Gora Narodnaya, die "Völkische": Welchem Volk gehört die Höchste des Ural?


Publiziert von Wolfgang Schaub , 30. August 2010 um 21:27.

Region: Welt » Russland » Komi-Republik
Tour Datum:15 August 2010
Wandern Schwierigkeit: T3 - anspruchsvolles Bergwandern
Hochtouren Schwierigkeit: WS-
Zeitbedarf: 1 Tage 5:00
Aufstieg: 1125 m
Abstieg: 1125 m
Strecke:Base Zhelannaya - Tal des Balban'-yu - Gora Narodnaya und zurück
Zufahrt zum Ausgangspunkt:Moskau - Inta mit diversen Zügen der Linie Moskau - Vorkuta oder Moskau - Labytnangi oder Moskau - Severnyj
Zufahrt zum Ankunftspunkt:Inta - Base Zhelannaya und zurück mit Transportservice, vermittelt durch die Verwaltung des Nationalparks Yugyd-va. 7 Stunden holprige Fahrt auf gebahnter, unbefestigter Trasse
Unterkunftmöglichkeiten:einfaches Hotel in Inta, Mehrbettzimmer in der Base Zhelannaya
Kartennummer:vor allem http://polarural.narod.ru/maps1/q419798_3.jpg oder Karte Q-41-97,98 des sowjetischen Generalstabs

Gora Narodnaya, die "Völkische": Welchem Volk gehört die Höchste des Ural?

 

Der Ural bildet für mich die Grenze Europas mit Asien – so willkürlich wie diese Definition ist. Die höchsten Berge autonomer russischer Republiken gehören zu meinem Sammelgebiet der jeweils Höchsten aller europäischen Länder.

 

Ganz im Nordosten Europas finde ich da die Komi-Republik – Республика Коми –, bevölkert vom Stamm der Komi. Hat jemand schon einmal etwas von den Komi gehört? Nein? Dann geht es Euch genau wie mir. Ich bin im Kalten Krieg aufgewachsen und kenne nur den Westen; das wirkt nach. Denn selbst heute noch geht eine unsichtbare Trennlinie durch Europa: Östlich von Wien beginnt schrittweise Asien in den Köpfen, und das durchaus schon an Äußerlichkeiten belegbar. Ich weiß auch heute noch nicht recht, wie Russland einzuordnen ist; und gar die Komi!!?

 

Wer sind die Komi? Was ist die Komi-Republik?

 

Die Komi sind ein finno-ugrisches Volk. Sie machen nach der Volkszählung 2002 allerdings nur ein Viertel der Bevölkerung der Komi-Republik aus, 60 Prozent sind Russen. Zu den damals etwa 1 Million Bewohnern zählten die Statistiker außerdem noch Angehörige aller möglichen Völkerschaften der ehemaligen Sowjetunion, die meisten Nachkommen von Verschleppten, die Stalin zum Bau der Bahn nach Workuta brauchte, und Abkömmlinge von Sträflingen aus den berüchtigten Lagern dort.

 

Komi“ nennen sich mehrere Bevölkerungsgruppen in der Republik Komi und jenseits ihrer Grenzen. Die Mehrzahl der Komi spricht Varianten des Komi-kyv. Ein erheblicher Teil verwendet aber auch überwiegend oder ausschließlich Russisch. Traditionell Forst- und Landwirte, Jäger und Fischer, arbeiten viele Komi heute in der Industrie und im Dienstleistungssektor.

 

Das 1919 - 1921 geformte Gebilde der Republik Komi umfasst 416 000 Quadratkilometer und ist damit um den Faktor 1,16 größer als Deutschland, wenn auch weitgehend aus Sumpf bestehend. Republikhauptstadt ist Syktywkar mit etwa 230 000 Einwohnern. Amtssprachen sind Komi und Russisch; die Schilder an öffentlichen Gebäuden sind zweisprachig. Wer sich weiter einlesen will, vor allem was den Grad an Autonomie betrifft, den die Komi „genießen“, der studiere am besten ihre Verfassung: http://85.rkomi.ru/ru/ORespublike/Konstitutsiya.html.

 

Der höchste Berg

 

Politische Landkarten von Russland, übereinandergelegt mit geographischen, zeigen, dass der höchste Berg des Ural zugleich der höchste Berg der Komi-Republik ist: die Gora Naroda oder Gora Narodnaya, 1895 m hoch, „Berg des Volkes“ bzw. „völkischer Berg“ in der Übersetzung, ein Name, der dem Berg 1927 aufgedrängt wurde, als er erstmals von dem Geologen A. N. Aleschkow bestiegen und als des Urals Höchster entdeckt wurde, angeblich eine Verballhornung des entsprechenden Komi-Namens „Nárada-iz“. Ein anderer Name ist „Poznurr“.

 

Und schon beginnt die Planung. Einen Atlas der Republik Komi mit Karten 1 : 500.000 liefert die bewährte Landkartenhandlung Jāņa sēta in der Stabu iela 119 in Riga. Beim Betrachten überkommt mich das Grausen: Weit und breit gibt es keine Straßen in dem angepeilten Gebiet, höchstens noch ein paarзимники“ = Wintertrassen und „Тракторные“ = Traktorspuren durch unübersehbaren Wald und Sumpf; die kann ich vergessen, zumal der nächste erreichbare Ort an die 100 Kilometer Luftlinie entfernt ist, in Realität 170 km: Inta an der Bahnlinie Moskau – Kotlas – Uchta – Workuta. Diese Bahn ist die einzige brauchbare Außenverbindung der Republik Komi.

 

Aber schon erspähe ich auch ein interessantes Detail: Wie erwartet zieht die Grenze der Republik Komi zu dem sibirischen Autonomen Kreis der Chanten und Mansen – Ханты-Мансийский Аьтономный Округ — über die г. Народная, aber nicht exakt über ihren Gipfel, sondern in kurzem Abstand nordwestlich an ihm vorbei. Der Gipfel der Narodnaya wird nach Sibirien, zu den Chanten und Mansen verwiesen. Das wirft sofort die Frage auf: Was genau ist dann der höchste Punkt der Republik Komi? Er muss in den Gipfelbereich der Narodnaya fallen, hoffe ich; dann könnte ich beide auf einen Schlag erledigen. Intensives Googeln nach so was wie „Самая высокая точка Республики Коми“ = Höchster Punkt der Republik Komi führt nur zutage, dass die Grenze tatsächlich im Abstand von einem halben Kilometer am Gipfel vorbeizieht, wo genau aber der höchste Punkt liegt und wie hoch er ist, bleibt ein Rätsel.

 

Das bedeutet aber auch: Ich muss noch genauere Karten besorgen. Eine Sammlung brauchbarer Karten 1 : 100.000 hat der sowjetische Generalstab in alten Zeiten angefertigt; sie sind heute bei der regierungseigenen Firma Roskart – Federalnoje agenstwo geodesii i kartografii – Roskartografija (Föderale Agentur für Geodäsie und Kartografie) in 117997 Moskau, Ul. Krzhizanovskogo 14, Korpus 2, erhältlich. Zu empfehlen ist Karte „Cеверная Народа“ Nummer Q-41-97,98, herausgegeben 1980. Aber Vorsicht: Roskart liefert, wenn überhaupt, nur nach Vorauskasse. Ihre Internet-Seite http://roskart.gov.ru meldet mein Virenschutz als „attackierend“.

 

Weiter Googeln liefert den direkten Weg online: http://www.veslo.ru/maps.html und besser noch http://polarural.narod.ru/, vor allem dort die Karte http://polarural.narod.ru/maps1/q419798_3.jpg. Und was sehe ich? Der Gipfel der Narodnaya liegt etwa 600 m südöstlich seiner Nordwest-Schulter, über die die Grenze zieht. Diese Nordwest-Schulter scheint ein paar Meter höher als der nächstliegende Konkurrent im Nordosten, die Gora Karpinskogo, die mit 1803,4 m als zweithöchste Erhebung des Ural direkt auf der Grenze liegt. Insofern kann ich beruhigt sein: Ich muss nicht extra noch auf die Gora Karpinskogo steigen; vielmehr kann ich die Schulter auf dem Weg zum Hauptgipfel auf ein und derselben Tour "mitnehmen".

 

Aber eine andere Frage habe ich noch nicht beantwortet:

 

Wer sind die Chanten und Mansen?

 

Ganz einfach: die Leute um die Stadt Chanty-Mansijsk. Vielleicht hat ein Wintersportbegeisterter schon mal aufmerksam zugehört: Dorthin müssen „unsere“ Skiläufer und Biathleten manchmal zu Wettbewerben fahren.

Die Chanten und Mansen, finno-ugrische Völker, die nächsten Verwandten der Ungarn, sind die Titularnationen des gleichnamigen autonomen westsibirischen Kreises. Allerdings machen sie nur noch einen Bruchteil der Bevölkerung aus – jeweils nur um 1 Prozent ; die meisten Einwohner – drei Viertel der Bevölkerung – sind Russen, Ukrainer oder Weißrussen. Dieser Trend hat sich durch die Entdeckung und Ausbeutung von Erdölfeldern noch verstärkt. Eines ist klar: Die Gora Narodnaya ist – diesmal unangefochten – auch der höchste Berg des Autonomen Kreises der Chanten und Mansen.

Wie hinkommen?

 

Diesmal ist das „Hinkommen“ ziemlich einfach, wenn auch teuer: Ich brauche ein Touristenvisum für Russland (etwa 120 €), einen Flug nach Moskau (etwa 300 € hin und zurück), eine Bahnfahrkarte vom Jaroslawer Bahnhof Moskaus über Kotlas nach Inta-1 (Fahrplan der russischen Bahnen auf http://rzd.ru, Unterseite http://pass.rzd.ru/isvp/public/pass/isvp/public/rzd/express?schd_id=3&action=submit&layer_id=4924&train=022Я&src=МОСКВА&STRUCTURE_ID=735&date=31.08&schd_ref_id=1&dst=ИНТА&refererLayerId=4922, Zug Nr. 021H bzw. 22H "Полярная стрела" = Polarpfeil, Fahrtdauer 36 Stunden – es gibt auch beschaulichere Personenzüge, auf denen man mehr russisches Leben erfährt! 420 € in der weichen „Kupé“-Klasse hin und zurück), Registrierung bei der russischen Umweltbehörde (denn ich betrete den Nationalpark Yugyd-va), eine tägliche Aufenthaltsgebühr im Park und Vermittlungsgebühr der Parkverwaltung (zusammen 75 €), ein Hotelzimmer in Inta (23 € pro Nacht in der schäbigen Gostiniza Severjanka in der Gorki-Straße 9, erstes und letztes Haus am Platze), und schließlich das Härteste: Transport mit dem hochrädrigen zum Bus umgebauten Lastwagen „Ural-Vachta“ von Inta zur Baza Zhelannaya, dem Ausgangspunkt für die Wanderung („Lustbasis“, 525 € hin und zurück). Nicht zuletzt ist auch der Aufenthalt dort zu bezahlen, und zwar mit 23 € die Nacht, Klasse „Lux“, in einem ordentlichen Zimmer mit Zugang zu einer Dusche, oder 40 Cent die Nacht in einem dreckigen Schuppen, Marke Viehstall. Die Baza Zhelannaya bietet auch beste Verpflegung und unterhält einen kleinen Kiosk. All das ist vorab in etwa dem Internet zu entnehmen, wenn man die Seiten des Nationalparks auf http://www.yugydva.komi.com/index.php durchforstet. Vorsicht: Die entsprechenden englischen Seiten auf http://www.yugydva.komi.com/?eng enthalten weniger Information als die russischen!

 

Nicht zu vergessen: Die Preise habe ich nur des besseren Verständnisses halber in € angegeben; alles ist jedoch in Rubel zu entrichten. Und: Kaum jemand spricht auf dem ganzen Weg ein Wort Englisch oder Deutsch! Wer technologisch auf der Höhe ist und ein Laptop hat, tippt seine Fragen auf Russisch in Google Translate und hält mir per Knopfdruck die englische Übersetzung vor die Nase. Wenn ich Glück habe, kommt etwas Verständliches heraus. Es empfiehlt sich daher der vorherige Besuch eines vierwöchigen Intensivkurses Russisch beim Landesspracheninstitut der Universität Bochum, der ersten Adresse in Deutschland für solche Zwecke, http://www.lsi-nrw.de/. Und noch einmal wären bis zu 2000 € weg, die sind aber gut angelegtes Geld, denn Russland ist groß und die „Gefahr“ groß, dass wenn Du Dich EINmal auf das Abenteuer Russland eingelassen hast, das Land Dich süchtig macht. So würden sich die Kosten über Dein ganzes Leben verteilen und Du würdest einen unschätzbaren Gegenwert dafür erhalten.

Eine genügend große Übersichtskarte des Nationalparks Yugyd-va, aus der ich auch die ungefähre Anfahrtsroute zur Base Zhelannaya erkennen kann, finde ich bei http://nordural.ru/article/yugyd_va/. So geistig aufgerüstet, kann's losgehen.

Anreise

 

Eigentlich ist alles schon gesagt. Drei Tage dauern Flug und Bahn nach Inta, entweder eingepfercht in der Плацкарт- („Platzkarte“-) Klasse, einer Umschreibung für 2. Klasse, oder im 4-Bett-Doppelstockabteil der Klasse Купе = Coupé. Es besteht zwischen beiden nur ein gradueller Unterschied; entscheidender kann in den heißen russischen Sommermonaten sein, ob man im hermetisch gegen Außenluft abgeschlossenen „Schnellzug“ sitzt (Durchschnittsgeschwindigkeit 55,5 km/h) oder im nur geringfügig gemächlicheren Personenzug, bei dem man aber die Fenster öffnen kann (47,6 km/h). In jedem Fall habe ich freien Zugang zum zentralen Boiler für Teewasser, made in DDR, und einer liebevollen Schaffnerin, die mich morgens eine halbe Stunde vor Ankunft in Inta sanft weckt.

 

Mit Schnauferl-Bus Nr. 101 geht es vom 10 km außerhalb gelegenen Bahnhof in die trostlose Innenstadt, die sich um die weitläufige Wüste eines Platzes mit Lenindenkmal in klassischer Sowjetmanier gruppiert. Kein Wunder: Inta wurde erst 1940 als Ausgangspunkt für geologische Explorationen gegründet; der Name leitet sich vom nenzischen Ausdruck für „wasserreicher Ort“ ab.

 

Von der Haltestelle „Rosto“ sind es nur wenige Schritte zum Verwaltungsbüro des Nationalparks in der uliza Dzerzhinskogo 27 A – Skizze auf http://www.yugydva.komi.com/?page=address.htm –, das um 9 Uhr öffnet. Die drei Damen dort, Olga Viktorowna, Olga Vladimirowna und Ljudmila, handeln ohne Umschweife und zielbewusst. Will ich gleich heute oder erst morgen zur Base fahren? Nicht lange nachdenken! Entscheiden!

 

Zum Glück gewährt man mir Aufschub, um am Computer zunächst die Wetterprognose zu klären. Übermorgen soll es schön sein in Inta, danach wieder Regen. Und Wetter für Inta bedeutet nicht Wetter für Ural! Nichtsdestoweniger, wenn ich keine andere Entscheidungsgrundlage habe, dann fahre ich eben morgen und steige übermorgen zum Gipfel auf, zumal da eine Gruppe mitfahren soll, was den Preis für mich drückt. Und nicht nur das: Es eröffnet auch die Perspektive für Kameradschaft. Bergbesteigungen in Breiten kurz vor dem Polarkreis sind ernste Unternehmungen; der Höhe von 1895 m entspricht in den Alpen 1000 m mehr! Da sind Wetter und Begleitung wichtige Faktoren.

 

Der Fahrer des Ural-Vachta, der „Bisnessman“ Aleksandr Veniaminovich Nakvaskin, erscheint präzise zum vereinbarten Zeitpunkt vor dem Hotel. Die 170 km Rüttelfahrt auf der Urwald- und Tundrenpiste mit Durchquerung des Kozhym-Flusses dauert 7 Stunden, dann werde ich oberhalb der Baumgrenze an der Base Zhelannaya abgesetzt und der Fahrer kehrt leer nach Inta zurück. Nie hätte ich die Strecke zu Fuß zurücklegen können: 1) zu lang, 2) der Fluss zu tief zum durchwaten.

 

Anstieg

 

Die Gruppe ist andere Wege gezogen, ich bin also allein. Die Besteigung, sagt man, ist an 1 Tag nicht zu schaffen, ich muss also eine Nacht im Freien campieren. Auch deswegen lege ich Wert auf gutes Wetter. Man legt mir Gummistiefel nahe, mit Profil; solche habe ich mitgebracht, aber sind sie hoch genug? Man runzelt die Stirn: Besser wären welche, deren Schaft über das Knie reicht. Und wasserdichte Hosen? Habe ich nicht.

 

Punkt 4 Uhr breche ich von der Base Zhelannaya auf. Wie aus der Karte ersichtlich, führt der Anmarsch zur Gora Narodnaya die ersten 6 km am Großen und Kleinen See Balbanty entlang durch das Tal des Balban'-yu, an dessen rechtem Ufer auf einer Traktorspur, teils hübsch trocken, meist aber grundlos morastig, die scharfe Pyramide der Gora Starucha-iz vor Augen – 1328 m. Dann, 9 Uhr ist es schon, quert die Trasse schräg aufs linke Ufer – zum Glück ist der Balban'-yu hier nur ein flacher Bach – und setzt sich dort leidlich trocken in ein westliches Seitental fort. Nach weiteren 2 km ist dieser Bach nach S hin zu durchwaten – so tief, dass mir das Wasser gerade bis zur Oberkante meiner Stiefelschafte reicht. Danach verliert sich die Traktorspur weiter nach W zu.

 

Ich muss jetzt rechtwinklig nach links abbiegen, eine strikte S-Richtung einhalten und eine Moräne ansteuern, die den winzigen Gletscherrest des Lednik Balban'-yu zur Rechten vom Bach zur Linken trennt, eine Weile auf deren Kamm über Blockgestein turnen, dann südöstlich zuerst über ein grasiges Feld, dann über Blöcke zum Ausfluss des Sees mit der Höhenquote 1133,5. Ab hier lässt mich das Blockgestein nicht mehr los. Es ist 11 Uhr.

 

Ab hier gibt es keine sichtbare Spur mehr im Gelände; ich habe mich rein auf die Landkarte zu verlassen. Weiter in SO-Richtung geht es, das scharf eingeschnittene Tälchen links lassend, einen blockübersäten, buckligen Rücken hinauf. Von oben sehe ich zum ersten Mal das breit hingelagerte Dreigestirn aus der zentralen Gora Narodnaya und ihrer nordöstlichen sowie nordwestlichen Schulter. Dann strebe ich in SW-Richtung durch den flacheren oberen Teil des Seitentälchens auf das Plateau vor dem Gipfelaufbau – die Barriere eines steilen Schneefelds nach links umgehend.

 

Jetzt wird das Vorankommen immer mühsamer. In vorsichtigem Hangeln und Turnen arbeite ich mich über die schier endlose Blockhalde den Kamm hoch, der von der Nordwest-Schulter nach Norden zieht.

 

Als notorischer Höchste-Sammler kann ich natürlich die Nordwest-Schulter nicht auslassen. Ich messe ihre Höhe mit GPS als 1821 – 1830 m und ihre Koordinaten mit 65° 02,232'N 60° 06,121'O und behaupte ohne besseres Wissen, dies sei der höchste Punkt der Komi-Republik. Es gibt wie erwartet weder ein Vermessungszeichen, noch einen Grenzstein. Nach W und S fällt die Wand fast senkrecht hinunter in die Täler der Manaraga – Europa  – bzw. der Naroda – Asien zu. Ich stehe gleichzeitig auf der kontinentalen Wasserscheide. 15 Uhr.

 

Nach kurzer Rast quere ich über den flachen Sattel mit einem Holzkreuz nach SO (1808 m, 65° 02,184'N 60° 06,301'O) und stürme den Hang zum Hauptgipfel hoch. Erst im letzten Moment kommen die Gipfelinsignien in Sicht: der typische aluminium-blecherne „Tur“, das Vermessungssymbol und eine Reihe Plaketten in ehrwürdiger sowjetischer Tradition, die das 80jährige Bestehen der Komi-Republik feiern. Auch die blau-grün-weiße Flagge der Komi-Republik flattert am Boden, völlig deplaziert, wie ich Schlaumeier inzwischen weiß, denn ich bin hier ja schon auf dem Gebiet der Chanten und Mansen, also in Asien. Deren Flagge würde zwar im Prinzip genauso aussehen, müsste aber links oben zusätzlich ein weißes Wappensymbol tragen.

 

Die Aussicht ist beeindruckend alpin; vor allem bestechen der Sägezahn des sechsgipfligen Manaraga im Westen – 1663 m – und die scharfgratige Gora Karpinskogo im NO. Allgemein sind die Bergformen hier im prä-polaren Ural aber eher sanft gerundet: Die Eiszeit hat alles abgeschliffen und mit grenzenlosen Blockmeeren ihre Spuren hinterlassen. Ich messe mit meinem GPS 1898 m und 65° 02,099'N 60° 06,846'O.


Alles wieder zurück

 

Es ist inzwischen 16 Uhr 20, als ich den Gipfel verlasse. An- und Abstieg ist somit tatsächlich nur für ganz Sportliche an 1 Tag zu schaffen. Ich fühle mich wie in einem Wettlauf gegen die Zeit, denn das Wetter droht jeden Moment zu kippen. Mein GPS kommt auch zu Ehren, denn ich muss in der unübersichtlichen Blockhalde vermeiden, dass ich aus Versehen in das Tal des Ozero Goluboe absteige, der zur Rechten so verführerisch heraufblinkt. Wenn ich hier ins falsche Tal absteige, käme das einer verheerenden Katastrophe gleich, denn nirgends wäre eine Siedlung, nirgends eine Straße, nirgends ein Ausgang. Ohne GPS und gutem Orientierungsgefühl könnte ich verloren sein. Regen oder Nebel wäre hier das Letzte, was ich brauchen kann. Doch zum Glück hält sich das Wetter. Ich schaffe es bis hinter den Moränenkamm von heute morgen, lasse es um 20 Uhr – nach 16stündiger Schlacht – gut sein, werfe meinen Rucksack auf der trockenen Wiese etwa bei Punkt 65° 05,5' N 60° 07,8'O ab, breite den wasserdichten Biwaksack aus, polstere ihn von innen mit dem Daunenschlafsack aus und schlüpfe in voller Montur mitsamt den Gummistiefeln hinein – ich will nicht nachts im Regen aufwachen und im Dunkeln nach meinen Stiefeln tasten müssen!

 

Doch alles bleibt friedlich: kein wildes Tier, keine Kälte, kein Regen. Kaum graut der nächste Morgen, bin ich schon wieder auf den Beinen und haste ohne Frühstück weiter zurück, auf demselben Weg, den ich gekommen war. Ich schaffe es bis zur Überquerung des Balban'-yu, da holt mich der Regen ein. Doch was soll's! Ich habe die Narodnaya geschafft, nichts steht mir jetzt noch im Wege außer Morast; was kümmern mich jetzt noch nasse Hosen! Nach 5 Stunden ist auch die heutige Schlammschlacht zu Ende, als ich ziemlich mit mir am Ende die Tür zur Base Zhelannaya aufstoße. Heißer Tee und ein Mittagessen, eine Dusche und vor allem ein Bett erwarten mich.


Und schon um Mitternacht geht es zurück im Lastwagen nach Inta. Warum die Fahrt ausgerechnet nachts und in den ersten Schneeschauern stattfinden musste, bleibt mir ein Rätsel. Wahrscheinlich hat der Fahrer tagsüber noch einen anderen Job.

 

Ein Wort zur Ausrüstung

 

Wie schon erwähnt, hohe Gummistiefel mit Profil. Trillerpfeife (um auf sich aufmerksam zu machen, falls man in Not geraten ist. Üblicherweise ist man allein am Berg und kann das Handy vergessen. Es gibt keine Bergrettung. Mit dem GPS häufig Wegpunkte aufnehmen und sicherstellen, dass man beim Rückweg sich entlang ihnen bewegt – statt sich auf die eigene Erinnerung zu verlassen. Anti-Mücken-Spray. Pfefferspray zur Abwehr von Bären scheint mir dagegen überflüssig zu sein, da Bären oberhalb der Baumgrenze nichts mehr zu fressen finden (?). Biwaksack, Schlafsack. Wasser gibt es fast überall, mindestens bis zu einer Höhe von 1300 m.

 

Absturz aus der Glückseligkeit?

 

Aber was lese ich, als ich nach Hause komme und noch einmal im Internet stöbere: Der Manaraga – vorhin noch 1663 m hoch – soll jetzt 1820 m hoch sein, die Gora Karpinskogo – oben noch 1803,4 m – jetzt gar 1878 m! Wenn das stimmte, würde meine Behauptung, die Nordwest-Schulter der Narodnaya sei der höchste Punkt der Komi-Republik, nicht mehr stimmen. Die Gora Karpinskogo, über deren Gipfel exakt die Grenze zieht, wäre dann die Höchste der Komi-Republik und die Gora Narodnaya würde völlig unzweifelhaft nur den Chanten und Mansen gehören. Schlaflose Nächte drohen mir. Muss ich noch einmal hin? Muss ich auf die Gora Karpinskogo steigen? Oh, bitte nicht, die wäre etwas schwieriger. Kann jemand das Mysterium für mich klären?

Ich konsultiere die Karte, die mir die Parkverwaltung geschenkt hat. Ihr Maßstab ist 1 : 200 000, also genügend groß. Aber was noch wichtiger ist: Sie wurde zwischen 2003 und 2009 produziert; es gibt keine neuere als sie. Und was lese ich darin? Manaraga 1663, Karpinskogo 1803. Kann ich nun in Ruhe schlafen?

 


Tourengänger: Wolfgang Schaub


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Kommentare (4)


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Sputnik Pro hat gesagt: Einfach der Hammer !
Gesendet am 30. August 2010 um 22:05
Hallo Wolfgang,

Hast Du also die tolle Reise in Ural gemacht. Ich weiss noch als Du mir von dieser Idee geschrieben hast, wäre gerne mitgekommen wenn ich das Abenteuer lese was Du erlebt hast. Herzliche Gratulation zum Gipfelerfolg!

Viele Grüsse,

Andi

PS: Dass Osteuropa, Balkan und besonders die Staaten der früheren UdSSR reisesüchtig machen kann ich nur zu gut bnachvollziehen :-)

Wolfgang Schaub hat gesagt: RE:Einfach der Hammer !
Gesendet am 31. August 2010 um 08:23
Danke, Andi.

Habe beide Berichte - Nenzen und Komi - absichtlich so geschrieben, als ob das isolierte Ereignisse gewesen seien. In Wirklichkeit habe ich natürlich beide miteinander verbunden. Mit der Bahn von Archangelsk nach Konoscha-1, dann nach Osten bis Kotlas, und dann erst mit der Workuta-Bahn nach NO bis Inta.

Bin dabei fast zum lebenden Inventar der russischen Bahn geworden. Nächte auf der Bahn in RUS sind die billigsten Hotelübernachtungen!

Wolfgang

Nesnakomez hat gesagt: Erinnerungen
Gesendet am 5. Januar 2011 um 19:16
Hallo, ich habe mich gefreut, mal wieder was von der Gegend um den Narodnaja zu lesen.
Ich bin dort 1993 gewesen und habe viele Erinnerungen daran.
Es war kurz nach dem Anschluß der DDR an den Westen, davor hatten wir die neue Reisefreiheit genutzt, waren am Nordkap, waren in der Sahara - und trafen überall auf Massen von deutschen Touristen. Deswegen dachten wir uns 1993: Alle fahren in den Westen, wir fahren in den Osten - und haben uns ein möglichst abgelegenes Gebiet gesucht, eben den nördlichen Ural und den Narodnaja. Wir sind nicht von Inta los, sondern von einer Station in der Nähe von Kossiju. Daß wir es nicht auf den Gipfel geschafft haben, lag an mehreren Widrigkeiten: 1. Es gab damals überhaupt keine Landkarten von dieser Gegend, noch nicht mal eine Übersichtskarte. Das einzige, was wir hatten, war ein abgezeichneter Ausschnitt aus einer Schulwandkarte (so eine gerollte), 2. Wir sind die ganze Strecke von der Bahnstation zum Berg zu Fuß, also rund 120 km gewandert, 3. Wir hatten nur für eine Woche Verpflegung und rechneten damit, die 120 km zurücklaufen zu müssen, 4. Wir waren moralisch und körperlich am Tiefpunkt, als wir am Bergfuß ankamen, nach 3 Flußdurchquerungen, die uns fast ertränkt haben, nach dem Füttern von Milliarden "Moschkis" (Gnitzen) mit unseren Blut, nach Durststrecken (Wasser alle), Regentagen, nach Verjagdwerden aus der Kantine eines Bergwerkes...
Auf dem Rückweg hat man uns sogar verhaftet, weil der Milizposten annahm, daß wir westliche Industriespione sind. Nach einem Verhör brachten sie uns zum Bahnhof und sagten, daß sie uns nicht wiedersehen wollen.

Wolfgang Schaub hat gesagt: RE:Erinnerungen
Gesendet am 5. Januar 2011 um 20:37
Oh jesses. Große Leistung, kein Kommentar, nur Ehrfurcht.

Abgelegen ist das heute noch und garantiert deutschenfrei.

Mir steht Ähnliches diesen Sommer im Südural bevor. Rätselhaft, was hier zu spionieren sein soll und zu welchem Zweck. Lang lebe die ruhmreiche Sowjetunion!


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