Ein Artikel aus der NZZ vom 13.05.2011 über die Via alta della Verzasca:
[http://www.nzz.ch/magazin/reisen/weit_weg_von_der_welt_1.10560603.html]
Weit weg von der Welt
Die Via Alta della Verzasca - ein anspruchsvoller Höhenweg durch die raue Tessiner Berglandschaft
Die Tessiner Alpen zählen zu den einsamsten, ursprünglichsten Landschaften der Schweiz. Das gilt besonders für das Verzascatal, dessen einzigartiger Höhenweg unter schwindelfreien Alpinwanderern einen ausgezeichneten Ruf geniesst.
Der Intercity-Neigezug flitzt mit über hundert Kilometern pro Stunde von Biasca Richtung Bellinzona. Die meisten Passagiere dösen, lesen Zeitung oder planen den bevorstehenden Ausflug. Derweil rasen beidseits des engen Tals steile Waldflanken vorbei, durchsetzt von Felsfluchten. Weiter oben, bald sichtbar, bald bloss zu erahnen, steinige Kreten. Stotziges Tessin. Der Blick nach rechts, westwärts, lässt ab und zu ein Stück jenes Kamms erhaschen, hinter dem sich das Val Verzasca verbirgt, das schroffste Tal des Südkantons. Wer käme da auf die Idee, dort oben herumzustreifen, so weit weg von allem, so fern gerühmter Sehenswürdigkeiten und alpinistischer Lorbeeren? Dennoch verirren sich erstaunlich viele Besucher dorthin - und es werden immer mehr. Der Grund hat einen Namen: Via Alta della Verzasca. Was so viel heisst wie: zwischen Ziegen und Gemsen über ausgesetzte Grate balancieren, abschüssige Grashänge queren, weitläufige Blockfelder durchschreiten, über Felspassagen kraxeln - an der Grenze zwischen klassischem Bergwandern und traditionellem Bergsteigen.
Abgeschiedenheit
Auch wir standen dort oben, mehrmals schon. Von einem Besuch, es ist eine Weile her, hat sich nicht nur das Erlebnis eingebrannt, sondern auch das Datum: 9/11. Nach einer schweisstreibenden Etappe sassen wir vor der Capanna Efra und genossen die herbstliche Nachmittagssonne, als plötzlich der Hirte von der nahen Alp herangerannt kam und ausser Atem erzählte, vom Radio Schlimmes vernommen zu haben. Ein Flugzeug sei in das World Trade Center geflogen, es sei mit vielen Opfern zu rechnen. Ein Attentat. Inmitten dieser Abgeschiedenheit hatte uns ein entsetzlicher Fetzen Information erreicht, ein Puzzleteil aus der Weltgeschichte, das wir mit unserem friedlichen Befinden nicht in Einklang zu bringen wussten. In einem Schwebezustand zwischen kleinräumiger Zufriedenheit und globalen Sorgen folgten wir noch zwei Tage lang der Via Alta della Verzasca, ehe sich in der Capanna Barone wieder ein Radioempfänger auftreiben liess. Wie wir erfuhren, waren es mehrere Flugzeuge, beide Türme und das Pentagon gewesen. Ein für uns unvergessliches Lehrstück dafür, wie weit weg von der Welt man sich in den Bergen des Val Verzasca fühlen kann.
Am Anfang waren die Hütten
Die Geschichte der Via Alta della Verzasca beginnt bereits 1983. Die soeben gegründete Società Escursionistica Verzaschese (SEV) schickt sich an, im hinteren Val Verzasca eine Unterkunft zu bauen, die Capanna Cognora - mit dem Hintergedanken, später noch weitere Hütten folgen zu lassen. Dabei legt sie eine Reihe von Kriterien fest, die sie bis heute beherzigt. Kriterien wie: «Es dürfen keine hotelähnlichen Bauten sein, sondern kleine, gastfreundliche Hütten, in denen sich die Besucher wohl und unabhängig fühlen sollen, und ohne Hüttenwarte, die ihre Regeln durchdrücken wollen.» Oder auch: «Die Hütten dürfen keine Neubauten sein, sondern bloss Umnutzungen und sanfte Erweiterungen bestehender Gebäude in vollständigem Einklang mit der traditionellen Architektur vor Ort, damit sie auch künftigen Generationen als Zeugen der einstigen Alpwirtschaft dienen können.» Ausgesprochen nachhaltige Kriterien also, in deren Geist die SEV bis heute fünf ehemalige Alpen zu Berghütten umwandelte. Fünf kleine Oasen der Gemütlichkeit in jener Höhenlage, wo die obersten Weiden in Geröll und Fels übergehen.
Das allein ist schon eine grosse Leistung. Doch der Verein geht einen Schritt weiter: 1994 eröffnet er einen alpinen Weg, der alle Hütten verbindet - und zwar fast durchgehend entlang der schroffen Kreten. Angesichts der schwierigen Topografie kein triviales Unterfangen, und es wird in aufwendiger, unentgeltlicher Arbeit realisiert. Es ist die Geburtsstunde der Via Alta della Verzasca, einer fünftägigen, bis heute schweizweit einzigartigen «Haute Route» durch unzählige Geländekammern. Dass die Tour nur für erfahrene Berggänger in Frage kommt, beweist ihre Schwierigkeitsbewertung: Als der Schweizer Alpenclub im Jahr 2002 eine neue Berg- und Alpinwanderskala einführt, die von T1 bis T6 reicht, wählt er den Verzascheser Höhenweg als Referenztour für den Grad T6 - also für die schwierigste Stufe, die alpine Erfahrung, absolute Schwindelfreiheit und Klettergeschick erfordert.
Damit lässt sich der Verein auf ein mutiges Experiment ein, liegen doch solche «Extremwanderungen» keineswegs im Trend. Das hat sich seither deutlich geändert, nicht zuletzt dank der Pionierrolle der Verzaschesi. Heute begehen jedes Jahr rund 500 Personen die ganze Via Alta, viele weitere Besucher versuchen sich an einzelnen Etappen. Für ihre Sicherheit investiert die SEV jährlich rund 300 Arbeitsstunden, um das Trassee zu sichern, Naturschäden durch Schneedruck, Frost und Steinschlag zu beheben und Markierungen aufzufrischen, wie der mit Leib, Herz und Seele engagierte SEV-Präsident Giorgio Matasci zusammenrechnet. Hinzu kämen einige Arbeitswochen für den Unterhalt der Hütten.
Dass die raue Berglandschaft zwischen Bellinzona und Sonogno Menschen aus ganz Europa anlockt, hat indes noch einen anderen Urheber: Giuseppe Brenna. Der Wahlverzascheser verfasste in den 1980er und 1990er Jahren mit Akribie, Leidenschaft und grossem persönlichem Einsatz die SAC-Führer der Tessiner Alpen. In Insiderkreisen geniessen die fünf Bände einen legendären Ruf, sind doch darin sämtliche Gipfel und Passübergänge auf unzähligen Routen beschrieben.
Gegen das Vergessen
Viele dieser Pfade wären heute völlig überwachsen und nicht mehr begehbar, hätte sie Brenna nicht vor dem Vergessen bewahrt. Wer heute in den Schweizer Alpen Abenteuer, Wildnis und Einsamkeit sucht, wird in seinen Führern Tausende Anleitungen zum Glück finden. Auch die SEV liess sich von Brenna inspirieren. Und beide sind sie dafür verantwortlich, dass jedes Mal ein bisschen Sehnsucht mitschwingt, wenn wir zwischen Biasca und Bellinzona aus dem Intercity-Neigezug rechts hinaufschauen. Zu diesen fernen Bergen. Zu dieser abgelegenen Grenztour irgendwo zwischen Wandern und Bergsteigen, zwischen Verzasca und Himmel, so weit weg von allem.
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