Wandern, um nicht normal zu werden: Bocchetta d'Era


Publiziert von mong , 1. Mai 2018 um 00:37.

Region: Welt » Schweiz » Tessin » Bellinzonese
Tour Datum:11 September 2006
Wandern Schwierigkeit: T6 - schwieriges Alpinwandern
Wegpunkte:
Geo-Tags: CH-TI   Gruppo Scopi   Gruppo Pizzo Molare   Gruppo Pizzo del Sole 
Zeitbedarf: 8:00
Aufstieg: 784 m
Abstieg: 964 m
Strecke:Acquacalda - Bocchetta d'Era - Carì
Zufahrt zum Ausgangspunkt:Acquacalda
Zufahrt zum Ankunftspunkt:Carì
Kartennummer:1252 Ambrì-Piotta

Normal zu werden wäre für mich der nackte Horror.

Lieber frei als normal.

Aber mit der Freiheit ist es so eine Sache.
Sie existiert nur im Kopf.
Dort tarnt sich die Freiheit als Phantasie.

Die Phantasie hat einen schlechten Ruf
(als ob sie weniger wäre als die Realität).

Aber sie existiert.

Und darum existiert auch die Freiheit.

Und darum hat auch die Freiheit einen schlechten Ruf.

Eigentlich ist das ja logisch.

Denn mit freien Erdbewohnern kann man nicht viel anfangen.

Man kann sie zu nichts zwingen. 

Nichts sei gratis auf dieser Welt, alles habe seinen Preis,
man müsse für alles bezahlen (hat Jack London behauptet).

Ich bin mit Jack London einverstanden.

Darum musste ich für die Bocchetta d'Era bezahlen.
Mit Schweiss und mit Angst und mit Durst.


Aber ich bin ja nicht blöd: 

Wenn ich für etwas bezahle, will ich auch etwas dafür bekommen:

Auf der Bocchetta d'Era habe ich die Ekstase bekommen.
(Und wenn ich sie nicht bekommen hätte, dann hätte ich sie genommen ;-)


Wegbeschreibung:

Von Schattdorf (UR) mit dem Bus nach Erstfeld (UR)
und dann mit dem Zug nach Biasca (TI)
und dann mit dem Bus nach Olivone im Valle di Blenio
und dann mit dem Postauto bis Acquacalda im Valle Santa Maria

Das sind zirka 3 Stunden Fahrt mit dem öV.
Vielleicht sind es auch 4 Stunden.
Ich bin nicht pingelig. 

Ich fahre gerne mit dem öV. Warum?
Weil ich im Zug und in den Bussen und in den Postautos ungestört lesen kann.

Sobald ich ein spannendes Buch in die Finger kriege, 
erlebe ich nur noch das, was im Text steht.

Im Bus oder im Postauto oder im Zug kann um mich herum
eine wilde Tessiner Schulklasse herumtoben und wüten,
ich merke das nicht einmal. Ich höre nichts. 

Eine Wandergruppe aus der Deutschschweiz kann sich um mich herum setzen
und reden oder singen oder  machen und tun - ich höre nichts.

Die Welt kann untergehen, während ich lese - das ist für mich kein Problem.
Denn es passieren sowieso nur jene Ereignisse, die ich wahrnehme.
Wenn also der Weltuntergang stattfindet, während ich
in meinen Thriller von John le Carré vertieft bin
und darum den doofen Weltuntergang verpasse,
dann gibt es den Weltuntergang nur für alle Leute um mich herum - aber nicht für mich.

Soviel zum Weltuntergang, und wie man ihm ausweichen kann.

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In Acquacalda im Valle Santa Maria bin ich dann
aus dem Postauto ausgestiegen und habe mich gleich gefragt,
was eigentlich der Unterschied ist zwischen einer Sekunde und vier Milliarden Jahren.

Meine Antwort (an mich selber) war: Es gibt keinen Unterschied.
Ich kann in einer einzigen interessanten Sekunde genausoviel erleben
wie in vier Milliarden langweiligen Jahren.

Damit war das Problem mit der Sekunde und den vier Milliarden Jahren erledigt,
und ich machte mich auf den Weg von Acquacalda auf die Bocchetta d'Era
und dann hinunter nach Carì.

Es ist schon lange her.
_________________________

In mein Tagebuch habe ich am 11. September 2006 geschrieben:

Wanderung:
Acquacalda - Pian Segno - Brönich - Frodalera - Stabbio Vecchio -
Laraset - Toròi di sotto - Foppe dei Toròi - Toròi di sopra - 
BOCCHETTA D'ERA (SUD) - Venn - All'Uomo - Pian Cavallo - 
Canariscio - Brusada - Alpe di Carì - Stabbio - Carì di dentro - 
Cassinello - CARÌ


(Die Grossbuchstaben stehen so in meinem Tagebuch.)

Und dann steht noch unten auf der Seite:
"Sbagliato il sentiero due volte !!"
(Auf Deutsch: Den Weg zwei Mal verfehlt !!)
____________________

Aber heute kann ich mich nur noch daran erinnern,
dass ich über Wiesen und Grashalden und Steinwüsten
und Geröllhalden und über Blockhalden 
und - nicht zuletzt - über Schweisshalden zur Bocchetta d'Era
hinaufgestiegen und dann über halsbrecherische Gras- und 
Block- und Geröllhalden hinunter nach Carì gewandert bin,
wo mich das letzte Postauto des Tages
bis nach Faido mitgenommen hat.

(Zu euch gesagt: Der Chauffeur war in eine Frau verliebt.
Auf halbem Weg - etwas oberhalb von Calpiogna - hat er angehalten,
ist ausgestiegen und hat seine Geliebte geküsst,
die am Strassenrand auf ihn gewartet hat. 
Dann ist er wieder eingestiegen 
und ist mit uns Wanderern
mit seinem Postauto weiter bis
hinunter nach Faido gefahren.)

(Ehrlich gesagt: Wir Postauto-Touristen kamen uns schon ein bisschen blöd vor.)

(Ich meine, ein Chauffeur sollte doch zuerst für seine Fahrgäste schauen, oder nicht?)

Aber die Tessiner sind halt so. Sobald sie die Liebe spüren, kennen sie nichts mehr.

Soviel zur Wegbeschreibung.


Was ich unterwegs auf meiner Wanderung
über die Bocchetta d'Era erlebt und gedacht habe,
glaubt mir ja sowieso kein Mensch.
Darum erzähle ich auch nichts darüber.

(Ausserdem wäre es verdammt schwierig,
das zu beschreiben. Die Worte dazu fehlen mir.)
__________


Zwischenhinein ein Witz:

Wisst ihr, warum es praktisch keine Berichte
gibt von Matrosen, die zur See gefahren sind?
Antwort: Die Matrosen denken, dass ihnen 
sowieso niemand glauben würde.

(Haha!)
__________

Und sowieso:
Jede und jeder von uns könnte den allergenialsten Bericht
über höllisch geniale Wanderungen seit Dante schreiben.

Aber weil wir alle so bescheiden sind bis zum Abwinken, 
wagen wir das nicht.

Schade.

;-)
__________

__________________________________










Tourengänger: mong


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Kommentare (2)


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micaela hat gesagt:
Gesendet am 1. Mai 2018 um 06:54
Grande testo.
Grande Mong.
Ciao, Micaela

mong hat gesagt: RE:
Gesendet am 2. Mai 2018 um 18:11
Grazie mille, cara Micaela!
Però, sei troppo generosa!

;-)))

Ciao, Jerry


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