Kalmykiens Gora Schared – Bergsteigen in einem buddhistischen Land Europas


Publiziert von Wolfgang Schaub , 19. Juni 2012 um 14:28.

Region: Welt » Kalmykien
Tour Datum: 4 August 2008
Wandern Schwierigkeit: T1 - Wandern
Zeitbedarf: 0:15
Aufstieg: 2 m
Abstieg: 2 m
Strecke:Beliebig, man muss nur wissen, wo die Republik Kalmückien liegt
Zufahrt zum Ausgangspunkt:Elista - Iki Burul - Manytsch
Zufahrt zum Ankunftspunkt:Beliebig, man muss nur wissen, wo die Republik Kalmückien liegt
Unterkunftmöglichkeiten:Hotel Elista in Elista, sonst nichts
Kartennummer:Karte 1 : 200000, Blatt Арзгир / Arzgir, Nummer L-38-21, und Karte 1 : 100000, Nummer L-38-078

Gott, worauf habe ich mich hier eingelassen! Ich will weiter nach Osten vorstoßen!

Kalmückien! Der Name allein schon klingt wie das Ende der Welt. Die Wehrmacht hat es im Zweiten Weltkrieg vorgemacht: Da wurde der größte Teil Kalmückiens im Juli 1942 von der deutschen Wehrmacht erobert und in der Folge mit Hilfe von Prinz Tundotov ein Kalmückisches Kavalleriekorps mit 3000 bis 5000 freiwilligen Kalmücken aufgestellt, das auf Seite der Deutschen kämpfte. Damals erreichte eine Motorradstaffel als Vorauskommando Kalmückiens Hauptstadt in der Steppe, Elista – russisch Элистa, kalmückisch Элст, Elst, den östlichsten Punkt in ihrem Eroberungsfeldzug. Am 13. August 1942 besetzten deutsche Truppen der Heeresgruppe A die Stadt; sie befanden sich auf dem Vormarsch entlang der Nordflanke des Kaukasus Richtung Kaspisches Meer.

 

Und so etwas will ich jetzt auch? Na ja, bis aufs Militärische ähnelt meine Operation im Opel Combo schon einem Himmelfahrtskommando.

 

Nach Kalmückien also. Weiß ich, wo das liegt? Weiß ich wie weit das weg ist? Wie lange es dauert, bis ich dort bin?

 

Kalmückien, Kalmykien wie es auch geschrieben wird, die Респyблика Калмыкия, ist ein Bestandteil der Russischen Vereinigten Föderativen Republik. Die Kalmücken sind ein mongolisches Volk, das im frühen 17. Jahrhundert in das Gebiet der unteren Wolga gelangte. Sie sind das einzige mehrheitlich buddhistische Volk in Europa. 57 Prozent Kalmücken wohnen in ihrer Republik, gefolgt von 30 Prozent Russen und anderen kleinen, meist islamischen ethnischen Minderheiten, wie Darginen, Tschetschenen, Kasachen, wie überall im Gebiet der ehemaligen Sowjetunion.

 

Das breitbeinige Hinstellen der Grenzsoldaten, das Sichern der dickbäuchigen Polizisten mit dem Schlagstock, die feisten, herausgefressenen Gesichter, die überlegenen Blicke kenne ich schon – ich stehe am Grenzübergang Rumäniens nach Moldawien – oder ist es Moldawien in die Ukraine? Moldawien spielt sich hier wegen ein paar wenigen Kilometern auf, die ich durchfahren muß, um bei Giurgiuleşti an der Donaumündung von Rumäniens Galaţi in die Ukraine nach Reni zu gelangen. Zwei Stunden meines Lebens kostet dieser Durchgang.

 

Dann quer durch die Ukraine, das Gaspedal durchgetreten. Ich muß noch lernen – es hilft nicht, schnell zu fahren, wenn man dabei die Verkehrsregeln mißachtet. Zwei Mal entgehe ich dem Zugriff der Polizei: Das erste Mal stürzen sie von der linken Straßenseite auf mich herein – das ignoriere ich einfach; man kann von mir nicht verlangen, dass ich die linke Fahrbahn im Auge behalte, wenn ich geradeaus fahren will. Das zweite Mal habe ich nach dem Überholen zu spät nach rechts eingeschert – da war der durchbrochene Mittelstrich schon nicht mehr durchbrochen, sondern schon wieder durchgehend gezogen. Lachhaft. Ich verweigere standhaft die „Schtraf“ zu zahlen. „Ni ponimaj“ verstehe nicht. Das gilt für beide, für mich und den Polizisten, denn in solchen Situationen spreche ich deutsch, und ukrainisch kann ich nicht. Als erkennbar wird, dass die Auseinandersetzung länger dauern würde, erhalte ich meinen Paß wieder – „wot“ „da!“ und darf ungeschoren weiterfahren.

 

Dann anstehen und warten am ukrainischen Grenzübergang nach Russland hinter Novoazowsk. Ich will hinüber nach Taganrog. Zuerst sind noch auf der ukrainischen Seite der Grenze 69,7 Rubel à 32 Tage für Autoversicherung zu entrichten, das sind etwa 60 Euro. Dafür erhalte ich von der Dame im schwarzen Minikleid, mit einer Stimme wie ein Schießbudenweib, das Dokument „Страховой Полис Strachowoj polis – ich kann nur die Überschrift „Versicherungspolice“ lesen; gegen was ich mich hier versichere und unter welchen Bedingungen: vergiß es, keine Zeit, das alles zu studieren.

 

Dann wieder Warten in der Schlange. Vor mir nur etwa fünf Autos, alle Russen. Der Schlagbaum mit dem Schild „Стоп! Контроль“ hebt sich ab und zu und läßt nur jeweils eines durch. Neben mir eine Reihe Dixi-Scheißhäuschen aus Plastik für die, die es nicht mehr aushalten können, eine Reihe Buden, die als „Кафе Café – firmieren, für die, die noch Platz in der Blase haben, und dann schließlich das Häuschen der „Страхування TAC Versicherung – , das „TAC“ offenbar die Abkürzung für „Transport Accident Commission“, und der Schuppen mit „Обмен Валют“, Obmen Valut, Währungsumtausch, wo man US-Dollar, Euros und russische Rubel gegen ukrainische Hriwni tauscht oder umgekehrt, je nach Fahrtrichtung. Ein Reklameschild für Camel Filter darüber, gut plaziert, denn wenn man warten muß, raucht man gerne eine Zigarette.

 

Dann kommt ein Uniformierter heran und fragt, ob ich allein sei: „adín?“ Er trägt Kennzeichen und die Zahl „1“ in einen „Talon“ ein, wieder das kleine Laufzettelchen, ohne das an den Ostgrenzen nichts geht. Drauf steht „Маріупольська митниця пинкт пропуску через державний кордон України для мiжнародного автомобiльного сполучення «Новоазовськ» контрольний талон". Du liebe Zeit! Umständlicher geht es nicht: "Mariupol Zoll-Punkt, Grenzübergang der Ukraine für den internationalen Verkehr mit Kraftfahrzeugen «Novoazovsk», Kontrollkarte.“

 

Jetzt folgt die Paßkontrolle. Die alten Sowjettypen mit asiatischen Gesichtern und Heiligenscheinen als Mützen. Was ich denn wohl in Russland wolle? Und wohin? Ach, Sie können kein russisch? Sie verstehen doch aber! Nein, tol'ka tschüt-tschüt, nur ein bißchen. Also rechts ran fahren, bitte warten.

 

Ein Älterer, Dicker, mit Bierfahne übernimmt die Kontrolle. Hinten auf, neben auf, wozu die Bergstöcke? Und Stiefel? Wieviel Tage in Russland? 30, so, so. Tourist? Da. Als die Routinefragen abgespilt sind, bittet er mich mitzukommen in das gewinkelte Zollgebäude hinein. Im hintersten Zimmer baut er sich vor mir auf, nur ein kleines Holztischchen zwischen uns, redet auf mich ein. Ich verstehe nur, speziell an seinem weinerlichen Ton, dass er nur, "tol'ka", ein bißchen, "tschüt-tschüt", Geld erwartet. Er habe eine Familie zu Hause. Ich stelle auf deutsch um und mache ihm klar, dass ich ab sofort nichts mehr verstehe. Nitschewo? Nein, nitschewo.

 

Choroschó, sagte er, gut halt dann eben. Er geht mit mir wieder hinaus, reicht mich an die Zollkontrolle weiter. Ich muß in ein kleines Kabuff, wo drei Typen vor Computern sitzen. Einer von ihnen behauptet, er sei Deutscher, nur weil er Aleksandr Mor heißt, soll wohl "Mohr" bedeuten. Keiner spricht mehr deutsch als nur Begrüßungsformeln. Alle Daten von Paß und Kraftfahrzeugschein werden in den Computer eingetippt. Ob ich Probleme gehabt habe vorhin? Nein, sage ich. Aha, das ist der Startschuß für die Kerle, damit sie jetzt versuchen, ein bißchen von dem reichen Touristen iz Girmanii abzugreifen, der noch keine Probleme gehabt haben will. Wir müssen wieder hinaus ans Auto, Kontrolle des Gepäcks. Im Hinausgehen murmelt Herr Mohr etwas wie "kostet 20 Euro".

 

Ich stelle wieder auf Nicht-Verstehen. Dieselbe Gepäckkontrolle ein zweites Mal. Er findet nichts, das er beanstanden könnte. Schlecht für ihn, gut für meinen Geldbeutel. Alles ist in Ordnung, ich darf weiterfahren.

 

Gebe das Talon-Zettelchenab, stoße ins Niemandsland vor, finde mich wieder vor einem Schlagbaum ein. Die russische Seite. Als der Schlagbaum für mich endlich hochgeht, gerate ich wieder als erstes an die Paßkontrolle. Eine freundliche Dame hinter dem Sehschlitz des Fensterchens ihres Häuschens Russen verbarrikadieren sich immer, haben Angst vor Fremden gibt wieder alle Daten in ihren Computer ein. Reicht mich weiter zur Zollerklärung. Ein komplizierter Vorgang, da mein Auto in allen Details beschrieben werden muß. Aber auch hier ist der Beamte in der Baracke äußerst kooperativ und zeigt mir, wie die diversen Formulare auszufüllen sind. Dann geht es weiter zur physischen Kontrolle des Gepäcks.

 

Hier wird's ungemütlich. Ein Jüngerer mit brutalem, blutrünstigen Gesichtsausdruck "behandelt" mich. Erst oberflächliche Kontrolle des Auto-Inhalts, dann ruft er "come" und schleppt mich in seine Kabine. Schon wieder Schmiergeld zahlen?

 

Er greift sich ein Blatt Papier und erklärt mir umständlich, dass für Gepäck über 35 Kilogramm Gewicht Zoll zu zahlen sei. Wieviel meines denn wöge? Ich denke, ich höre nicht recht: Zoll ist nach meiner Ansicht nur für einen Warenwert zu zahlen, der eine bestimmte Schwelle übersteigt, aber Gewicht? Offenbar bin ich in einer anderen Welt, in der Gesetze der Vernunft nicht gelten. Ich murmele, dass das Gewicht wohl schon so um die 35 Kilogramm sein könne. Er geht mit mir ans Auto zurück, um zu prüfen. Alles muß jetzt herausgeräumt, betrachtet und in die Höhe gehoben werden.

 

Heraus kommt auch ein Päckchen Tee. Das interessiert ihn. Er schnuppert daran. Rauschgift? Ich muß das Päckchen öffnen, er greift mit seinen Fingern hinein, gibt sich eine Prise. Tatsächlich Tee. Er schaut mich schief an. Hilft mir, meine Siebensachen wieder einzuräumen. Dann läßt er mich noch ein paar Augenblicke an der Seite stehen, ohne dass ich weiß, wie es weitergehen soll – er beschäftigt sich solange mit einem anderen Fahrer und seinem Auto. Dann wendet er sich wieder mir zu, schaut mich noch einmal von der Seite an und ruft: „Go!“

 

Ich springe schnell ins Auto und sehe, dass ich fortkomme. Hinein ins Riesenreich Russland!

 

Vor Rostow-na-Donu finde ich ein Nachtplätzchen seitlich im Feld. Eine miserable Stelle: Ich stehe auf einem Weg, auf dem ich leider auch nicht ganz allein bin. Immer wieder drücken sich Autos mit aufgeblendeten Scheinwerfern an mir vorbei, während die Nacht hereinbricht. Was aber noch schlimmer ist: In der Nähe steht ein Schild mit der ominösen Aufschrift: „Стоп! Durchfahrt verboten, Охранная зона". Ochrannaja Zona, was soll das heißen? Im letzten Tageslicht bemühe ich mein Wörterbuch: Schutzzone. Ist das ein Naturschutzgebiet? Es kann auch "bewachtes Gebiet" heißen. Eine Raketen-Abschußrampe?

 

Es ist zu spät, um noch einmal auf die Straße hinaus und weiterzufahren. Ich bin zu müde heute. Also bleibe ich auf dem Weg stehen, ertrage die Störungen durch die sich seitlich an mir vorbeizwängenden Autos, das aufgeblendete Licht, die Geräusche der Nacht, und verbringe eine schlechte Nacht auf meiner rückwärtigen Matratze. Russland läßt sich nicht gut an.

 

Mein erster Eindruck von Russland ist, dass der Verkehr disziplinierter als in der Ukraine ist, aber das kann täuschen die Räume werden weiter, die Entfernungen größer, der Verkehr dünner. Ich folge der Beschilderung nach Moskau — Москва und nach einigen Drehungen und Wendungen, gut beschildert, schaffe ich es auf die mehrspurige M-4 nach Norden. 1057 Kilometer seien es nach Moskau, eines der seltsam großspurigen und gleichzeitig nutzlosen Schilder.

 

Der nächste größere Ort heißt Kamensk-Schachtinskij Каменск-Шахтинский – und wie der Name schon verrät, ein von Schächten gekennzeichneter Steinkohle-Bergbauort. Dorthin, in 130 Kilometer etwa, will ich gar nicht. Vorher, nach 123 Kilometer schon, muß ich mich darauf gefaßt machen, dass ich an einen Abzweig nach Osten komme: Wolgograd – Волгоград – ist mein Ziel, das alte Stalingrad.

 

Da kommt er schon, der Abzweig auf die M-21: 384 Kilometer bis Wolgograd durch die Steppe. Kriegsdenkmäler begleiten die endlose Asphalttrasse: Hier wurde die Entscheidung des Krieges herbeigeführt. Nebengedanke: Und jetzt fahre ich einfach so zum Spaß hier Auto!

 

Mitten in der Steppe kündigt sich plötzlich der Don an. Langsam senkt sich die Straße hinunter zu einer Brücke, über die ich „normalerweise“, so wie es die Russen um mich herum tun, einfach fahren sollte, einfach ohne Zäsur. Das geht nicht. Denn wieder bin ich an einer Stelle angekommen, wo Europa in Asien übergeht: Don, lateinisch Tanais, wurde in der Antike als Grenze zu Asien verstanden. Ich muß anhalten.

 

Ich wandere zu Fuß auf die Brücke, fotografierbereit. Der Don hat sich hier ein steilwandiges Tal gegraben, gegenüber das Städtchen Kalatsch-na-Donu – Калач-на-Дону. Es würde ein schönes Bild geben. Doch da sitzt in seinem Häuschen ein Brückenwärter, Relikt aus dem Mittelalter. Ich weiß schon, ich darf keine Brücken fotografieren. Aber das will ich ja gar nicht, erkläre ich ihm, als er mich abwehren will. Ich will ja nur von der Brücke hin auf die Steilwand fotografieren, weil die Landschaft hier so interessant ist. Nichts zu machen, es bleibt verboten.

 

Links und rechts der Straße sehe ich nun immer wieder kleine, schmucklose Betonsockel im Feld stehen, manchmal aussehend wie Röhren, die von einer Kanalbauarbeit abgezweigt wurden. Aufgesetzt Tetraeder mit einer Inschrift. Hier wird die Verteidigung von Stalingrad 1942 dokumentiert.

 

Dann eine riesengroße Symbolik der Stadt, quasi ein künstlerisch gestaltetes Ortsschild: Wolgograd. Die Plastik aus übereinandergeschichteten Betonteilen stellt die historischen Phasen der Schicksalsstadt dar, in die ich gleich kommen werde: Das zentrale Schild ein stilisiertes Pferd scheint mir für das alte Zarizyn – Царицын – zu stehen, die Zeit des Kosakentums – Zarizyn hieß Wolgograd von 1598 bis 1925, abgeleitet vom tatarischen „sari su“ für gelbes Wasser; das mittlere Schild trägt die Aufschrift "Сталинград" Stalingrad und steht für die kurze militärische Brutalphase von 1925 bis 1961; schließlich ganz links außen und oben das Schild für das heutige Wolgograd, das für Aufbau und eine interaktive Gesellschaft steht – so interpretiere ich dieses Beispiel sozialistischer Kunst am Stadtrand.

 

Wolgograd streife ich nur. Die Hotelübernachtung ist teils der Vorwand für die Registrierung, teils gibt sie mir die Zeit, ein paar Kurven durch die Innenstadt zu drehen. Doch dann treibt es mich weiter, auf mein eigentliches Ziel zu: Das ist heute Elista, die Hauptstadt Kalmückiens im Süden von Wolgograd.

 

Ich verlasse Wolgograd auf der A-153. 253 öde Kilometer sollen es bis Elista sein, alles nur flache Steppe, keine Abwechslung. Irgendwann auf dem langen Weg erreiche ich eine Stelle, die signifikant aus dem einförmigen Allerlei heraussticht: zwischen Tsatsa – Цаца – und Sadovoe – Садовое – ein kleines Rastplätzchen mit Betonskulptur und Erklärungstafeln. Beim Näherkommen merke ich, dies ist die Grenze zum gelobten Land, endlich!

 

Mitten im Tran, 199 Kilometer vor Elista, ein Kontrollposten der Polizei. Ich fahre langsam heran, halte aber nicht bei dem Schild „СТОП! Контроль“, sondern erst zehn Meter dahinter, bei dem Kalmückengesicht von Beamten, der mich herauswinkt. Ich bin mir keiner Schuld bewußt. Er versucht mir auf russisch klarzumachen, dass mein Verbrechen nur mit Geld wiedergutzumachen ist. Ich stelle um auf Nichts-Verstehen. Da stellt sich heraus, dass er ein paar Brocken deutsch kann. „Komm heraus!“, brüllt er. Ich steige aus. Er wandert mit mir zehn Meter zurück zu dem Schild. „Da!“ Ha! Ich zeige ihm, dass es viel besser war, bei ihm direkt als bei dem Schild zu halten, Hauptsache ich halte überhaupt. „Du deutsch“? Ja, ich deutsch. „Deutsch gut“. „Du Kalmück!“ Freundschaftliches Schulterklopfen. Ich darf weiterfahren, ohne etwas bezahlen zu müssen.

 

Kurz danach – ich bin schon wieder in meinen Tran verfallen – fährt vor mir ein Lastwagen und ist entschieden zu langsam. Er kriecht regelrecht, mit 40 Kilometer pro Stunde, Dieselwolken ausstoßend. Es besteht Überholverbot. Weit und breit kein Verker. Schnurgerade Straße, zu beiden Seiten topfebenes Ödland, Dornengestrüpp, vor mir bis zum Horizont kein Auto zu sehen, hinter mir auch keines. Ich setze zum Überholen an und schere vor ihm wieder auf die rechte Fahrbahn. Alles schon tausend Mal gemacht.

 

Nut die Polizisten habe ich übersehen, die 400 Meter voraus auf der Anhöhe stehen und mit dem Fernglas nach Fahrern wie mich Ausschau halten. Dicke Mongolengesichter stoppen mich. Ich werde gleich in das Auto gebeten, wo der fürs Administrative Zuständige schon auf mich wartet. Er trägt eine schicke Sonnenbrille und zeigt mir den Katalog von Verkehrszeichen, darunter auch das für Überholverbot. Er deutet darauf, das sei international. Ich kann mein Vergehen nicht abstreiten, nur erklären. Wir verstehen uns beide nicht. Schon zieht er die Schreibunterlage hervor mit den Protokollformularen, fängt an, die Kopfzeile auszufüllen, das Datum zuerst. Das macht er standardmäßig, um seine Delinquenten einzuschüchtern, denn jetzt kommt er an die Stelle, wo er meine Daten aus dem Paß übertragen müßte. Er wendet das Protokollformular umständlich herum, in Erwartung, dass ich weich werde und gleich zahle. „Kuda?“ wohin? „Elista“. Was ich dort will? „Tourist, Hobby“. Jetzt wird’s interessant für ihn. Welches Hobby? Ich muß zurück zu meinem Auto und die Merksprüche holen, die ich für solche Fälle vorbereitet habe.

 

Самая высокая точка“ höchster Punkt, und "каждая автономния республика“ stammle ich und zähle auf: Kalmykia, Kasachstan, Tatarstan, Udmurtia, Mordovia, Tschuwaschia, Marij-El. So was beeindruckt. Er will meine Einreisedokumente sehen. Ich muß ein zweites Mal zu meinem Auto zurück, alles hervorkramen, was er möglicherweise noch sehen will. Aha, Aufenthaltserlaubnis bis 15. August. Der Beamte wendet sich mir zu: „Gitler tot“, sagt er unvermittelt. „Da, choroschó“ ja, gut so, antworte ich und klopfe ihm aufs Knie. „Und Stalin tot“. Er nickt. Gibt mir wortlos meine Dokumente zurück. Noch einmal davongekommen!

 

Ich lerne: Die Landschaft kann noch so flach sein, die Umwelt noch so öde, für ständige Aufregung ist in Kalmückien gesorgt.

 

Ein Rastplatz an der Straße. Kamele stehen dort herum. Ist das noch Europa?

 

Schon wieder werde ich bei der Einfahrt nach Elista belästigt. Ein Kontrollposten ist hier fest etabliert. Diesmal geht es darum, mich als Person mit all meiner Identität zu „erfassen“. Ich muß aussteigen, um quer über die Straße zu einem Beamten zu laufen, der an einem Tischchen im Freien unter einem Baldachin gemütlich sitzt, ein großes Querformat-Buch vor sich. Dort hinein trägt er Name, Vorname, Geburtsdatum … Dann fängt er an zu fragen: „Wohin?“ Ich sei wohl ein Spion, vermutet er. Ich bestärke ihn in dem Glauben und lache ihn aus. Ob ich aus West- oder Ostdeutschland käme? FRG oder GDR? Noch 18 Jahre nach der Wiedervereinigung ist auch in diesen Sturköpfen am Straßenrand von Elista die Trennung zwischen West und Ost noch voll verankert.

 

Ich schaue nach einem Hotel aus, denn ich brauche in dieser wasserlosen Umgebung dringend eine Dusche. Mir fällt bei den ersten Häusern von Elista das Schild „Гостиница“ auf, Gostiniza, abgeleitet von Gasthaus. Gut, Gostiniza klingt immer preiswerter als „Hotel“. Also fahre ich hin. Ich lande vor einem alten, heruntergekommenen, vergitterten Haus, wie ein Gefängnis. Drinnen ist nur ein Mädchen aufzutreiben, das gerade Bettwäsche durch eine Mangel schiebt; sie holt die „Direktorin“, eine resolute Frau, die an mir und meiner Unfähigkeit mich auszudrücken schier verzweifelt. Natürlich spricht man in solch einer Absteige nur russisch. Nein, nein, kommt heraus, man macht für mich keine Registrierung, das könnten sie nicht. Ich verstehe: Ausländer hat das Haus noch nie gesehen.

 

Also muß ich weitersuchen. Im Zentrum der sogenannten Stadt, einer Ansammlung schäbiger Häuschen mit vergoldeten fliedenden Pferden am Dachfirst und buddhistisch-mongolisch angehauchten Pavillons in weitläufigen Parks zwischen eben diesen Häuschen, finde ich auf eine querlaufende Hauptstraße. Über einem Haus steht das vertraute „Gostiniza“, diesmal deutlicher und größer. Ich unternehme also einen zweiten Versuch und öffne den Bretterverschlag, der die Eingangstür darstellen soll.

 

An der scheinbaren Rezeption bedeutet mir die Dame, das Hotel sei etwas weiter die Straße hinunter. Ich bin unfähig, es zu finden. Hinter dem nächsten Bretterverschlag gähnt nämlich nur ein schwarzes Loch. Also wieder zurück zu der kenntnisreichen Dame. Nein, sagt sie, das Loch sei schon richtig gewesen. Also versuche ich es ein drittes Mal. Ich öffne den angeblich richtigen Bretterverschlag und trete ein, in das Dunkel des Lochs. Ich muß warten, bis sich meine Augen von der Helligkeit des sonnenüberfluteten Sommertags in Downtown- Elista an die Dunkelheit der Hotelhalle gewöhnt haben, dann erkenne ich den Tresen eines Empfangs. Die Dame dort schläft und muß erst geweckt werden. Sie entschuldigt sich: Stromausfall!

 

Ich liebe zerfallende Hotels; sie strömen eine einzigartige Melancholie aus und sind billig dazu. Stromleitungen lagen quer über die Korridore …

 

Ich frage die Dame an der Rezeption, ob sie für mich anläßlich meiner Übernachtung hier eine Registrierung durchführen könne. Sie telefoniert ein bißchen herum und bescheidet, Registrierung bräuchte ich nicht. Sie behält allerdings meinen Paß ein; vermutlich läuft das auf dasselbe hinaus; mir geht’s nur um den Hotelstempel auf der Migrationskarte. Ich quartiere mich für zwei Nächte in einem kargen Zimmer ein, aber mit Dusche und funktionierender Klimaanlage. In mehreren Etappen schleppe ich schwitzend das gesamte Gepäck aus dem Auto nach und nach drei Stockwerke hoch in mein Zimmer, denn das Auto ist auf der Straße vor dem Hotel geparkt und hat schon Interessenten angelockt: „Was kost?“ Das Waschbecken hat – wie üblich in Russland – keinen Stöpsel, so gerät das große Wäschewaschen etwas zur Farce; muß mit Taschentüchern abdichten. Spanne eine Wäscheleine quer durchs Zimmer. Auch einen Fernseher gibt es, mit einem lächerlichen, sowieso unverständlichen Programm. Wieder drängt sich in mir der Gedanke auf, ob denn Hotelübernachtungen für mich das Richtige sind. Wo ist der Gegenwert? Der Gegenwert besteht aus fließendem Wasser, nichts sonst. Den Rest kann ich mir selbst bieten.

 

Drunten an der Rezeption rüttelten ein paar Kühlschränke, vorhin, als plötzlich der Strom wieder da war. Aber ich bin zu faul, dort meine Drei-Liter-Plastikflasche mit „Жигулёвское светлое пиво“ zu deponieren – dem guten, warmen "Zhigulyovskoe"-Leichtbier, mit dem ganz Rssland in diesen heißen Sommertagen überschwemmt zu sein scheint. Stattdessen nehme ich ein paar kräftige Züge. Ein herrliches Einschlafmittel – ich versinke in Tiefschlaf, und das am frühen Nachmittag.

 

Als ich wieder aufwache, ist es zu spät, um noch etwas Sinnvolles zu unternehmen. Ich schreibe ein paar Briefe und Postkarten an die Daheimgebliebenen und frage mich durch zur Post. Dort stehe ich am Schalter und schaue durch das Glas durch auf Lenins Kopf. Darunter der Spruch „Социaлизм без почты, телеграфа, машин пустейшая фраза“ Sozialismus ohne Post, Telegraph, Maschinen ist eine leere Phrase und wieder darunter das Konterfei des Dalai Lama. Lenin und die buddhistische Lehre bieten offenbar keinen Widerspruch in sich. An der Glaswand des Schalters heftet ein noch etwas profanerer Spruch: „Абхазию и Южную Oсетию переводы не принимаем– Wir nehmen keine Überweisungen für Abchasien und Südossetien an; klar, dort wird gerade geschossen.

 

Danach will ich einmal wieder ordentlich essen gehen, etwas Substantielles. Wo kann ich das am besten? Das chinesische Restaurant, das auf meinem kleinen Stadtplänchen eingezeichnet ist, hat seine Türen verrammelt. Das Café Sputnik, das es noch um ein paar Ecken herum geben soll, existiert nicht mehr. Ich finde kein anderes Restaurant als das auf der rückwärtigen Seite meines Hotels, noch im „Гостиничный комплекс Элиста", dem Gasthauskomplex Elista alles in Russland kommt immer in Komplexen daher und da wird gerade kräftig gefeiert. Ein Kuban-Kosake, schon schwer angeschlagen und nur noch trübe aus seinen Augen blickend, umarmt mich und lädt mich überschwenglich zum Mitsaufen ein. Er ist heute 55 Jahr alt geworden, und wenn er so weitersäuft, wird er es nicht mehr lange machen.

 

Die Frauen am Tisch sind etwas zurückhaltender, verständlich, die haben ja heute nichts zu feiern, sondern nur mitzumachen. Noch reden sie verständlich, noch sind sie nicht in den Zustand allgemeiner Wirrnis verfallen. Sie bieten mir zum Wodka auch etwas zu essen an. Klar, als Ausländer bin ich Mittelpunkt. Hier gibt es sonst keine Abwechslung. Schon drehen sich die ersten zum Tanz im Kreise – da ziehe ich es vor, mich auf mein Zimmer zurückzuziehen. Wenn ich anfangen würde mitzutanzen, würde das Feiern kein Ende nehmen und ich wäre morgen am Boden zerstört.

 

63 Kilometer nach Südosten sind es von der Umgehungsstraße A-154 von Elista nach Ики бурул – Iki Burul; das wäre die Richtung, die ich einzuschlagen hätte. Also schlage ich sie ein.

 

Da sind sie wieder, die Grabhügel! Ich halte kurz an, um seitlich der Straße den Kurgan Toruntyn zu besteigen – Курган Торунтын, der mit 179 Meter Höhe auf meiner Karte eingezeichnet ist. Ich treffe einen Steinhaufen auf seinem Gipfel an; buddhistische Gebetsfahnen sind zwischen die Steine gesteckt. Die Fahnen flattern im Wind. Ich fühle Tibet, die Mongolei. Ich fühle, dass ich nicht mehr in Europa bin.

 

Großartig auch das Eingangssymbol in die „Bezirkshauptstadt“ Iki-Burul, doch dahinter verbergen sich nur ein paar armselige Hütten. Gleich hinter dem Ort, wo die Straße wieder in die Steppe eintritt, biege ich auf die Stichstraße in Richtung Manytsch/Маныч ab. 22 Kilometer sollen es bis dorthin sein. Ungeheure Krähenschwärme scheuche ich auf; russische Krähen lassen sich immer gerne auf wenig befahrenen Straßen nieder, dort gibt es überfahrene Tiere zu fressen.

 

Nach kaum einem Kilometer geht der Asphalt in eine Schotterpiste über, und das bleibt so bis zum Ende. Sechs Kilometer vor Manytsch gerate ich in eine völlig unmotivierte Halteverbotszone. Auf den nächsten 200 Metern soll ich nicht fotografieren! Uuuuu geheim! Natürlich halte ich an und schaue, was hier vor den Blicken verborgen werden soll: "ВНИМАНИЕ! ОБЪЕКТ КТК-Р Охраняется вооруженной милицейской охраной ПРОЕЗД СТРОГО ВОСПРЕЩЕН" Achtung! Objekt KTK-R – wird bewacht durch bewaffnete Milizwachen – Durchfahrt streng verboten. Was ist ein Objekt KTK-R? Später finde ich heraus, dass es sich um das Каспийский Трубопроводный Консорциум-Р = Objekt des Kaspischen Röhrenleitungskonsortiums handelt. Aber was bedeutet das P? Das muß ein kyrillisches "R" sein. России also Russland. Es geht um den Abschnitt einer 1510 Kilometer langen Rohrleitung auf russischem Gebiet, die seit April 2003 die Ölfelder im Westen Kasachstans mit dem neuen See-Terminal bei Noworossijsk am Schwarzen Meer verbindet.

 

Und das andere Schild? Überschrieben ist die Warnung mit dem Namen des Konsortiums und wieder dem vertrauten „Achtung“. Doch dann erschließen sich neue Erkenntnisse: „НефтепроводПереход MHП через автодорогуне копать! При аварии звонить: und dann folgen Telefonnummern in Astrachen and Noworossijsk. Also: Erdölleitung – Übergang MHP über die Fahrbahn – nicht graben! Bei einem Unfall Anruf

 

Einen Unfall hatte ich nicht und gegraben habe ich auch nicht. Dafür interessiert mich etwas ganz anderes: Kurz vor Manytsch sehe ich nämlich links schon den Funkmast auf der Gora Schared. Kurz danach, bei den ersten Häusern von Manytsch, steht links der Straße ein verrosteter Wasserturm. Das Dorf lasse ich rechts liegen und biege links auf einen Feldweg in Richtung der Gora Schared ein. Dann sind es noch einmal genau drei Kilometer auf angenehmer Erdpiste bis vor die Antenne auf dem Gipfel. Darf ich mich näher herantrauen? Darf ich fotografieren?

 

Ich peile kurz, nehme Witterung auf – niemand weit und breit zu sehen. Da drücke ich ein paar Mal auf den Auslöser, einmal direkt auf die Antenne, das andere Mal auf einen Vermessungsstein, der mir hier so schön anzeigt, dass ich auf einem Gipfel stehe – sonst hätte ich es in der flachen Landschaft kaum bemerkt – und mache, dass ich schnellstens davonkomme. So schnell habe ich mich noch kaum je von einem Gipfel verabschiedet - 222 Meter hoch, höchster Punkt der Republik Kalmückien!

 

Schnell zurück die 22 Kilometer zur Hauptstraße. Dort, an der Einfahrt, fühle ich mich sicher, halte an und hole etwas zu essen hervor. Gerade kaue ich auf vollen Backen mein Brot, da stoppt ein Wagen der Milizia – Милиция – neben mir. Es entsteigen zwei uniformierte Schlächtertypen, sportlich durchtrainiert und gut gelaunt. „Inspektion“ nennen sie das, was sie mit mir und meinem Auto vorhaben. Also wieder einmal das Übliche: Paß, Kraftfahrzeugschein, Registrierungsdokument. Hinten aufmachen! „Alpinism, Konservy" – ha, das Wort "Консервы" gibt es tatsächlich! Ich führe meinen vorletzten Bohneneintopf vor, den ich aus der Heimat mitgebracht habe. Oh, da ist noch die Matratze. Mой отель mein Hotel erkläre ich. Oчень хорошó! Sehr gut! Die Kerle sind beeindruckt und zugleich verunsichert. Irgendetwas Sinistres muß ich doch vorhaben!? Was ich hier mache? Aha, jetzt kommen wir zum Kern der Sache. Na ja, nichts Besonderes, halt Tourismus. Und wo übernachte ich? Heute noch in der Gostiniza in Elista ich denke, es ist opportun, wenn ich vorgebe, dass ich auch ab und zu und besonders hier im Hotel nächtige morgen nach Astrachan. Astrachan ist gut, das fällt nicht in ihren Zuständigkeitsbereich. Da lassen sie es gut sein, wünschen mir alles Gute und drehen auf die Hauptstraße ab, zurück von wo sie gekommen waren. Es sieht so aus, als ob sie nur wegen mir die Fahrt gemacht haben.

 

Beruhigt wende ich mich wieder meinem Brot und meinen Radieschen zu. Keine fünf Minuten später hält ein schwarzes Auto vor mir. Zwei Jünglinge in Zivil schlendern lässig auf mich zu, der eine ein Kalmücke, etwa 30 Jahre alt, der andere ein Russe, etwa 20. Sie weisen sich als Angehörige der Miliz aus; das ist nur ein Vorwand in Wirklichkeit sind sie vom Inlandsgeheimdienst FSB, das sehe ich am Fehlen einer Uniform. Im Grunde zum Lachen. Dieselbe Prozedur noch einmal: Dokumente, Auto öffnen, Inhalt vorzeigen. Aha, ein Deutscher. Sie wühlen in meinen Kisten, finden aber nichs Verdächtiges. Mein GPS-Gerät wäre verdächtig gewesen, wenn sie es gefunden hätten. Der Jüngere kann etwas Englisch; der Kalmücke sagt ein deutsches Kinderlied auf: "Eins, zwei, drei und vier, zählen lernst Du bei mir hier." Jetzt muß ich wirklich lachen. In das Lachen hinein fragt der Russe unvermittelt, ob ich ein Navigationsgerät dabei habe, ob ich Karten habe? Gekonnt, der Trick mich erst einlullen, dann zuschlagen. Wirkt nicht: Ich habe natürlich kein Navigationsgerät und keine Karten. Ich erkläre den beiden, all meine Information käme aus dem Internet, da sei sie öffentlich zugänglich. Ich erkläre beiden mein Hobby. Der Kalmücke weiß sofort, dass der höchste Punkt seines Landes bei Manytsch liegt, fragt aber zum Glück nicht, ob ich schon dort gewesen sei. Und wohin ich noch wolle? will der Russe wissen. Ich zähle ihm alle Städte an meiner geplanten Route auf, von Astrachan bis hoch nach Samara. Da frägt er: "Fahren Sie auch nach Frunze?" Ich stutze, weiß nicht, was die Frage nach der Hauptstadt Kirgisiens bedeuten soll heute heißt sie Bischkek. Er sieht, dass ich seine Frage nicht begreife. "Dort hat man früher immer alle Spione aufgehängt." Nein, natürlich will ich nicht nach Frunze. Aber ich begreife: Halb scherzhaft verdächtigt mich der Gute als Spion. Wieviel Tage ich in "unserer Republik" zu bleiben gedenke? will der Kalmücke wissen. Ich erzähle die ganze Geschichte noch ein zweites Mal. Morgen Astrachan.

 

Da ziehen sich beide hinter mein Auto zurück und telefonieren über ihr Handy, vermutlich mit der vorgesetzten Dienststelle. Es scheint keine Probleme zu geben. "Auf Wiedersehen, viel Glück!" ruft mir der Jüngere noch zu. Dann springen sie in ihr Auto und brausen davon.

 

Zurück nach Elista. Noch eine Nacht im "Ersten Haus am Platze". Am nächsten Morgen hält es mich nicht lange. Ich muß raus, mein Programm weitertreiben. Und schließlich ist um 5 Uhr 30, wo es noch kühl ist und niemand unterwegs, die beste Besichtigungszeit für Tempel, Pagoden und die Schachstadt in Elista. Ich tauche für kurze Zeit in den kalmückischen Buddhismus ein; versuche einen Eindruck von der Schachbegeisterung des Präsidenten zu erhaschen.

 

Dann heize ich, so schnell wie möglich, meinen Opel die 318 Kilometer quer durch die Steppe hinüber nach Astrachan, flach und öde wie alles in Kalmückien, breit und leer, Wüste fast, nur ab und zu unterbrochen von ein paar einsamen Kühen oder einer Tankstelle.

 

Hinter der armseligen Siedlung Хулхута Hulhuta verläßt die Straße die Kalmückische Republik und taucht in die Astrachaner Oblast' ein. An der Landschaft ändert sich gar nichts; sie wird höchstens noch eine Spur öder, je mehr ich mich dem Kaspischen Meer nähere. Salzseen säumen jetzt die Straße. Die Höhenquoten auf meiner Landkarte nähern sich Null. Ich bin der tiefsten Stelle des europäischen Kontinents auf der Spur. Doch das gehört nicht hierher.

http://www.gipfel-und-grenzen.eu


Tourengänger: Wolfgang Schaub


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Kommentare (2)


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Sputnik Pro hat gesagt: Grossartig
Gesendet am 19. Juni 2012 um 18:00
Und wieder einmal überrscht du michmit bester Feierabendlektüre! Langsam überlege ich mir schon ob ich nach Europa und den arabischen Mittelmeerländern nicht auch noch alle Höhepunkte aller autonomen Republiken Russlands besuchen sollte.

Viel Erfolg weiterhin beim Reisen und Sammeln :-)

Viele Grüsse,

Andi

sqplayer hat gesagt: Glückwunsch
Gesendet am 4. November 2015 um 16:48
herrlich absurder Bericht, sehr unterhaltsam!


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