auf Rhinow».
Details gemäss: http://www.kriegsopfergedenken.de/havelland/rhinow.html
1. Weltkrieg, Grab des Hauptmanns von der Hagen auf dem sogenannten „Hauptmannsberg“
Inschrift:
Joachim von der Hagen
Hauptmann und Komp. Chef
Im Kaiser Alexander
Garde-Grenadier-Regiment
Ritter des Eisernen Kreuzes
Herr auf Rhinow
* 27. Dezember 1874 in Berlin
+ 3. Oktober 1914 in Bapaume
Er starb für Kaiser und Reich
Otto Lilienthal
Im Nordwesthang stossen wir auf eine weitere Besonderheit: Auf ca. 70 m Höhe steht ein Denkmal für den ersten Flieger der Welt, Otto Lilienthal, mit dem diese Geschichte begonnen hat. Diese Stelle hat er für seine Flugversuche oft genutzt. Im Jahresbericht 1893 schreibt er:
Als ich in diesem Jahre zum erstenmal an diesen Bergabhängen mein Flugzeug entfaltete, überkam mich freilich ein etwas ängstliches Gefühl, als ich mir sagte: «Von hier oben sollst du nun in das tief da unten liegende, weit ausgedehnte Land hinaussegeln!» Allein die ersten vorsichtigen Sprünge gaben mir bald das Bewusstsein der Sicherheit zurück: denn der Segelflug ging hier ungleich sanfter vonstatten als von meinem Fliegeturm. (Schwipps, 1979, S. 256, 257).
Die Rhinower Berge wurden für den Flugpionier aus Anklam ab 1893 zum Hauptübungsplatz. Schon ein Jahr zuvor hat er auf dieses ideale Gelände hingewiesen, welches jedoch von seinem Wohnort Berlin aus recht entlegen und nur zeitintensiv zu erreichen war. Die völlig kahlen Hänge unterschiedlicher Neigung und die Höhenunterschiede von über 60 m erlaubten ihm jedoch bereits im ersten Jahr Flüge von 250 Metern Weite.
Es währt nicht lange, versichert er, so ist es dem Fliegenden gleichgültig, ob er zwei Meter oder zwanzig Meter über dem Erdboden dahinschwebt. Er fühlt ja, wie sicher die Luft ihn trägt. Bald setzt er über Schluchten hinweg und streicht mehrere hundert Meter ohne alle Gefahr durch die Luft dahin. (Schwipps, 1979, S. 259)
Wir können leider nicht schweben, sondern uns bestenfalls vorstellen, wie es gewesen sein könnte, während wir gemütlich auf dem Pfad durch den schönen Laubwald gegen die Ebene hinunter spazieren. Am Fusse des Berges angelangt, gehen wir weglos oberhalb eines abgeernteten Maisfeldes ostwärts, bis wir wieder auf die Turmstrasse stossen, der wir ein Stück bergwärts folgen und wenig später über einen Waldweg eine alte Sandgrube erreichen. Daran angrenzend erhebt sich der Messpunkt 96.7 (DDR-Karte), die östlichste Erhebung der Rhinower Berge, die wir weglos durchs Dickicht besteigen. Die Vegetation ist auch hier so hoch gewachsen, dass nur hin und wieder durch das Geäst ein Blick in die Weite ringsum geworfen werden kann.
Der Abstieg nach Süden ist ebenfalls weglos, im hier lichteren Wald aber wesentlich angenehmer. Weit dehnt sich nun zu unserer Rechten die Landschaft des Rhinower Ländchens aus. Riesige Getreidefelder, wie sie im Zuge der Kollektivierung zu DDR-Zeiten angelegt wurden, prägen das Bild. Auch die LPG (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft) die wir als nächstes passieren, ist ein typisches DDR-Gebilde, wie so vieles leider halbverfallen. Gemäss Google Maps ist dies heute die Agrargenossenschaft Stölln e.G.
Schliesslich erreichen wir am Strässchen Stölln – Schönholz die Häuser von Stölln. Bis zur Ortsmitte wäre es von dieser Stelle nur rund einen Kilometer zu gehen. Für uns beginnt hier aber der zweite Teil der Tour, im Gebiet des Gollenberges (Fortsetzung).
Literatur und weitere verwendete Grundlagen
Eine telefonische Anfrage von Herrn Wolfgang Lill von https://www.radiomuseum.org/ im Frühling dieses Jahres (dazu später mehr), hat mir eine vor 16 Jahren unternommene und dokumentierte Tour wieder in Erinnerung gerufen. Dank einiger neuer Erkenntnisse und Möglichkeiten, habe ich mich entschlossen, diesen Bericht von Grund auf zu überarbeiten und neu zu publizieren. Nebst dem eigentlichen Wanderbericht von 2008 werfe ich immer mal wieder einen Blick in die Geschichte, versuche aber aber auch die aktuelle Situation zu berücksichtigen, soweit ermittelbar.
Vorgeschichte
In den 1980er Jahren hat mich mein Vater gelegentlich mit der Zeitschrift FLUG REVUE erfreut, die ich genauso intensiv studiert und gelesen habe wie er, da er mir schon früh die Faszination für die Fliegerei mit auf den Weg gegeben hat. In der August-Ausgabe von 1986 stiess ich auf einen ganzseitigen Bericht über den Flugpionier Otto Lilienthal, der mir zuvor nicht bekannt war (S. 97, Scan siehe Galerie). Dabei haben vor allem folgende Sätze meine kindliche Phantasie beschäftigt:
Otto Lilienthal, der erste Flieger der Welt ist tot. Sein letzter Flug fand am Gollenberg bei Stölln in den Rhinower Bergen, etwa 100 km nordwestlich von Berlin statt. Eine Sonnenbö dürfte die Ursache gewesen sein, daß sein Flugapparat sich aufbäumte und abstürzte.
Wo das wohl sein könnte? Die mir damals zur Verfügung stehenden Karten zeigten nordwestlich von Berlin nur Flachland und lediglich ein paar wenige Ortsnamen. Von irgendwelchen Bergen oder einem Ort Stölln keine Spur. Dabei blieb es erstmal für einige Jahre.
Mit dem beruflichen Einstieg in die Kartographie 1991, der ungefähr zeitgleich mit der politischen Wende in Osteuropa erfolgte, rückte diese Geschichte wieder in den Vordergrund. Wie in diesem Bericht vom Sommer 2023 bereits erläutert, wurde durch die Übernahme des «Tourist Verlag» durch Fink-Kümmerly+Frey recht detailliertes Kartenmaterial aus der früheren DDR zugänglich. Am Hauptsitz in Bern nutzten wir diese Grundlagen, um die heute noch bekannten blauen Kümmerly+Frey Strassenkarten zu produzieren – eine Arbeit, in die auch wir Lehrlinge mit einbezogen wurden. Und bei dieser Tätigkeit stiess ich eines Tages auf eine Gegend, die mit «Ländchen Rhinow» bezeichnet war und an dessen Nordrand ein Ort Stölln eingetragen war. Des Rätsels Lösung lag vor mir.
Über den seinerzeitigen Reisebuchladen «Atlas» an der Schauplatzgasse in Bern, konnte ich in der Folge einige Kartenblätter der Massstäbe 1:25’000 und 1:50’000 beschaffen, welche diese Region abdecken. Für die Hintergründe verweise ich ebenfalls auf den zuvor verlinkten Bericht. Nun war es mir möglich, den zitierten Text des FLUG REVUE Berichts genau zu verorten. Dabei wurde mir auch bewusst, dass die Formulierung nicht ganz korrekt ist: Der Gollenberg liegt nicht in den Rhinower Bergen, sondern ostwärts davon und bildet einen isolierten Gipfel. Jetzt fehlte nur noch ein Augenschein vor Ort.
Anreise
Die Gelegenheit ergibt sich während eines Aufenthalts in der «Optikstadt» Rathenow, die südlich des Rhinower Ländchens an der Bahnlinie Hannover – Berlin liegt. An einem nebligen Morgen Ende September besteigen wir den Havelbus und fahren aus der Stadt nordwärts ins flache Land hinaus. Rund 45 Minuten dauert die Reise nach Rhinow und gibt einen guten Einblick in die Charakteristik dieser Region, die sich Westhavelland nennt. Ein noch vorhandener Ausdruck von einem meiner ersten «Gehversuche» im Internet vom März 1999 beschreibt das so:
Kilometerweit geht es durch einsame Wälder. Ländchen Rhinow nennt sich die Gegend, im Norden begrenzt durch die Rhinower Berge, da ist ein 96er dabei, wie sich Herr B. ausdrückte.
Vor allem aber ist es eine Landschaft zum Durchatmen mit einer Weite, von der wir im zersiedelten Schweizer Mittelland nur träumen können.
Stadt Rhinow
Rhinow liegt am Rand dieser grossen Weite und am Fuss der Hügelkette, deren Name «Rhinower Berge» mir schon so lange bekannt ist. Der Ort zählt zwar nur noch knapp 1600 Einwohner (Stand 2023), besitzt aber seit 1281 Stadtrecht. An der Haltestelle «Grundschule» steigen wir aus und machen uns bei beissender Kälte auf Entdeckungsreise. Weiterhin liegt dichter Nebel über uns, aber ein heller Streifen über den Rhinower Bergen zeigt an, dass die Sonne nicht mehr allzu fern ist. Wir haben genügend Zeit und wärmen uns erstmal bei einem Kaffee im Hotel «Zum Mühlenberg» auf. Dieses ist eigentlich noch geschlossen, dennoch werden wir freundlich empfangen und bewirtet!
Schräg gegenüber der Strasse liegt der still gelegte Bahnhof der ehemaligen Brandenburgischen Städtebahn. Seit hier 2003 zum letzten Mal Züge rollten, zerfällt die ganze Infrastruktur kontinuierlich. Die Gleise sind bereits so dicht mit Gestrüpp überwuchert, dass sie kaum noch zu sehen sind. Dabei hatte alles so viel versprechend angefangen:
Von grossem Einfluss auf die Hebung des Ortes war vor allem der Bau der Städtebahn im Jahre 1904. Durch diesen wichtigen Kulturfaktor […] sind neue Grundlagen einer weiteren gedeihlichen Entwicklung geschaffen. In ihnen liegen die Keime, aus denen der Stadt noch eine schöne Zukunft erblühen wird. (Specht, 1908, S. 55)
Leider wurde das Potenzial dieser Bahn in der jüngeren Vergangenheit wohl nicht mehr erkannt, mit der Folge, dass von den ehemals 4 Abschnitten der Städtebahn heute deren 3 still gelegt sind. Nur die Strecke Brandenburg a.d. Havel – Rathenow ist weiterhin (Stand 2024) in Betrieb. Ansonsten wird der Nahverkehr von der Havelbus Verkehrsgesellschaft mbH abgewickelt, die mehrere Linien mit unterschiedlichen Intervallen betreibt.
Positiv stimmt mich, dass das Bahnhofsgebäude in der Zwischenzeit umfassend saniert und im Innern gänzlich neu aufgebaut wurde. Auf der Seite des Kreativbüro Berlin – Kreativerie – sind die Details erläutert und dort erfährt man auch, dass in diesem altehrwürdigen Gebäude heute übernachtet werden kann.
Rhinower Berge
Beim Schützenhaus verlassen wir den Park, überschreiten die Städtebahn und kommen nun zu der größten Schönheit Rhinows, den Rhinower Bergen. (Specht, 1908, S. 45)
Der Stadtpark war vermutlich im westlichen Teil des Städtchens, zwischen der Bundesstrasse 102 (Rathenower Straße) und der Städtebahn, wo sich heute Wald erstreckt. Wir folgen stattdessen der Lilienthalstraße (etwas weiter östlich davon) und überqueren einen gut 5 m tiefen Graben, in dem das auch hier stark eingewachsene Gleis der Städtebahn verläuft. Dahinter steigt der Pfad weiter an und erreicht die bewaldeten Rhinower Berge. Das waren sie nicht immer:
Die Berge, die größtenteils kahl sind, boten vor zwei Jahrhunderten ein anderes Bild. Das ganze Gebirge des Ländchens war mit prächtigem Wald bestanden, der später von den Herren v. d. Hagen gefällt wurde. (Specht, 1908, S. 47)
Die zwischenzeitlich also kahlen Erhebungen kamen dann auch dem Flugpionier Otto Lilienthal zugute, wie wir noch sehen werden. Dass nun aber der ursprüngliche Zustand wieder hergestellt ist, kann uns nur recht sein, denn die lichten Kiefern- und Eichenwälder bieten gerade an einem sonnigen Herbsttag wie heute ein prächtiges Bild.
Unser erstes Ziel ist der 76.1 m hohe Galgenberg, der westlichste Punkt, der ca. 2.5 km langen Hügelkette, den wir aus einem engen Graben heraus erreichen. Der auf der Freizeitkarte «Westhavelland Nord 1:50’000» hier vermerkte Aussichtsturm, erweist sich als eine Art Hochsitz, befestigt an einem frei stehenden Baum und über eine Eisenleiter zu erreichen. Klein, aber fein!
Wir gehen anschliessend ein Stück zurück bis zum «Bergrundweg» und folgen dann einer dünnen Spur, die sehr steil gegen die andere Seite des Grabens ansteigt. Weiter oben verliert sie sich im lichten Wald aber wir stossen bald auf den Weg, der zum Osterberg (Pt. 94.4 gemäss Generalstabskarte um 1900) führt. Durch eine Einsattelung ist es nun nicht mehr weit bis zum Falkenberg, Pt. 96.1.
Dem Galgenberg gegenüber, auf der anderen Seite des Hohlweges, erhebt sich der höchste der Rhinower Berge, der Fackelberg, mit 98 m Höhe, weiterhin der Namensberg. Der Fackelberg, der […] auf den Generalstabskarten aber fälschlicherweise als Falkenberg bezeichnet wird, hat seinen Namen vielleicht von den Osterfeuern, die dort früher wie eine Fackel in das Land leuchteten. (Specht, 1908, S. 47)
Der «falsche» Name ist auf den amtlichen topographischen Karten bis heute geblieben, kennzeichnet aber eindeutig den Pt. 96.1, während der weiter östlich gelegene, höchste Punkt (98.5 m) namenlos ist.
Auf dem Falkenberg wuchern Essigbäume, eine aus dem Nordosten der USA stammende Pflanzenart, die gelegentlich auch in Europa anzutreffen ist. Daran angrenzend, links des Pfades, tauchen hinter Mauern und Stacheldraht teilweise verfallene Gebäude auf. Es ist das Gelände der Funkbetriebsstelle Rhinow und deren spannende Geschichte wurde von Wolfgang Lill 2024 hier dokumentiert. Bei der Grundlagenbeschaffung stiess er u.a. auf meine anschliessend an diesen Urlaub erstellte Detailkarte, weshalb er mich kontaktiert hat, wie eingangs erwähnt.
Wesentlichstes Merkmal der Funkbetriebsstelle ist der etwas weiter östlich gelegene, weithin sichtbare, 86 m hohe «Fernsehturm», der wie ein Leuchtturm aussieht. Aufgrund des seitlich angebrachten Fahrstuhlschachtes wurde er von vielen auch als «Raketenabschussrampe» bezeichnet. Der Mauer entlang stehen wir bald am Zaun, welcher das Turmgelände für Unbefugte absperrt. Dort oben genösse man sicherlich eine grossartige Aussicht, während hier inmitten des Waldes der Blick leider nicht sehr weit reicht, auch wenn der Wanderführer Mark Brandenburg/West hierzu anderes berichtet:
Durch die Waldschneise überrascht uns der Blick nach Süden in das Ländchen Rhinow und auf die Röneberge. (Frey, 1993, S. 74)
Entweder ist eine Stelle weiter östlich gemeint oder die Waldschneise ist seit der Begehung, die diesem Routenbeschrieb zugrunde liegt, wieder zugewachsen.
Die 1956 für den Bau der Anlage erstellte Pflastersteinstrasse führt von Rhinow bis hier hinauf. Wir folgen ihr ein Stück abwärts und biegen beim Pumpwerk in der Haarnadelkurve links in einen Pfad ein, der uns zum Hauptmannsberg (Pt. 95 gemäss Generalstabskarte um 1900) führt. Am Gipfel liegt Joachim von der Hagen (1874 – 1914) begraben, einst Hauptmann und «Herr auf Rhinow».
Details gemäss: http://www.kriegsopfergedenken.de/havelland/rhinow.html
1. Weltkrieg, Grab des Hauptmanns von der Hagen auf dem sogenannten „Hauptmannsberg“
Inschrift:
Joachim von der Hagen
Hauptmann und Komp. Chef
Im Kaiser Alexander
Garde-Grenadier-Regiment
Ritter des Eisernen Kreuzes
Herr auf Rhinow
* 27. Dezember 1874 in Berlin
+ 3. Oktober 1914 in Bapaume
Er starb für Kaiser und Reich
Otto Lilienthal
Im Nordwesthang stossen wir auf eine weitere Besonderheit: Auf ca. 70 m Höhe steht ein Denkmal für den ersten Flieger der Welt, Otto Lilienthal, mit dem diese Geschichte begonnen hat. Diese Stelle hat er für seine Flugversuche oft genutzt. Im Jahresbericht 1893 schreibt er:
Als ich in diesem Jahre zum erstenmal an diesen Bergabhängen mein Flugzeug entfaltete, überkam mich freilich ein etwas ängstliches Gefühl, als ich mir sagte: «Von hier oben sollst du nun in das tief da unten liegende, weit ausgedehnte Land hinaussegeln!» Allein die ersten vorsichtigen Sprünge gaben mir bald das Bewusstsein der Sicherheit zurück: denn der Segelflug ging hier ungleich sanfter vonstatten als von meinem Fliegeturm. (Schwipps, 1979, S. 256, 257).
Die Rhinower Berge wurden für den Flugpionier aus Anklam ab 1893 zum Hauptübungsplatz. Schon ein Jahr zuvor hat er auf dieses ideale Gelände hingewiesen, welches jedoch von seinem Wohnort Berlin aus recht entlegen und nur zeitintensiv zu erreichen war. Die völlig kahlen Hänge unterschiedlicher Neigung und die Höhenunterschiede von über 60 m erlaubten ihm jedoch bereits im ersten Jahr Flüge von 250 Metern Weite.
Es währt nicht lange, versichert er, so ist es dem Fliegenden gleichgültig, ob er zwei Meter oder zwanzig Meter über dem Erdboden dahinschwebt. Er fühlt ja, wie sicher die Luft ihn trägt. Bald setzt er über Schluchten hinweg und streicht mehrere hundert Meter ohne alle Gefahr durch die Luft dahin. (Schwipps, 1979, S. 259)
Wir können leider nicht schweben, sondern uns bestenfalls vorstellen, wie es gewesen sein könnte, während wir gemütlich auf dem Pfad durch den schönen Laubwald gegen die Ebene hinunter spazieren. Am Fusse des Berges angelangt, gehen wir weglos oberhalb eines abgeernteten Maisfeldes ostwärts, bis wir wieder auf die Turmstrasse stossen, der wir ein Stück bergwärts folgen und wenig später über einen Waldweg eine alte Sandgrube erreichen. Daran angrenzend erhebt sich der Messpunkt 96.7 (DDR-Karte), die östlichste Erhebung der Rhinower Berge, die wir weglos durchs Dickicht besteigen. Die Vegetation ist auch hier so hoch gewachsen, dass nur hin und wieder durch das Geäst ein Blick in die Weite ringsum geworfen werden kann.
Der Abstieg nach Süden ist ebenfalls weglos, im hier lichteren Wald aber wesentlich angenehmer. Weit dehnt sich nun zu unserer Rechten die Landschaft des Rhinower Ländchens aus. Riesige Getreidefelder, wie sie im Zuge der Kollektivierung zu DDR-Zeiten angelegt wurden, prägen das Bild. Auch die LPG (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft) die wir als nächstes passieren, ist ein typisches DDR-Gebilde, wie so vieles leider halbverfallen. Gemäss Google Maps ist dies heute die Agrargenossenschaft Stölln e.G.
Schliesslich erreichen wir am Strässchen Stölln – Schönholz die Häuser von Stölln. Bis zur Ortsmitte wäre es von dieser Stelle nur rund einen Kilometer zu gehen. Für uns beginnt hier aber der zweite Teil der Tour, im Gebiet des Gollenberges (Fortsetzung).
Literatur und weitere verwendete Grundlagen
- FLUG REVUE, Nr. 8/August 1986, Vereinigte Motor-Verlage, Stuttgart, 1986
- Frey, Hildegard und Wolfgang: Wanderführer Mark Brandenburg/West, Deutscher Wanderverlag, Stuttgart 1993
- Schwipps, Werner: Lilienthal, arani-Verlag, Berlin 1979
- Specht, Walther: Rathenower Wanderbücher, Nr. 3 Stadt und Ländchen Rhinow, Verlag L. Rackwitz, Rathenow 1908
- Wolf, Friedrich: Regionalführer Brandenburg, Tourist Verlag, Berlin 1991
- Gedenk-Seite für die Opfer aller Kriege im Nordwesten Brandenburgs und der Altmark: Rhinow: http://www.kriegsopfergedenken.de/havelland/rhinow.html
- Reisebericht vom «Dienstag, 29.6» eines unbekannten Autors: http://www-public.tu-bs.de:8080/~wittram/reisen/Meck93/Kapitel/Di2906.htm (ausgedruckt und letzter Aufruf: 20.03.1999)
- Wikipedia: Rhinow: https://de.wikipedia.org/wiki/Rhinow
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