Magyarbükkös (Ungarisch Bieling), das verschwundene Dorf


Publiziert von ABoehlen , 16. November 2011 um 19:56.

Region: Welt » Ungarn » Nyugat-Dunántúl (Westtransdanubien)
Tour Datum: 2 Oktober 2011
Wandern Schwierigkeit: T1 - Wandern
Wegpunkte:
Geo-Tags: H 
Zeitbedarf: 5:30
Aufstieg: 70 m
Abstieg: 70 m
Strecke:Csákánydoroszló - Nagy-erdő - Magyarbükkös - Kemestaródfa - Csákanydoroszló
Zufahrt zum Ausgangspunkt:Mit der GYSEV/Raaberbahn nach Csákánydoroszló
Unterkunftmöglichkeiten:Teke Panzió in Körmend
Kartennummer:Österreichische Karte 1:50'000, Blatt Krottendorf (Nr. 194 - wird nicht mehr hergestellt) oder Turistatérkép Őrség, Göcsej 1:60'000 von Cartographia Földgömb és Térképbolt, Budapest

Link zum vorherigen Tag

Am Rand der Gemeinde Csákánydoroszló, in einem riesigen Waldgebiet unmittelbar an der Staatsgrenze, dämmern seit über 60 Jahren die Überreste des einstigen Dorfes Ungarisch-Bieling vor sich hin. Diese Siedlung wäre wohl definitiv der Vergessenheit zum Opfer gefallen, hätte sich nicht der Hobby-Heimatkundler Karl Böö vor ein Jahren ans Aufarbeiten und Dokumentieren seiner Geschichte gemacht. Aus diesen Arbeiten resultierte die hochinteressante Webseite http://www.boeoe.com/ungarisch-bieling/index.htm (die leider – Stand Januar 2024 – nicht mehr online ist) und zahlreiche Informationstafeln vor Ort. Unser Aufenthalt in Körmend ermöglicht es uns, dort einen Augenschein zu nehmen.

Heute ist Sonntag, ein Tag der seinem Namen alle Ehre macht. Unser Zimmer zeigt nach Osten und so strahlt die Sonne schon um sieben Uhr zum Fenster herein. Wir haben gut geschlafen, die sehr einfach konstruierten Betten erwiesen sich als bequem und auf der Mátyás Király utca herrschte des Nachts kaum Verkehr, womit man die Lage der Teke Panzió als sehr ruhig bezeichnen kann.

Vorbei an der Kegelbahn und der Bar, begeben wir uns in den kleinen Speisesaal, wo uns zum Frühstück eine kalte Platte aufgetischt wird. Es gibt Brot mit Butter und Marmelade, dazu Fleisch und Peperoni, sowie eine grosse Kanne Kaffee. Auch in den folgenden Tagen wird also am Mittag ein Mini-Picknick genügen!

Etwas nach 9.00 Uhr machen wir uns auf den Weg zum nahe gelegenen Bahnhof, wo wir Retourbillette (oda-vissza) lösen und beim Kiosk neben dem Fahrkartenschalter sogar ein paar Ansichtskarten entdecken. Sicherheitshalber kaufen wir fast alle, denn wahrscheinlich werden wir sonst nirgends mehr welche finden.

Um halb Zehn fährt der aus exÖBB-Schlierenwagen gebildete Zug aus Sopron ein und 8 Minuten später sind wir bereits am Ziel in Csákánydoroszló angelangt. Aufmerksamen Kartenlesern und Gebietskennern wird vielleicht auffallen, dass es zu diesem Ort keinen deutschen Namen gibt, ganz im Gegensatz zu den meisten anderen Dörfern ringsum. Der Grund ist, dass diese Gemeinde erst 1939 durch eine Fusion zustande kam, als sich die Orte Nagycsákány (Großzackersdorf) und Rábadoroszló (Frauendorf) zusammenschlossen. Den Namen der neuen Gemeinde hat man dabei aus den bisherigen Ortsnamen «zusammengebastelt», ein Vorgehen, welches man auch aus anderen Ländern kennt.

Vom Bahnhof, der etwas nördlich des Ortes liegt, führt uns der Weg nun ein Stück der stark befahrenen «Raabtal-Rennbahn» entlang (erlaubte Höchstgeschwindigkeit abschnittweise 110 km/h). Zum Glück hat es neben der Fahrbahn einen breiten Grünstreifen, sodass man einen gewissen Sicherheitsabstand hat. Bald jedoch biegt ein Schottersträsschen rechts ab. Da die verwendete Karte keinen anderen Weg zeigt, nehmen wir an, dass es der richtige sei, und überqueren darauf die Bahnlinie. Bei dieser Karte handelt es sich um das mittlerweile nicht mehr produzierte Kartenblatt Krottendorf (eigentlich Kondorfa) mit der Nr. 194; ein Blatt das fast ausschliesslich ungarisches und slowenisches Territorium abbildet. Auf dem neuen Blattschnitt der Topographischen Karte Österreichs ÖK50 wird dieses Gebiet nicht mehr abgedeckt.

Hinter der Bahntrasse folgt die Ernüchterung: Das ganze Gelände ist eingezäunt und ein grosses Eisentor sperrt das Strässchen ab. Allerdings ist dieses Tor nicht verschlossen, das heisst, man könnte theoretisch weitergehen. Und schliesslich ist ja Sonntag, d.h. da arbeitet bestimmt keiner… Gedacht, getan! Auf dem Gelände stehen hölzerne Hochsitze herum, die wohl hier produziert werden; Bauholz liegt jedenfalls genügend herum. Nach einiger Zeit stossen wir auf ein weiteres Eisentor, welches den Zugang von der anderen Seite her absperrt. Auch dieses Tor lässt sich öffnen, und so gelangen wir wieder in die «Freiheit». Das Strässchen läuft nun allerdings «falsch», d.h. nicht so, wie es gemäss Kartenbild sollte. Den Grund lernen wir bald kennen: Wir sind zu früh abgebogen, der richtige Weg, der in Wirklichkeit ein schmales Asphaltsträsschen ist, erreichen wir erst jetzt! Kartenlesen ist eine Wissenschaft bei der man wohl nie ausgelernt hat…

Sanft ansteigend geht es jetzt in den Wald hinein, der treffend Nagy-erdő heisst, was «grosser Wald» bedeutet. Die Strecke ist mit weiss-rot-weissen Farbmarkierungen an den Bäumen gekennzeichnet und an einer Kreuzung entdecken wir sogar Wegweiser. Sie zeigen uns, dass wir hier auf den Mariazeller Pilgerweg (Mária út) gestossen sind, der von Mariazell quer durch Ungarn bis nach Csíksomlyó (rumänisch: Șumuleu Ciuc, deutsch: Schomlenberg) in Siebenbürgen (Rumänien) führt, was einer Strecke von 1400 km entspricht. Wer nicht zu Fuss dorthin pilgern möchte, kann auch den jedes Jahr für die Pilgerfahrt eingesetzten «Csíksomlyó Expressz» benutzen. Mit diesem Sonderzug gelangt GYSEV-Rollmaterial jeweils weit über das eigentliche Einsatzgebiet hinaus, was für Eisenbahnfreunde natürlich eine gute Gelegenheit ist, aussergewöhnliche Foto- und Video-Aufnahmen zu machen (siehe z.B. auf YouTube)

Nur wenige hundert Meter weiter taucht noch einmal ein Wegweiser auf, wo nun das erste Mal der Name «Magyarbüks» zu lesen ist, zu Deutsch «Ungarisch-Bieling». Weitere ungarische Namen des Ortes sind Magyarbükkös und Magyarbükköstelep.

Nach Norden hin fällt in dieser Zone das Gelände teilweise steil zur Niederung des Flüsschens Strem ab, welches die Grenze zu Österreich bildet. Nach einem kurzen Abstieg geht es am Fuss dieses Abhangs weiter, wobei die Qualität des Weges je länger je schlechter wird. Die Vegetation hier unten ist dicht wie ein Dschungel und von den Resten der verschwundenen Siedlung ist nichts zu erkennen. Den von Karl Böö erstellten Informationstafeln ist jedoch zu entnehmen, wo die einzelnen Häuser gelegen haben und Bilder zeigen, wie viel davon noch übrig ist. Zu ihnen vordringen kann man aber wohl nur im Winter oder Frühjahr, wenn die Vegetation noch nicht so hochgewachsen ist. Ohnehin ist ein Teil der ehemaligen Siedlung nicht zugänglich, da ein drei Meter hoher Wildzaun das Gelände absperrt. Dieser ist auch auf der Webseite erwähnt, mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass dessen Übersteigen verboten ist!

Schliesslich erreichen wir den ehemaligen Friedhof, wo im April 2011 die von der Raiffeisenbank Strem gespendete Sitzbank aufgestellt wurde. Für uns ist das eine ideale Gelegenheit, um unser kleines Picknick zu verzehren. Durch die Bäume schweift der Blick ins weite, offene Land im angrenzenden Österreich, wo sich Dörfer wie Hagensdorf, Luising, Deutsch-Bieling und Heiligenbrunn befinden (die früheren ungarischen Ortsnamen Karácsfa, Lovászad, Németbükkös und Szentkút sind heute nicht mehr üblich). Es ist ein entlegener Teil des Burgenlandes, der auf drei Seiten von Ungarn umschlossen wird. Insbesondere während der Zeit des Eisernen Vorhanges dürfte man sich hier wie am Ende der Welt gefühlt haben. Das war aber nicht immer so. Erst nach dem Zerfall der Donaumonarchie wurde diese Grenze gezogen. Dabei fielen die zuvor genannten Orte 1921 an Österreich (Luising erst 1923), während Ungarisch-Bieling zu Ungarn kam. Dem nachbarschaftlichen Kontakt tat dies vorerst noch keinen Abbruch. Nach dem 2. Weltkrieg bedeutete die Errichtung der Grenzsperranlagen im Jahre 1948 für das unmittelbar an der Grenze gelegene Ungarisch-Bieling jedoch das Ende, denn es kam genau in den Bereich des Minengürtels zu liegen, der sich dem Stacheldrahtzaun auf ungarischer Seite anschloss. Die meisten Bewohner waren jedoch bereits kurz nach Kriegsende gezwungen, den Ort zu verlassen, da sie zur Volksgruppe der Ungarndeutschen, bzw. Donauschwaben gehörten, die gemäss Potsdamer Abkommen umzusiedeln waren. Insgesamt mussten in der Folge etwa 250’000 – 400’000 Donauschwaben (verfügbare Zahlen variieren) das Land verlassen. Heute leben vor allem im Komitat Baranya (Branau) in einigen Ortschaften noch eine bedeutende Anzahl Ungarndeutscher. Ansonsten haben die Nachkommen der Vertriebenen vorwiegend in Deutschland und Österreich eine neue Heimat gefunden.

Nach dem Essen und dem Erkunden der Umgebung machen wir uns auf den Rückweg, wobei wir vorerst wieder denselben Weg benützen. An der Kreuzung im Nagy-erdő, folgen wir nun aber dem Pilgerweg Richtung Osten, der sich noch eine ganze Weile durch den grossen Wald zieht und schliesslich in weite, trockene Felder hinausführt. So gelangen wir nach Kemestaródfa, in einen Ort, der auch keinen alten deutschen Namen hat. Die Erklärung kennen wir jetzt und wie Csákánydoroszló entstand auch Kemestaródfa erst im Jahre 1939 durch die Fusion von Kemesmál (Gemeschmau) und Taródfa (Duroldsdorf oder Dudelsdorf).

Da wir keine Wegmarkierungen mehr entdecken können, folgen wir auf gut Glück dem «Csákány út», der bald in einen staubigen, erdigen Feldweg übergeht. Da es schon lange nicht mehr geregnet hat, kommen wir hier gut durch, bei Nässe wäre das wohl eine matschige Angelegenheit. Wieder an der Hauptstrasse angelangt, müssen wir dieser nun noch einmal einige hundert Meter folgen, ehe wir wieder das weitläufige Bahnhofareal erreichen. Es ist erst 15.00 Uhr, das heisst, es bleibt noch über eine Stunde Zeit bis zur Abfahrt des Zuges. Kein Problem, mit Ausruhen, ersten Notizen für diesen Bericht verfassen und Zügen fotografieren, vergeht diese Zeit im Nu. Unser Zug fährt dann wie immer pünktlich ein und 10 Minuten später sind wir bereits wieder in Körmend, wo in der Unterkunft eine erfrischende Dusche auf uns wartet.

Zum Nachtessen begeben wir uns in die Stadt ins gestern entdeckte Korona Étterem. Direkt ans Gebäude angebaut finden wir dort eine überdachte hölzerne Terrasse vor, die mit Kunststoffplanen gegen Zugluft abgeschirmt ist. Die Speisekarte ist vielseitig und der Hunger gross. Das Wiener Schnitzel, dass dann aufgetischt wird, ist allerdings so gewaltig, dass jeder noch so kolossale Hunger damit gestillt wird. Als Beilage gibt es Pommes und dazu ein Bier der Budapester Brauerei «Dreher». So endet ein wunderschöner, teils aber auch nachdenklicher Sonntag in einer einsamen und geschichtsträchtigen Gegend.

(überarbeitet 19.01.2024)

Weitere Informationen

Link zum nächsten Tag

Tourengänger: ABoehlen, Stini


Minimap
0Km
Klicke um zu zeichnen. Klicke auf den letzten Punkt um das Zeichnen zu beenden

Galerie


In einem neuen Fenster öffnen · Im gleichen Fenster öffnen

T1

Kommentar hinzufügen»