Dein schönes Blatt hat sofort angefangen, mit mir zu schwatzen:
"Hallo mong, siehst du mich?"
"Ja, du schönes Blatt, ich sehe dich. Gut siehst du aus heute."
"Ja, ich weiss schon, das hat mir Uschi auch gesagt. Und dann hat sie gleich ein Foto gemacht von mir."
"Uschi? ...Ach so, Winterbaer. Du bist ihr also schon so nahe gekommen, dass sie dir gesagt hat, wie sie richtig heisst. Wie hast du das hingekriegt?"
"Ach weisst du, das ist unser Charme. Wir Blätter sind charmant, wir kriegen alle rum, wenn wir wollen. Aber wir wollen nicht immer. Manchmal sind wir zu f...äh...zu...zu...zu beschäftigt, weisst du."
"Tssss...zu beschäftigt...haha...!!! Eigentlich wolltest du sagen: 'zu faul'...gib es zu...!!!"
"Ne ne, ich wollte nicht sagen 'zu faul'. Ach komm, lassen wir das. Ich kenne dich, mong, du bist nur neidisch auf uns Blätter. Am liebsten möchtest du selber ein Blatt sein. Ganz klar, das sehe ich dir an. Ah ja, und dann hat Uschi noch gesagt, ich sei ein Farbtupfer, und 'so einen Farbtupfer könne die Seele gut gebrauchen'. Schön, nicht? Sehr nett von der Uschi, oder etwa nicht?"
"Ja klar ist das sehr nett von der Uschi...sie ist eben ein netter Mensch."
"Ja, das habe ich gemerkt, dass sie ein netter Mensch ist. Aber sag mal, mong, was ist das, eine Seele? Ich habe keine Ahnung, ich habe das Wort 'Seele' zum ersten Mal gehört."
"Oh je oh je, jetzt muss ich dir noch erklären, was eine Seele ist. Oh Himmel, das ist aber schwierig zu erklären. Also, ich versuche es mal: Eine Seele ist etwas, was in dir drin ist, sie lebt, die Seele, aber du siehst sie nicht und du riechst sie nicht und du schmeckst sie nicht und du kannst sie nicht anfassen, aber manchmal kannst du sie hören, deine Seele. Sie kann nämlich reden, zum Beispiel, wenn du ein schlechtes Gewissen hast, dann sagt sie dir: 'Owowow, mein schönes Blatt, jetzt hast du aber Mist gebaut. Mach es wieder gut!!' Ja...so ungefähr ist das mit der Seele. Alles klar, weisst du jetzt, was eine Seele ist? Oder muss ich weiter ausholen?"
"Ne, hol nicht noch weiter aus!!! Du hast weit genug ausgeholt. Ich habe schon genug mit dem, was du gesagt hast....Hm...hm...aber sag mal, mong...da habe ich aber ein kleines Problem mit dem anderen Wort, das du gesagt hast, und das ich nicht verstanden habe. Weisst du...äh...hm...wenn ich nur wüsste, was ein Gewissen ist...!!! Kannst du mir sagen, was das ist, ein Gewissen?"
"Oh je, du weisst nicht, was ein Gewissen ist? Also, wie kann ich dir das nur erklären. Oh Himmel, du stellst schwierige Fragen. Das Gewissen ist etwas, was in deiner Seele drin ist, und wenn es deiner Seele nicht gut geht, dann bekommt das Gewissen das zu spüren, und dann geht es ihm auch nicht gut, dem Gewissen, und dann hast du eben eine schlechtes Gewissen. Ja, und dann rupft es ein Hühnchen mit dir, weil du Mist gebaut hast und weil es ihm darum nicht gut geht. Und dann sagt es dir, dem schönen Blatt, du seiest schuld, dass es ihm, dem Gewissen, nicht gut geht. So ungefähr. Und ja, beide können reden, die Seele kann reden und auch das Gewissen. Alles klar?"
"Hm...weisst du was, mong, mir hat das Gewissen noch nie etwas gesagt, und von einer Seele habe ich noch nie etwas gespürt. Ich vermute, wir Blätter haben weder eine Seele noch haben wir ein Gewissen. So etwas Komisches brauchen wir gar nicht. Ne, sorry, mong -Seele...Gewissen...das sind unnütze Dinge, das ist Luxus, das ist etwas für euch Menschen. Wir Blätter brauchen das nicht, sorry."
"Tsss...du meinst also, ihr Blätter hättet weder eine Seele noch ein Gewissen. Ja dann sag mal, mein schönes Blatt, was habt ihr dann eigentlich? Habt ihr etwas Anderes, Besseres? Habt ihr überhaupt irgend etwas?"
"Wart mal, da muss ich zuerst nachdenken..!! Hm...schwierig, schwierig. Also...also...wenn ich es mir so recht überlege, dann glaube ich: Nö, wir haben nichts - das ist alles, was ich sagen kann, sorry."
"Aha, ihr habt also nichts. Ja gut, okay, aber sag mal, möchtest ihr denn nicht auch etwas haben, irgend etwas? Es muss ja nicht viel sein, vielleicht...äh...irgend eine klitzekleine Kleinigkeit?"
"Nö, sorry, vielleicht müsstest du noch andere Blätter fragen, aber mir selber kommt nichts in den Sinn, was ich haben möchte. Klar, es gibt viele viele schöne Dinge auf der Welt, aber die brauche ich alle nicht. Nö, ich glaube echt, ich brauche nichts."
"Seltsam, sehr seltsam ist das mit euch Blättern. Möchtest du zum Beispiel nicht dem Wind sagen können, wohin du geweht werden willst, oder dem Wasser im Fluss, wohin du geflossen werden möchtest, oder dem Strassenkehrer, in welchen Laubsack du gestopft werden möchtest, oder dem Hausabwart, in welchen Rasen von welchem Nachbarn du gewischt werden möchtest? Ist dir das alles egal?"
"Ja sicher, das ist mir egal. Ist mir alles schnuppe. Ob der Fluss mich in den See trägt oder ob der Wind mich in die Stadt weht oder in den nächsten Wald - für uns Blätter spielt das keine Rolle, weisst du. Aber frag mich nicht - ich weiss nämlich auch nicht, warum uns das egal ist. Für uns Blätter ist die Welt überall schön. Wir zeigen unsere Farben überall. Ob wir auf eine Wiese geweht werden oder auf ein Trottoir, ob in einen Hauseingang oder in das grosse, schöne, weite Meer - für uns ist das Leben überall schön. Alles ist überall - weisst du. Uns geht es überall gut. Und wenn wir verwelken, dann geht es uns am Besten, dann kehren wir nämlich langsam langsam wieder zurück in die Erde, woher wir gekommen sind. Oder wenn wir verbrennen - zum Beispiel bei einem Waldbrand - , dann fliegen wir zuerst sogar in die Luft und dann fallen wir als Asche wieder auf den Boden zurück. Das ist ein Abenteuer, kann ich dir sagen. Nein, ich sehe schon, mong, du machst ein langes Gesicht und ich merke, dass du das alles nicht verstehst. Vergiss es, mong, ihr Menschen werdet uns Blätter nie verstehen. Wir Blätter sind eine Bande und eine Welt für sich. Euer Verstand ist viel zu klein und zu kleinlich und zu kleinkariert, um uns zu kapieren. Oh je, mong, ihr mit eurer Seele und eurem Gewissen....!!! Haha...!!! Da können wir Blätter nur lachen. Brauchen wir alles nicht. Alle diese vielen vielen schönen Sachen, die es gibt auf der Welt - und wir Blätter brauchen sie alle nicht. Nichts, nada, zéro, niente, nothing...!!! Und wir sind auch ohne eure komische Seele und ohne euer überflüssiges Gewissen gut und schön genug. Ne, darauf können wir verzichten - und zwar ohne schlechtes Gewissen. Das gäbe nur Ärger, wenn wir diese seltsamen Dinge hätten...!!! Aber auch den Ärger brauchen wir nicht - den sowieso nicht. Tschüss mong, sag Uschi einen ganz lieben Gruss von mir. Ich freue mich wahnsinnig über das schöne Foto, das sie von mir gemacht hat. Heute abend schliesse ich sie in mein Abendgebet ein. Sag ihr das, gell, nicht vergessen. Ciao ciao, mach's gut...!!!"
Tssss...ja jaa, diese Blätter...!!!
Ciao Uschi
Gruss mong
Lieber Mong!
Was bist Du nur für ein großer Schriftsteller, Poet, Zenmeister, Psychologe, Philosoph... und noch vieles mehr....?!
Wunderbar Dein Kommentar. So reichhaltig, dass man ihn mindestens 10x lesen muss und immer wieder lesen sollte.
Hab ich nicht schon mal gesagt: die Welt hat Dich nur noch nicht entdeckt, was für ein Jammer! In 100 Jahren sind Deine Texte vielleicht endlich mal berühmt...
Vielen Dank für dieses Meisterwerk!
Ja und wenn ich`s mir recht überlege...vielleicht sollte ich ein Blatt sein! Das wär`s! Wenn so ein Blatt immer zufrieden ist und keine Ansprüche stellt, dann könnten wir uns alle ein Beispiel daran nehmen. Sind sie nie traurig, enttäuscht, haben keine Angst? Sind sie einfach nur zufrieden in ihrem gegenwärtigen Dasein? Das ist im Zen doch die Erleuchtung, das höchste Ziel jahrzehntelanger Meditation!
Und ...was ist die Seele eigentlich...nach der Lösung suchen manche Menschen ihr ganzes Leben lang.
Pass auf Dich auf, großer Lucky-Mong, wir brauchen Dich alleine schon als Vermittler und Übersetzer der vielen Blätter, die man gerade jetzt wieder so zahlreich und schön vorfindet.
Vielen Dank...!!! Puhhhh....(ausatmen)...was für ein grosses Kompliment...!!! Ich glaube, am Besten sage ich nicht viel dazu, sonst verhasple ich mich. Ich wiederhole lieber einen wunderbaren Satz, den mir tapio in einem Kommentar geschrieben hat, und den ich auswendig gelernt habe:
Dissi a fogghia: "La megghiu parola è chidda ca nun si dici" ...
Oh Lucky-Mong und Tapio...Ihr fordert mich wirklich! Jetzt muss ich auch noch sizilianisch lernen:-)!
La migliore parola è quella non detta (il valore del silenzio). Molto bella!
Viele Grüße zurück, großer, bisher unerkannter Schriftsteller!
Vielen Dank...!!! Noch ein weiteres grosses Lob...!!! ;-)
Aber eigentlich sind es ja die Blätter, nicht ich. Ohne diese seltsamen, geheimnisvollen Geschöpfe, die mich immer wieder heraus fordern und über die ich immer wieder staunen muss, wäre mir gar rein nichts in den Sinn gekommen.
Mong
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Kommentare (8)