Highpointing in einem Nicht-Land: Der Höchste Transnistriens will auch erobert sein!


Publiziert von Wolfgang Schaub , 7. Juni 2012 um 15:50.

Region: Welt » Transnistrien
Tour Datum:15 April 2007
Wandern Schwierigkeit: T1 - Wandern
Zeitbedarf: 0:15
Aufstieg: 5 m
Abstieg: 5 m
Strecke:Direttissima
Zufahrt zum Ausgangspunkt:Rybniza - Krasnen'koje - Iwanowo - Plot' - Sowjetskoje
Unterkunftmöglichkeiten:Nicht ausprobiert. Eher keine, bis auf in Rybniza. Visafreie Aufenthaltsdauer in Transnistrien ist aber auf 24 Stunden beschränkt!
Kartennummer:sowjetische Generalstabskarte 1 : 100000 von 1942, Blatt Слободна – Slobodna, Nummer L-35-11

Heute will ich Euch wieder mal ein Schmankerl liefern; es ist zwar schon 5 Jahre alt, aber seitdem und vorher war anscheinend niemand von Euch auf Punkt 273,9 in der Transdnjestrischen Moldawischen Republik – russisch: Приднестровская Молдавская Республика Pridnestrowskaja Moldawskaja Respublika, PMR – rumänisch inoffiziell: Stinga Nistrului – Republica Moldovenească Nistreană / Република Молдовеняскэ Нистрянэ – was? Noch nie davon gehört? Kurz: Ich fahre nach Transnistrien.
 

Wer jetzt noch nicht weiß, wovon ich rede, dem ist nicht zu helfen. Europa ist BUNT! Es gilt, alle Flecken abzugrasen. Jeder Fleck hat einen höchsten Berg, auch wenn er in einem Land steht, das es eigentlich gar nicht geben darf.
 

Was braucht man dazu: Ha! Nichts, außer Gottes Hilfe. Falsch: Man braucht das Internet. Denn alles Googeln hilft nicht, man wird den höchsten Punkt Transnistriens nicht finden, auch wenn man auf russisch nach Самая высокая точка приднестровского республики sucht; man kann's auch auf rumänisch versuchen: Nichts.
 

Der Berg ist also ein Nicht-Berg in einem Nicht-Land. Ich will Euch verraten, wie Ihr hinter das Rätsel kommt: Klemmt Euch die altsowjetischen topographischen Generalstabskarten 1 : 100.000, damit kommt Ihr durch die ganze Sowjetunion. Hier ist die Karte Nummer L-35-11 gefragt, Blatt Слободна – Slobodna. Ohne das geht gar nichts am Berg. Ihr geht auf http://sunsite.berkeley.edu:8085/x-ussr/100k/L-35-011.jpg, und damit habt Ihr gleichzeitig den Schlüssel zur ganzen Sowjetunion.
 

Denn Besteigen ist nicht das Problem; das Problem ist Finden und Hinkommen. Und nicht einmal das: Weder ein Visum braucht Ihr, noch eine Spezialerlaubnis. Der freundliche Russe am Grenzübergang Rybniza wird nur wissen wollen, was der Vorname Eures Vaters ist, denn ein russischer Computer arbeitet nur, wenn Ihr Euch mit vollständigem Namen registriert, also Vor-, Mittel- und Nachname. Mein Vater hieß Heinrich. So wurde ich flugs zu Wol'fgang mit Weichheitszeichen Gejnrichowitsch die Russen kennen kein «H», es muss ein «G» sein und zuletzt Шауб. Ach so ja: vergessen habe ich noch, es wäre ganz gut, wenn Ihr die paar Buchstaben des kyrillischen Alphabets lernen würdet, die sich vom lateinischen Alphabet unterscheiden, damit Ihr wenigstens Schilder lesen könnt. Ein Mensch mit normaler Intelligenz und Motivation die darf ich doch voraussetzen? schafft das spielend in einer halben Stunde.
 

Gut wäre auch, wenn Ihr ein einschläfriges Auto hättet, in dem Ihr zur Not übernachten könntet, denn Hotels gibt's keine, jedenfalls nicht vor Ort. Aber selbst das ist nicht recht nötig: Ihr dürft sowieso nicht länger als 1 Tag bleiben. Der freundliche Russe an der Grenze erklärt Euch das.
 

Dann also nach Plot' Плоть. Übersetzt bedeutet das "Leib", "Körper", "Fleisch". Plopi heißt das Dorf auf rumänisch – übersetzt "Pappeln". Ich bin gespannt.
 

Ab der Weggabelung werden die letzten Straßenkilometer nach Plot' sehr löchrig. Bei der Einfahrt ins Dorf überquere ich die Okna, so heißt der Bach, der der Ukraine kommend, durch Plot' fließt und weiter unten in den Dnjestr mündet. Den ersten Abzweig nach links verpasse ich, in den Ortsteil Советское – Sowjetskoje. Die drei scharfen  Dorfschönen haben mich abgelenkt, die mir im Supermini und schwarz gemusterten Strümpfen auf der Dorfgasse entgegenstöckeln. Weiter oben im Dorf gibt es noch eine Zweigstraße halblinks – ab jetzt ohne jeglichen Asphalt –, die bergan hinter, das ist nördlich Sowjetskoje führt. Wie erwartet – nach der Karte zu urteilen – verkleinert sich die Straße zu einem zuerst holprigen, da befestigten, Feldweg; später folgt eine weiche Schwarzerdpiste mit Rillen, aber noch gut befahrbar. Nach einem Stück übers Feld immer vielversprechend bergauf, mündet dieser Weg in die von Sowjetskoje her kommende Parallelstraße, die sich hier als breiter Weg präsentiert. 1,7 Kilometer auf diesem weiter sanft bergan, zu beiden Seiten abwechselnd Buschwerk oder Acker ich spüre schon, der Gipfel ist nah!

Da erreicht der Weg seinen höchsten Punkt, vielleicht 200 Meter vor der ukrainischen Grenze, und was sehe ich zu meiner Linken auf dem Acker? Ein Hügelchen, allerliebst, hübsch aufgesetzt, den Acker fümf Meter überragend, genau wie auf der Sowjetkarte eingezeichnet und mit blühenden Bäumchen bestanden. Eine Erdspur führt hin und eine ausgetretene Trasse sogar die fünf Meter hoch durchs Gras. Oben finde ich einen kreisrunden Wall, mit Durchmesser etwa 10 Meter, und darinnen einen stumpfen Erdkegel, wie als hätte man hier ein Denkmal setzen wollen. An der höchsten Stelle des Kegels die kümmerlichen Reste irgendeines Betonpfeilers. Schade, was auch immer hier stand, es ist verschwunden und zerstört.

 

Nach Westen hin habe ich eine weite Sicht, nach Osten ebenso. Ich bin unumschränkter Herrscher über den Rest, der noch von der glorreichen Sowjetunion übriggeblieben ist. Ich stehe ganz am Rande des Ländchens, zum Glück fällt der Gipfel nicht mit der ukrainischen Grenze zusammen, sonst hätte ich Angst.

Hochbeglückt und geradezu beschwingt, daß ich einen weiteren Gipfel meiner Sammlung "im Sack" habe, kehre ich über den federnd-weichen Schwarzerdacker zu meinem Auto zurück. Jetzt plagt mich der Hunger. Keine Stelle wäre besser abgeschieden und geeignet für ein relaxtes Siegesmahl als hier auf dem Feldweg. Ich umschleiche also meinen Subaru, möchte die hintere Klappe öffnen, um meinen Kocher und eine Büchse herauszuholen, schaue dabei nach unten, der Blick am hinteren linken Reifen vorbei ... Da trifft mich der Schlag: Darin steckt ein Nagel!

 

Nicht herausziehen! Denke ich noch, und dann ist Disziplin gefragt. Erst wird jetzt abgekocht und ordentlich zu Mittag gegessen, das Reifenproblem kann so lange warten. Dann werde ich versuchen, so weit es geht mit dem Nagel im Reifen von hier weg zu kommen noch ist er nicht platt. Durch Sowjetskoje bis runter nach Plot' würde ich gerne mindestens kommen wollen.

Gesagt, getan. Der Reifen übersteht das Mittagesssen, der Reifen übersteht sogar die Talfahrt nach Plot', und dann, auf der Dorfstraße, wo Publikumsverkehr ist
alle kommen gerade vom Friedhofsbesuch zurück wechsle ich den Reifen. Sonntags geht man auf den Friedhof, nimmt das Mittagessen mit und setzt sich dort auf die Bank neben dem Grab des Großvaters oder der Großmutter. Man isst mit seinen Vorfahren – ein Brauch, den es bis nach China hin gibt. Bin ich hier noch in Europa?
 

Ich halte am Straßenrand an und ziehe mutig den Nagel aus dem Reifen. "Zisch" macht es – und jetzt ist es wirklich soweit: Reifenwechsel im äußersten Eck eines Nicht-Landes! Schlimmer konnte es gar nicht kommen. Um mich herum das Kikeriki der Dorfhähne; die Dorfjugend nimmt keine Notiz: Reifenwechsel ist hier Tagewerk, keine Sensation. Zum Glück habe ich zwei Reserveräder dabei. Doch wie üblich wartet Ungemach auf mich: Die Nabe des Rades, das ich entfernen will, hat sich mit der Achse verklemmt, so daß ich Hilfe brauche. Zu zweit müssen wir an dem Rad ruckeln, bis es endlich losgeht. Zehn transnistrische Rubel werden dafür dankend entgegengenommen. Das neue Rad drauf, Schrauben angezogen und weiter kann die Fahrt gehen, neuen Abenteuern entgegen!
 

Eine Gruppe Gänse watschelt mir auf der Dorfstraße entgegen; sie drohen mit aufgereckten Hälsen und zischen – wie der Reifen, als die Luft entwich. Ihr könnt mir jetzt nichts mehr anhaben! Zeit für mich jetzt, wo ich wieder ungestört zurück fahren kann, die Nationalhymne Transnistriens zu singen. Gleich mehrsprachig finde ich Text und Melodie im Internet: http://www.nationalanthems.info/pmr.htm.

So, nun singt mal schön! Denn: Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen!

http://www.gipfel-und-grenzen.eu

 


Tourengänger: Wolfgang Schaub


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Kommentare (3)


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Sputnik Pro hat gesagt: Einfach Herrlich !
Gesendet am 7. Juni 2012 um 18:19
Danke für den gelungenen Bericht. Nun habe ich gleich Lust dorthin zu fahren! Süsse Mädels hat es scheinbar auch, da sollte man an einen Zwischenstopp in Sovjetskoje denken ;-)


marvel hat gesagt: Faszinierender Bericht!
Gesendet am 7. Juni 2012 um 23:24
Auf so etwas muss man erst mal kommen, geschweige denn es dann auch durchziehen.

Linard03 hat gesagt:
Gesendet am 14. Juni 2012 um 07:40
sehr interessanter und amüsanter Bericht! Mein Bürokollege war 2004 auch mal dort; allerdings geschäftlich (da gibt's oder gab es eine Industrie; u.a. für Cement, Stahl, etc.).
Jedenfalls habe ich gestaunt über das detaillierte Wissen meines Kollegen über Transnistrien; insbesondere auch über den geschichtlichen Hintergrund ...

Auch als Berg-uninteressierter hat mein Kollege Deinen Bericht als sehr treffend beschrieben!


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