Ein Berg ist nicht einfach ein Berg - Artikel aus der NZZ


Publiziert von xaendi, 10. Dezember 2010 um 07:17. Diese Seite wurde 7528 mal angezeigt.

Ein interessanter Artikel aus der NZZ von heute (10.12.2010):

Ein Berg ist nicht einfach ein Berg

Die Frage, wie viele Viertausender es in den Alpen gibt, beschäftigt die Fachwelt seit Jahrzehnten

Vor bald 100 Jahren hat der österreichische Alpinist Karl Blodig mit dem Picco Luigi Amedeo den 68. Viertausender in den Alpen bestiegen - und nach seiner damaligen Zählart alle Viertausender.

Walter Aeschimann

"Wenige Minuten nach 8 Uhr blieben Jones und Young stehen und forderten mich in liebenswürdiger Weise auf, als Erster den Gipfelblock des Pic Luigi Amedeo zu betreten. Es war mein 68. Viertausender. Mit einer gewissen Feierlichkeit setzte ich meinen Fuss auf die vor unserer Besteigung nur einmal betretene 4472 Meter hohe Kuppe und brachte als Ehrenmitglied des Climbers Club ein dreifaches Hurrah auf diese hervorragende Gesellschaft aus."

Es war der 9. August 1911, und Karl Blodig gelang zum ersten Mal die Überschreitung des gesamten Brouillardgrates und damit auch des Picco Luigi Amedeo. Mit ihm unterwegs waren Humphrey Owen Jones, Geoffrey Winthrop Young und der Führer Joseph Knubel. Der Picco Luigi Amedeo ist ein 4470 Meter hoher Gipfel im Montblanc-Massiv und gehört politisch zum Aostatal in Italien. Er wird bei der Überschreitung des Bouillardgrates erreicht, eines der grossen Grate des Montblanc.

Matterhorn als grosser Betrug
Viel wichtiger jedoch als die unmittelbare alpinistische Leistung war die Vollendung eines Lebensunternehmens. Blodig vervollständigte mit dieser Tour vor hundert Jahren die Besteigung aller Viertausender in den Alpen - in der von ihm festgelegten Liste. Karl Blodig war ein österreichischer Bergsteiger, Augenarzt und Publizist, geboren 1859 in Wien, gestorben 1956 in Bregenz. Die Zumsteinspitze hatte er als ersten Viertausender am 28. Juli 1882 bestiegen. Es kamen alle weiteren hinzu, selbst die «unbedeutenden» wie das Matterhorn konnte er nicht ignorieren: «Was die Kletterei betrifft, so waren Ranggetiner und ich überaus verwundert; so leichte Felsen hatten wir doch nicht erwartet. Wohl war ich diesbezüglich vorbereitet, da mir Dr. Paul Gützfeldt einige Jahre vorher bei einem Zusammentreffen auf der Seiseralpe folgendes gesagt hatte: <Das Matterhorn ist ein grosser Betrug; je näher man ihm kommt, desto enttäuschter wird man von ihm. Man sollte eigentlich gar nicht hinaufgehen, sondern es nur aus der Ferne bewundern.»

Nachzulesen sind die Berichte im Buch von Karl Blodig «Die Viertausender der Alpen» aus dem Jahr 1923. Der Titel gilt in Neuauflagen heute noch als eines der Standardwerke alpiner Literatur. Er ist wohl einer der ersten Alpinisten, die mit ihrem Tun die Besteigung einer Serie von Gipfeln einer magischen Höhe popularisierten. Er beeinflusste aber auch die Diskussion darüber, wie viele Gipfel es in den Alpen gebe, wie viele über 4000 Meter, wann ein Berg ein Berg sei, ein Gipfel, ein Nebengipfel oder nur ein unbedeutender Felszacken.

Wie wichtig Blodig diese Frage war, beweist die Passage nach der Beschreibung des Gipfelsieges: «Und nun mit Verlaub ein kräftig Wörtchen über den Luigi Amedeo als Berg. Man braucht gar nicht so weit zu gehen wie mein hochverehrter Freund Professor Dr. Karl Diener in Wien, welcher im Montblanc-Stock nur drei selbständige Gipfel über 4000 Meter gelten lässt - den Monarchen, die Grandes Jorasses und die Aiguille Verte -, um dem Pic Luigi Amedeo den Ehrennamen Berg völlig abzusprechen.» Für Blodig «bäumt sich der vom Col Emile Rey zum Montblanc de Courmayeur hinauf ziehende Grat zu einer überwältigend grossartigen Felsmasse auf». Trotzdem musste er zugestehen, dass es strittig ist, diesen «Gipfelblock» als eigenständig zu bezeichnen. Zahlreiche Diskussionen und zwei Neuauflagen später sind in der Fassung aus dem Jahr 1978 nur noch 61 Viertausender beschrieben. Nicht selten wird dies heute als Grundlage für Blodigs Liste der Viertausender angesehen. Der Picco Luigi Amedeo ist nicht mehr aufgeführt.

Tatsächlich blieb der Picco Luigi Amedeo lange ein unbedeutender Zacken im Brouillardgrat, ehe er 1959 durch Walter Bonatti begangen wurde. Durch eine schwierige Route am Roten Pfeiler, dem linken der drei grossen Brouillardpfeiler, wurde er in Bergsteigerkreisen ein Begriff und erlangte alpinistische Bedeutung. Dies musste die Kommission der Alpinismusverbände Frankreichs, der Schweiz und Italiens mit dazu bewogen haben, den Amedeo 25 Jahre nach Bonattis Heldentat in ihre offizielle Liste aufzunehmen.

Denn erst Anfang der 1990er Jahre machten sich die Verbände ernsthaft daran, sich mit einer offiziellen Liste zu beschäftigen. «Bis heute gibt es keine eindeutige alpinistische und topografische Referenzliste für die Gipfel der Alpen, die über 4000 Meter hoch sind», schreibt die Internationale Alpinismusvereinigung (UIAA). Definiert wurden die Kriterien von den Verantwortlichen für die offiziellen Gebirgsführer der drei Alpenländer, die auf ihrem Gebiet Gipfel über 4000 Meter aufweisen.

«Unter Gipfel im weitesten Sinne des Wortes versteht man einen Punkt der Oberfläche der Alpen, der sich mit einem gewissen Höhenunterschied von der umliegenden Fläche abhebt», beginnt die Definition. Jeder Gipfel muss «autonom» sein, das heisst, eine «Individualität» besitzen. Diese Liste «ist in erster Linie für Bergsteiger gemacht. Sie basiert demzufolge nicht ausschliesslich auf topografischen Kriterien (. . .), sondern auch auf komplementären, etwas subjektiven Kriterien, die sich mit der Evolution des Bergsteigens evtl. noch ändern können», steht weiter in den Grundsätzen. So kann die «Wichtigkeit eines Gipfels vom Standpunkt des Bergsteigens» betrachtet werden, bezüglich «qualitativen Niveaus» oder «historischer Bedeutung.»

Topografische Kriterien
Hauptgrundlage bilden trotzdem topografische Kriterien. «Für jeden Gipfel gilt der Grundsatz, dass zwischen ihm und dem höchsten angrenzenden Sattel oder einer Scharte der Höhenunterschied nicht weniger als 30 Meter sein darf.» 30 Meter entsprechen wohl nicht ganz zufällig der klassischen alpinistischen Seillänge. Zu diesem Kriterium wird der Abstand in horizontaler Richtung zwischen dem zu prüfenden Gipfel und dem Hang eines in der Nähe liegenden Viertausenders in Betracht gezogen (Dominanz).

Schartenhöhe (auch Prominenz) und Dominanz heissen also die topografischen Fachbegriffe, anhand deren Gipfel eingeteilt werden. Kriterien, die im Prinzip schon Blodig verwendet hatte, wenn auch nicht ganz in dieser Begrifflichkeit und Systematik. Er urteilte nicht selten vor Ort und anhand von Fotos über einen Gipfel. «Ich besitze eine Aufnahme des Montblanc-Stockes von der Tête Carrée aus. Hier wäre die günstigste Gelegenheit für den Pic Luigi Amedeo, um sich als Berg zu zeigen, da die das Profil bildende Kammlinie gerade über seinen Scheitel verläuft.» Günter Dyhrenfurth, ein Schweizer Geologe und Bergsteiger, operierte mit dem Begriff der Schartentiefe bereits in den 1930er Jahren. Auch in Schottland tauchten um diese Zeit Gipfellisten auf mit dem Begriff «drop on all sides». Das Wort Prominenz hat sich wohl in den USA in den 1980er Jahren über das «Summit-Magazin» etabliert.

Weiterführende Diskussion
Zurück zum Bulletin von 1994, in dem nun ein «Erstes offizielles UIAA-Verzeichnis der Viertausender der Alpen» publiziert wird. Gemäss dieser Liste gibt es 82 Hauptgipfel und 46 Nebengipfel. Der «Felsblock in der Montblanc-Gruppe», der Picco Luigi Amedeo, wird mit einer Dominanz von 0,73 Kilometern und einer Schartenhöhe von 39 Metern geführt und erfüllt das Kriterium als Hauptgipfel. Diese Liste wurde fortan als Referenz beigezogen, wenn es Strittigkeiten über unbedeutende Graterhebungen oder eigenständige Gipfel gab, wenn es galt, klassische Rekorde einer mythischen Höhe aufzustellen und einen Gipfel als «bestiegen» abzuhaken. Im Winter und Frühling 2007 hat Miha Valic aus Slowenien alle 82 Gipfel in 102 Tagen bezwungen. Die italienischen Alpinisten Franco Nicolini und Diego Giovanni schafften die Tour «82×4000» zwischen dem 25. Juni und 25. August 2008 in nur 60 Tagen.

Wer nun denkt, dass die Diskussion mit der offiziellen UIAA-Liste abgeschlossen sei, der irrt. Gemäss den strengeren Himalaja-Kriterien gäbe es nur 35 Viertausender in den Alpen. Es sind 500Meter Schartenhöhe erforderlich. Und während die UIAA nur zwischen Haupt- und Nebengipfel unterschied, gibt es auch jene, die in den Alpen kleine Nebengipfel, grosse Nebengipfel, relativ selbständige Hauptgipfel, grosse Hauptgipfel unterscheiden, bis hin zum Berg. Ein eigenständiger Berg braucht eine Schartenhöhe von etwa 100 bis 300 Metern und eine Dominanz von 1 bis 3 Kilometern. An einem Berg kann man mehrere Gipfel finden, etwa an den Grand Jorasses in der Montblanc-Gruppe oder am Breithorn in den Walliser Alpen. Im Buch von Richard Goedeke aus dem Jahr 1990, 1. Auflage, einem weiteren Standardwerk über die Alpen, werden 60 Hauptgipfel und 91 Nebengipfel unterschieden. Der Amedeo ist als Nebengipfel aufgelistet. In der 4. Auflage von 1997 wird der Amedeo wieder zu einem von 89 Hauptgipfeln aufgewertet.

Auch die Geschichte um die Besteigung aller Achttausender könnte spielend neu geschrieben werden. Der Broad Peak Central ist ein 8011 Meter hoher Nebengipfel des im Karakorum liegenden Broad Peak. Aufgrund seiner optischen Eigenständigkeit wird er auch als «relativ selbständiger Hauptgipfel» bezeichnet. Die Chinesen klassifizieren ihn als 15. Achttausender der Welt. Nach deren Zählart hätte nur der Pole Jerzy Kukuczka alle Achttausender bestiegen, und die anderen müssten wieder in die Hosen steigen, wollten sie die Sammlung komplettieren.

So wie Karl Blodig, der nach dem 9. August 1911 auch keine Ruhe fand. Die Aiguille-du-Jardin, ein 4035 Meter hoher Felszacken im Massiv der Aiguille Verte im französischen Teil der Montblanc-Gruppe, wurde später als eigenständiger Gipfel angesehen. So musste er 21 Jahre später, im Alter von fast 73 Jahren, nochmals Pickel, Steigeisen und Marschtee für eine grosse Unternehmung schultern. Er bestieg den Gipfel solo.




Kommentare (6)


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Alpin_Rise hat gesagt:
Gesendet am 10. Dezember 2010 um 12:06
Danke für den Artikel.
Positiv am 4000er Wahn: auf den hohen 3000ern hat man oft seine Ruhe; die meisten sind auch alpinistisch interessanter.
G, Rise

Sputnik Pro hat gesagt:
Gesendet am 10. Dezember 2010 um 12:27
Hi Rise,

Irgendwann war ich einmal auf eine Seite gestossen wo ein Bersteiger genau aus diesem Grund alle 39er der Schweiz bestieg, leider finde ich aber die Homepage nicht mehr.

Bei den beliebtesten 4000er ist's ja schon ein Massensturm zur Hauptsaison. Im Winter (meistens), in der Nebensaison oder wenn man viel früher als das Hüttenfrüstück startet findet man aber auch dort seine Ruhe. Und auf schwierigeren Routen ist man auch an solchen Bergen oft als einzige Seilschaft unterwegs.

Zum Definition Berg: Ich habe die Diskussion schon auf verschiedenen Plattformen gelesen. Eine gute Definition von Berg finde ich: Ein eigenständiger Gipfel hat eine Schartenhöhe grösser 100 Höhenmeter und/oder sein Gipfel ist vom nächst höheren Berg über 1,0km entfernt.

kopfsalat hat gesagt: rein arbiträre willkür
Gesendet am 10. Dezember 2010 um 18:23
denn wären wir engländer oder amerikaner, würde wir wohl kaum auf die idee kommen alle berge besteigen zu wollen welche 13'123.36 feet hoch sind???

da würde man wohl eher 13'000 feet nehmen, was dann aber nur 3'962.4m wären!

Sputnik Pro hat gesagt:
Gesendet am 10. Dezember 2010 um 19:32
Die SI-Einheit in welcher wissenschaftlich gemessen wird ist aber der Meter. Die englischsprchigen Länder sollten lieber schon heute sich von diesem alten Zopf "Fuss" verabschieden...

laponia41 hat gesagt:
Gesendet am 11. Dezember 2010 um 07:53
Diese Definitionen sind ja alle rein willkürlich und ähneln eher einem Reglement für Gipfelsammler. Ob ein Berg 2999 m oder 3001 m hoch ist, ist im Prinzip egal. Ein Berg ist für mich ein Berg, wenn ich da ein Berg- und Naturerlebnis habe. Da gefällt mir die Mentalität der Skandinavier: ihnen bedeuten Gipfelhöhen nichts - über unsere Höhenmanie lächeln sie.

kopfsalat hat gesagt: Die ganze Manie ...
Gesendet am 11. Dezember 2010 um 10:32
... kommt wohl, wie nicht anders zu erwarten, von den Britischen Inseln, wo schon 1891 irgend so ein Earl namens Munro eine Liste sämtlicher Hügel Schottlands über 3000 feet (914m) zusammenstellte, worauf diese Hügel dann auch prompt Munros genannt wurde.

des weiteren gibts dort
- Grahams: Hügel von 2000 bis 2500 feet
- Corbetts: Hügel von 2500 bis 3000 feet
- Munros und Tops: Hügel über 3000 feet. Munros sind eigenständige Berge, Tops nicht.

Die Probleme sind übrigens die selben wie in den Alpen: Was ist ein Munro, was ein Top? Wann ist ein Berg ein Berg?

So ist auch das "Munro Bagging", das Besteigen aller Munros, weit verbreitet. Die Steigerungsform ist das Besteigen aller Munros und Tops auf einer Tour, da steht der Rekord z.Z. bei 40 Tagen.

... oder wie würde der dicke Gallier sagen: "die spinnen die Briten."


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