Short report 

Ein neues Mass zur Klassifizierung von Gipfeln


Published by Delta Pro , 21 October 2014, 21h41.

Region: World » Terra Incognita
Date of the hike:21 October 2014

Ein neues Mass zur Klassifizierung von Gipfeln: Die Bedingte Ausdehnung

Schon seit langer Zeit wird versucht, Gipfel mit Zahlenwerten zu beschreiben und sie zu klassifizieren. Ob man damit der „Schönheit“ eines Berges in irgendeiner Form gerecht werden kann, sei dahingestellt. Trotzdem ergeben sich für Statistik-Interessierte und „number crunchers“ aufschlussreiche Gipfel-Listen, welche viel darüber aussagen wie freistehend / dominierend ein Berg in Bezug auf seine Umgebung ist.

Die Höhe ist die einfachste Messgrösse um einen Gipfel zu charakterisieren. Daneben sind auch die Schartenhöhe und die Dominanz populäre Masse und wurden im wegweisenden Artikel von Christian Thöni in den Alpen (1/2003) sehr gut beschrieben und illustriert. Die Schartenhöhe (auch Prominenz genannt) bezeichnet die Höhendifferenz, die abgestiegen werden muss um den nächst höheren Punkt zu erreichen. Die Dominanz ist die Horizontaldistanz zum nächst höheren Gipfel. Diese Grössen sagen schon viel über die „Wichtigkeit“ eines Gipfels in Bezug auf seine Nachbarn aus. Schartenhöhe und Dominanz sind mit einer Karte relativ einfach zu bestimmen. Allerdings liefern diese Masse nur unvollständige Information darüber wie markant – oder sagen wir der „Idealform“ eines Gipfels entsprechend – ein Berg ist: Der Dammastock erreicht beispielsweise Top-Rangierungen in Bezug auf Schartenhöhe und Dominanz, hebt sich allerdings nur undeutlich von seinen nächsten Gipfeln ab. Dagegen ist das Matterhorn – weltweit als Berg in seiner allerschönsten Ausprägung bekannt – in Bezug auf Schartenhöhe und Dominanz nur Mittelmass.
Christian Thöni schlägt auf seiner Website www.gipfelverzeichnis.ch eine zusätzliche Grösse vor, welche sich über die Fläche definiert, die ein Berg eine gegebene Höhendifferenz unter seinem Gipfel bedeckt: die Bedingte Ausdehnung. Bisher konnten allerdings noch keine Daten zu dieser Messgrösse erhoben werden. Mit hochaufgelösten Geländemodellen sowie etwas Computer-Rechenpower lässt sich heute aber auch die Bedingte Ausdehnung auswerten. Dies stellt eine wichtige Erweiterung zu den herkömmlichen Charakterisierungs-Massen wie Höhe, Schartenhöhe und Dominanz dar.
Solche Klassifizierungen machen an sich keinerlei Aussagen darüber wie besteigenswert oder subjektiv „schön“ ein Berg ist, und sollen auch nicht so verstanden werden. Trotzdem sind sie ein interessantes Mittel zur Analyse der unzähligen Gipfel der Schweiz.
 
 
Die Bedingte Ausdehnung bezeichnet die Grösse der Basis eines Berges (siehe Abbildung). Eine schlanke Felsnadel hat eine sehr kleine Bedingte Ausdehung, während ein Gipfel mit allseits flach abfallenden Flanken eine sehr grosse Fläche bedeckt. Im Gegensatz zu den herkömmlichen Charakterisierungs-Grössen wie Schartenhöhe und Dominanz beschreibt die Bedingte Ausdehnung also direkt die Form des Berges und trägt deshalb der subjektiven Empfindung Rechnung, dass Berge mit steilen Wänden und einem spitzen Gipfel als besonders schön und eindrücklich gelten.
Ein wichtiger Parameter bei der Berechnung der Bedingten Ausdehnung ist die Höhendifferenz dz, also die vertikale Distanz vom Gipfel zur Höhe, auf welcher die Basis-Fläche des Berges berechnet wird. Auswertungen der Bedingten Ausdehnung mit dz=100m können für alle Gipfel durchgeführt werden, die eine Schartenhöhe von mehr als 100m aufweisen. Die Resultate beschreiben die „Form“ des Gipfels auf den obersten 100 Höhenmetern unter dem höchsten Punkt. Eine Rangliste der Gipfel mit den geringsten Bedingten Ausdehnungen für dz=100m wird also die „kleinen“ Gipfel zeigen, deren Form einer Nadel am nächsten kommt. Die Bestimmung der Bedingten Ausdehnung für dz=1000m ist nur noch für wenige Berge in der Schweiz möglich und hebt die besonders pyramidenförmigen, allein stehenden Bergriesen hervor, also diejenigen Gipfel, die eine Schartenhöhe von mehr als 1000 Metern aufweisen.
 

 
Abb. 1: Skizze der Bedingten Ausdehnung F, x (nach meiner Nomenklatur dz) bezeichnet die ausgewertete Höhendifferenz vom Gipfel (gemäss www.gipfelverzeichnis.ch)
 
 
Ich habe die Bedingte Ausdehnung für dz=100m, 200m, 500m und 1000m für alle Gipfel der Schweiz mit Hilfe des 25m Höhenmodells von Swisstopo und dem kompletten Gipfelverzeichnis der Schweiz automatisch ausgewertet. Daneben habe ich auch das Volumen der Gipfel oberhalb der jeweiligen Basis-Fläche berechnet. Mit den Resultaten habe ich Ranglisten der geringsten Bedingten Ausdehnungen erstellt. Darin finden sich die „üblichen Verdächtigen“, jedoch auch viele Überraschungen. Dies finde ich so spannend, dass ich es auf Hikr teilen möchte.

 
Die Top 20 der Rangliste der Bedingten Ausdehnung mit dz = 100m wird durch eher unbekannte Gipfel dominiert. Das Bündner Bergell räumt hier gross ab, was sicher durch die einzigartige Geologie der Region zu erklären ist: Der Pizzo Badile auf Position 2 ist als einer der fotogensten Felsgipfel der Schweiz bekannt, die beiden Torrone (Occidentale, Orientale) und die Punta Pioda sind weniger bekannt und schwierig zu besteigen. Der einzige hohe Berg, der sich in den Top 20 für dz=100m halten kann, ist das Zinalrothorn – wer schon dort war, weiss wie steil dort die Wände in alle Richtungen abfallen. Die Liste enthält noch weitere halbwegs bekannte Namen, welche man mit etwas Recherche alle eindrücklich schlanken Felstürmen zuordnen kann. Sie stellen die „grossen“ Berge locker in den Schatten. Zehn (!) der Gipfel in den Top 20 haben auf Hikr noch keinen Eintrag. Das ist nicht erstaunlich, denn die Spitzen mit der geringsten Bedingten Ausdehnung sind keine leichte Beute für den Bergsteiger.
  Top 20: Bedingte Ausdehnung mit dz = 100 m
Rang  Gipfel Höhe Schartenh.  Dominanz  Fläche       Volumen   Kanton
    (m.ü.M.) (m) (km) (km2) (mio. m3)  
1 Torrone Occidentale 3351 156 1.30 0.0144 0.439 GR
2 Pizzo Badile 3308 260 1.20 0.0156 0.463 GR
3 Petit Muveran 2810 265 1.05 0.0156 0.584 VD/VS
4 Zinalrothorn 4221 490 4.18 0.0169 0.668 VS
5 Punta Pioda di Sciora 3238 158 0.50 0.0188 0.657 GR
6 Torrone Orientale 3333 153 1.10 0.0188 0.705 GR
7 Aiguilles Rouges d' Arolla   3646 791 6.40 0.0188 0.708 VS
8 Tschingellochtighorn 2735 135 1.35 0.0188 0.754 BE
9 Gross Fusshorn 3626 123 0.60 0.0206 0.769 VS
10 Grande Fourche 3610 275 1.55 0.0213 0.785 VS
11 Gischihorn 3083 160 0.85 0.0231 0.677 VS
12 Zervreilahorn 2898 185 1.45 0.0231 0.750 GR
13 Schwarz Stöckli 2568 232 0.60 0.0231 0.823 UR
14 Kinhorn 3752 112 0.50 0.0237 0.831 VS
15 La Maya 2915 105 1.45 0.0244 0.650 VS
16 Testa del Leone 3715 135 0.25 0.0250 0.873 VS
17 Tour d' Ai 2330 886 8.45 0.0250 1.187 VD
18 Pizzi Gemelli 3262 133 0.50 0.0256 0.839 GR
19 Meidhorn 2874 125 0.55 0.0256 0.951 VS
20 Le Tour Noir 3835 302 1.45 0.0256 0.994 VS
 

 
Der Bild ändert sich, wenn die Bedingte Ausdehnung 200 Meter unter dem Gipfel (dz=200m) ausgewertet wird. Wie erwartet kann sich jetzt das Matterhorn durchsetzen. Interessant auch, dass sich der relativ unbekannte Petit Muveran in der Spitzengruppe halten kann. Bezüglich des Volumens seines Gipfelbereichs ist er sogar top. Dies wäre also ein formschönes Gipfelziel, dass fast alle Hikr noch nicht in ihrem Palmares haben. Neben Ober Gabelhorn und Finsteraarhorn (Positionen 7 und 8) erscheinen auch einige Voralpengipfel in der Liste: z.B. der Grosse Mythen (11), der Glarner Fronalpstock (12) und der Frümsel (14) – ganz schöne Hörner, wenn man es sich recht überlegt.
  Top 20: Bedingte Ausdehnung mit dz = 200 m
Rang  Gipfel Höhe Schartenh.  Dominanz  Fläche     Volumen Kanton
    (m.ü.M.) (m) (km) (km2) (mio. m3)  
1 Matterhorn 4477 1031 13.7 0.076 5.86 VS
2 Petit Muveran 2810 265 1.1 0.077 4.64 VD/VS
3 Pizzo Badile 3308 260 1.2 0.082 5.28 GR
4 Zinalrothorn 4221 490 4.2 0.089 5.42 VS
5 Aiguilles Rouges d' Arolla  3646 791 6.4 0.098 6.18 VS
6 Schwarz Stöckli 2568 232 0.6 0.099 5.97 UR
7 Ober Gabelhorn 4063 536 3.2 0.108 7.22 VS
8 Finsteraarhorn 4273 2280 51.7 0.114 7.55 BE/VS
9 Einshorn 2943 571 3.9 0.116 8.17 GR
10 Höch Turm 2666 271 1.0 0.117 5.66 SZ
11 Gross Mythen 1898 494 7.7 0.121 8.72 SZ
12 Fronalpstock 2124 263 1.8 0.121 8.91 GL
13 Fulen 2491 315 1.5 0.121 7.88 SZ/UR
14 Frümsel 2267 233 0.8 0.122 8.31 SG
15 Oberaarhorn 3637 270 2.0 0.127 8.55 BE/VS
16 Gross Grühorn 4043 305 2.5 0.129 7.93 VS
17 Mont Dolent 3820 330 1.8 0.131 9.56 VS
18 Corn da Tinizong 3172 473 2.6 0.132 10.44 GR
19 Chaiserstock 2515 442 5.0 0.133 8.15 SZ/UR
20 Wendenstöcke 3042 346 1.8 0.140 11.18 BE
 
 
Die Bedingte Ausdehnung mit dz=500m, also für Gipfel mit einer Schartenhöhe von über 500 Metern, zeigt wieder das Matterhorn an erster Position der Rangliste. Der Kanton Wallis dominiert diese Wertung mit Dent Blanche (Position 2), Bietschhorn (3) und Finsteraarhorn (4). Zweifellos gehören diese Berge zu den sehenswertesten Hörnern der Schweiz. Überraschenderweise erscheint der vergleichsweise niedrige Sosto - das Matterhorn des Tessins - schon an fünfter Stelle, gefolgt vom Bündner Piz Ela. Der wohl am wenigsten bekannteste Gipfel in dieser Liste des „Who’s who“ der Schweizer Alpen ist das Seehorn. Ein Walliser Gipfel mit nicht einmal 2500 m.ü.M. kann hier bestehen? Ich musste diesen Berg erst einmal suchen: die einfach erreichbare und komplett freistehende Pyramide thront über der Gondo-Schlucht jenseits des Simplonpasses. Neben den formschönen Hörnern habe ich auch noch die beiden letzten Berge der Rangliste reingenommen. Es sind dies der Tweralpspitz (Züri Oberland) und der Napf. Letzterer hat 500 Meter unter seinem Gipfel eine Bedingte Ausdehnung von fast 200 Quadratkilometern und ist damit „breiteste“ Berg der Schweiz.
  Top 20: Bedingte Ausdehnung mit dz = 500 m
Rang  Gipfel Höhe Schartenh.  Dominanz  Fläche    Volumen  Kanton
    (m.ü.M.) (m) (km) (km2) (mio. m3)  
1 Matterhorn 4477 1031 13.7 0.44 77 VS
2 Dent Blanche 4357 906 7.2 0.86 144 VS
3 Bietschhorn 3934 806 13.4 0.90 154 VS
4 Finsteraarhorn 4273 2280 51.7 0.90 138 BE/VS
5 Sosto 2220 521 1.8 1.04 195 TI
6 Piz Ela 3339 515 6.5 1.14 191 GR
7 Weisshorn 4505 1235 11.1 1.32 189 VS
8 Ober Gabelhorn  4063 536 3.2 1.38 192 VS
9 Doldenhorn 3643 656 3.6 1.48 254 BE
10 Aletschhorn 4195 1017 12.9 1.53 254 VS
11 Jungfrau 4158 683 8.2 1.56 244 BE
12 Schreckhorn 4078 785 5.6 1.69 272 BE
13 Seehorn 2438 567 3.1 1.83 302 VS
14 Titlis 3238 983 6.8 1.84 310 OW/BE
15 Dent d'Hérens 4171 692 3.7 1.96 259 VS
16 Mürtschenstock  2441 601 5.1 1.97 339 GL
17 Weissmies 4023 1191 11.0 2.11 356 VS
18 Bristen 3072 567 3.9 2.18 325 UR
19 Piz Linard 3410 1028 24.9 2.26 284 GR
20 Gspaltenhorn 3436 599 2.7 2.35 313 BE
165 Tweralpspitz 1332 540 8.9 96.68 12671 SG
166 Napf 1407 556 10.5 188.49 23135 BE
 
 
In der Königsdisziplin, der Bedingten Ausdehnung einen Kilometer unter dem höchsten Punkt, brilliert – wen erstaunt’s – ein weiteres Mal das Matterhorn. 1000 Meter unter dem Gipfel bedeckt das Horli eine Fläche von gerade einmal 2.2 Quadratkilometern und hat ein Gewicht von – nur so aus Spass berechnet – rund anderthalb Milliarden Tonnen. Ein Leichtgewicht verglichen mit einem Weisshorn (10 Milliarden Tonnen). Auf Platz 2 der grossen Gipfel kann sich auch hier ein Mauerblümchen schleichen: Le Catogne über Martigny erreicht als allein stehende Pyramide inmitten der hohen Gipfel eine Schartenhöhe von über 1000 Metern und spielt deshalb in der obersten Liga mit.
  Top 7: Bedingte Ausdehnung mit dz = 1000 m
Rang  Gipfel Höhe Schartenh.  Dominanz  Fläche     Volumen  Kanton
    (m.ü.M.) (m) (km) (km2) (mio. m3)  
1 Matterhorn 4477 1031 13.7 2.23 632 VS
2 Le Catogne 2597 1105 4.2 9.88 3632 VS
3 Weisshorn 4505 1235 11.1 17.04 3590 VS
4 Balmhorn 3699 1021 12.3 19.94 5091 BE/VS
5 Grand Combin 4314 1517 26.4 20.48 4673 VS
6 Aletschhorn 4195 1017 12.9 21.03 4973 VS
7 Haldensteiner Calanda  2805 1449 6.5 23.67 7473 GR
 
 
Die Ranglisten der bedingten Ausdehnung zeigen viel Spannendes und weisen auf diejenigen Gipfel der Schweizer Alpen hin, welche der Idealform eines Berges, also einer gleichmässigen, steilen Pyramide oder einer hohen Felsnadel am nächsten kommen. Grosse Abwesende sind z.B. Dufourspitze, Piz Bernina, Tödi und Säntis, welche bzgl. Schartenhöhe und Dominanz Top sind. Tatsächlich ist zu erkennen, dass diese Gipfel zwar die höchsten ihrer jeweiligen Region sind, jedoch in ihrer Form stark von den schlanken Traumbergen wie dem Matterhorn oder dem Pizzo Badile abweichen.
 
Die Berechnung von Bedingter Ausdehnung auf der globalen Skala ist bis jetzt noch nicht durchgeführt worden. Mit den heute vorhandenen Höhenmodell-Daten und meinem Code wäre dies zwar theoretisch möglich, aber sehr rechenaufwändig. Deshalb kann ich nur spekulieren, welche Gipfel die Spitzenreiter in Bezug auf Bedingte Ausdehnung weltweit wären: Ganz weit oben dürften sich der Cerro Torre in Patagonien und die Trango Towers in Pakistan klassieren. Beide haben aber wahrscheinlich eine zu geringe Schartenhöhe um das Matterhorn bei dz = 1000m zu konkurrenzieren. Ein heisser Kandidat auf die Krone ist mit Sicherheit auch der K2. Allerdings gibt es noch Dutzende grosser Felstürme auf der Welt von denen ich nichts weiss…

Hike partners: Delta