Bahntechnische Begeisterung in der Dazio Grande
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In Airolo fror mich, das einzigste Paar, dass hier auch ausstieg, kramte beim Kiosk den warmen Sweater aus dem Rucksack und studierte den Fahrplan nach Norden – es lag Schnee auf den Autodächern und von den Fahrleitungen tropfte es eiskalt ins Genick: Rückkehr des Winters 2009? Ich bedauerte keinen Schal dabei zu haben, dünne Handschuhe lagen irgendwo in den Seitentaschen, ich brauchte nichts zur Verpflegung, und steuerte das Restaurant/Hotel vis-à-vis des Bahnhof an für einen Espresso: wohlige Wärme und ein wenig Dekadenz verströmte das Lokal, in dem ich aber auch schon wunderbar schlief. Der Bus nach Dalpe war auch heute nur mit vier Fahrgästen besetzt – ab Ambri Stazione war ich der einzigste! Als ich kurz vor Dalpe den Bus verliess, fror ich erneut, Pflotsch lag beidseits der Strasse und dort wo die Wiesen Unebenheiten aufwiesen, spiegelten sich die Kreten in kleinen Lachen.
Immer wieder beeindruckt mich das Alte und Neue an der Gotthardbahn bzw. an der Nord-Süd-Querung. Mit dem 125-Jahr-Jubiläum der SBB-Gotthardbahn ist viel unternommen worden, das Trassee beidseits zu Fuss zu begehen und zu entdecken: http://www.gottardo-wanderweg.ch . Um mich noch etwas ergiebiger damit zu befassen, forschte ich im Netz nach Daten und Bildern, man wird fündig. Damit begann ich meine Wanderung nicht in Dazio Grande, sondern bei Dalpe: Am Relais auf dem Val Cima beginnt ein Pfad mit Exkursionscharakter durch das Bedrina-Moor (unter Naturschutz seit 1961).
Eine etwas andere und ergänzende Betrachtung des Dazio Grande macht das Zentrum für Verkehrsgeschichte http://www.viastoria.ch . Zusammen mit dem Tourismusprogramm Kulturwege Schweiz http://www.kulturwege-schweiz.ch/ kann die CH anders erfahren werden: Kulturwege Schweiz - dieser Name steht für ein ganz neue Sicht auf die Schweizer Kulturlandschaft: sorglos wandern, gut essen und trinken, stilvoll übernachten und dabei die Schönheiten der Schweiz mit allen Sinnen erleben. Kurz nach der Abzweigung beim Dazio Grande ist an der Kantonsstrasse nach Prato links eine der letzten Überbleibsel einer früheren Gotthardstrasse zu begehen: eine kleine Steinbrücke sowie ein Kalkofen. Als die Schlucht noch technisch nicht zu bewältigen war, zogen die Fuhrwerke weit über dem Talboden von Dalpe nach Faido und umgekehrt!
In Dazio Grande kommt der zweite Espresso und ein herrliches Stück Kuchen zum Genuss. Die Abfahrtszeiten der Züge in Airolo und Faido habe ich mir in Erinnerung gerufen, so stehe ich nun südlich des ehemaligen Susts am Tunnelportal und hoffe einen vorbeirauschenden IR (Interregio) vor die Kamera zu bekommen. Stattdessen verhindert gleichzeitig ein ICN aus Lugano das Shooting!
Die Schlucht wurde im 16. Jahrhundert mit einer Strasse befahrbar gemacht – die sog. «Urnerstrasse» - was deutlich macht, dass die Urner damals auch südlich des Gotthards das Sagen hatten. Ich war übrigens den ganzen Tag alleine unterwegs!
Die spektakuläre Tunnelführung der Gotthardbahn mit 360°-Radius wurde hier weltweit zum ersten Mal Realität: Freggio- und Prato-Kehrtunnel. Die Wanderwege lassen immer wieder Möglichkeiten zu, nahe die Bahn von oben bzw. unten zu erleben, ergänzende Tafeln säumen den Pfad und die Geräusche vorbeigleitender Güter- und Personenzüge sind neben dem Dauerrauschen der Autobahn, die hier auch sehr prominent gebaut wurde, aufzunehmen. Die Strada bassa führt zusammen mit dem Bahnpfad nach Mairengo: in der Dorfmitte setze ich mich auf die Terrasse der Osteria, der dritte Espresso kommt auf die Zunge! Der Anschlussbus von Faido nach Biasca entschwindet gerade – somit bleibt etwas Zeit in Faido die alten Gebäude am Bahnhofsplatz einer nähern Betrachtung zuzuführen. Vergänglichkeit, verblassender Verputz und ein halbes Dutzend Email-Schilder, die das Touring und Automobil aus einer andern Zeit heraufbeschwören. Faido hatte noch 1988 glanzvolle Zeiten. Der IR, der hier stündlich Richtung Norden bzw. Süden hält, macht Halt auf einem Bahnhof, der verfällt. Unkraut schiesst zwischen den Bahnschwellen hervor – nach Norden hin ist die helle Abraumhalde des Zwischenangriffs Polmengo der NEAT zu erahnen.
Die Biaschina ist ein weiterer bahntechnischer Höhepunkt, aber auch der Autobahnbau erlebt hier eine schweizerische Superlative: die höchste Brücke. Für fotografische Highlights braucht es Zeit – wer sich die wie in einer Modellanlage scheinende Wirklichkeit ansehen will, kann auf Ergiebigkeit setzen. Lass’ das Wandern und steige mal ab und wieder hinauf. Tu’ es jetzt, in ein paar Jahren kann es sein, dass Bahnfahren nur noch in der Röhre stattfindet.
Übernachtet habe ich in Torre im Bleniotal – sensationell gegessen in Acquarosso im www.valsole.ch.
Hike partners:
Henrik

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