Trockenen Fusses mitten durch den Lago Bianco


Publiziert von rojosuiza , 6. Juli 2021 um 19:57.

Region: Welt » Terra Incognita
Tour Datum:28 Juni 2021
Wandern Schwierigkeit: T2 - Bergwandern
Wegpunkte:
Geo-Tags: CH-GR 


Lügt hier einer? – Ja und Nein. Denn alles fing damit an, dass der abenteuerlich eingestellte Bergheld aus dem fahrenden Bernina-Express die Stelle mit der Brücke sah… Er musste natürlich weiter, ganz und gar nach Tirano, um dort für 2,80 total im Café Novecento zwei tolle Cappuccini trinken zu können, und sich in der Altstadt umsehen…
 
Jetzt ist es der Folgetag, und rojosuiza streunt tief unten im Lago Bianco herum. Ja, man sieht es recht, im Lago Bianco. Durch geringe Schneeschmelze, durch wenig Niederschläge, wodurch auch immer, ist der Wasserstand tief, oh, so tief. Darum kann der Bergheld jetzt unter Wasser laufen, ohne nass zu werden. Weiter vorne weiss er den Übergang. Wenn er den bewältigen kann, gelingt es vielleicht wirklich, trockenen Fusses mitten durch den Lago Bianco zu gelangen. – Nach einigem Herumtanzen auf den Steinen des Seebettes bildet sich vor mir ein Kanal und weiter vorne ist aus dem Wasser emporgetaucht eine historische Schleuse, die seit -zig Jahren keiner mehr gesehen hat, da sie in jenen Jahren für immer im Wasser des aufgestauten Gletschersees verschwunden ist. Jetzt ist sie wieder da, und jemand hat fürsorglich eine Planke über die beiden Brückenköpfe gelegt. rojosuiza dankt schon einmal dem lieben Menschen. Wenn er die Brücke überquert – und warum sollte das nicht gelingen, mit der Planke am richtigen Ort? – und es auf der anderen Seite auch alles trocken geworden ist, dann kann der Meister sein Vornehmen gut und gern wahrmachen.
 
Plitsch! Platsch! – Es fallen herbe Tränen. Die Planke ist nicht. Tatsächlich ist hier eine alte Schleuse aufgetaucht aus den Tiefen des Sees. Tatsächlich liegt etwas über die beiden Köpfe der Schleuse. Aber taugt es dem Wanderer? Es ist reichlich angerostet, reichlich verbogen, es liegt reichlich unsicher auf den beiden Mauern, ja, und es ist reichlich, besser gesagt überreichlich schmal. Hier sich hinüberwagen? – Und sollte auf der anderen Seite doch nicht alles trocken sein, und doch ein Streifen Wasser kommen, hier sich wieder zurückwagen? – Wenn er da hineinfiele, ins giftig grüne eisige Wasser?
 
Der Meister schleicht sich davon, nachgegrinst vom Fahrer des Vierradantriebes, der gerade dem Ufer entlang kriecht, um seine Lebensmittel abzuholen im Hospiz.
 
Der zweite Akt kommt. rojosuiza will natürlich sowieso noch etwas anderes tun. Über den See laufen trockenen Fusses wie einstens der Herr im Alten Palästina, nein, das ist nicht genug der Freuden. Zum Lagh da Caralin soll es gehe. Vergnügt schreitet der arme Tropf vorwärts – armer Tropf, weil er noch nicht von dem Schild weiss, das unvermittelt auf seinem mild steigenden Weg steht: Wegen Steinschlag und Bergrutsch geschlossen. Es ist schon vorgekommen, das rojosuiza so etwas ignoriert hat. Nicht heute. Er ändert den Plan erneut. Gibt es nicht gleich hier oben ein erstklassiges Ersatzziel?
 
Es steigt ein wenig stärker, aber nach nicht allzu langer Zeit, kommt man oben an. Das Gebäude hat man sich etwas Klassischer vorgestellt, denn was man nun zu Gesicht bekommt, ist um einiges fabulöser. Doch gibt es keinen Zweifel, der Bergheld ist angekommen. Die fabulösen Märchengestalten am Anfang, es sind Crot, die alteingesessen Gefrierschränke der Leute an der Bernina. Dahinter ist das Gebäude von Sassal Mason genauso wie man es sich vorgestellt hat. Es gibt Bänke und Tischchen, es gibt Leute und Jubel und Trubel… rojosuiza verschlägt es die Sprache! Kein ‚trockenen Fusses durch den Lago Bianco!‘ Kein ‚romantisches Sich-Lagern am Lagh da Caralin.‘ Und jetzt die wunderschöne Gastlichkeit? - Keinerlei Gastlichkeit, zu! Die Wirtschaft ist zu. Einfach zu.  rojosuzia entsinnt sich des freundlichen Grusses des hiesigen Alphirten, der aussieht wie aus dem Märchenbuch. – Ist sein ‚bun di‘ etwa spöttisch gemeint gewesen, weil der ja schon weiss: da vorn ist alles zu. Mit mir brennen mehr und mehr Leute an. Das junge Pärchen, noch ganz verliebt. Die frischgebackenen Eltern mit den Zwergen im Tragrucksack. Die alten Damen, die sich so verausgabt haben, um das hohe Ziel zu erreichen.
 
rojosuiza schleppt immer sein Essen auf den Berg, dann schleppt er es wieder hinunter. Hier nun ist alles anders. Er setzt sich auf einen der Bänke, vor ihm ein feiner Steintisch. Wo es sonst gewiss heisst, picknicken verboten, tischt er auf. Brot und Alpkäse, dazu feines Leitungswasser aus der Feldflasche. Zum Abschluss einen köstlichen Apfel in vier vornehme Teile geteilt.
 
Was die anderen angebrannten Tolpatsche aber nicht wissen, das weiss rojosuiza. Dort unten ist der Bahnhof von Alp Grüm. Das ist nicht nur ein Bahnhof. Das ist auch ein Hotel, und im Bahnhofsgebäude gibt es sogar eine regelrechte Gastronomie. Sie ist offen, daran ist kein Zweifel. Und richtig. Wenig als eine halbe Stunde später sprudeln die Quellen, die den Latte Macchiato hervorbringen, sie sprudeln gut und laben des Wanderers Seele.

Das Nachspiel - eine Fahrt im offenen Wagen der Rhätischen Bahn - gibt dem Tag den abschliessenden Schmelz, den Zuckerguss sozusagen. 
 
So kann man lernen: Nichts geht, wie es hat gehen sollen. Aber zu Schluss geht einfach alles, wie es nun einmal geht, und es geht zum grossen Vergnügen des lustigen Wanderers gut,  sehr gut sogar!



Crot, siehe Schweizer Wanderwege | Kühle Kuppeln aus der Geschichte (schweizer-wanderwege.ch)

Tourengänger: rojosuiza


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Kommentare (2)


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fuemm63 hat gesagt: Danke für deinen launigen Bericht
Gesendet am 7. Juli 2021 um 08:27
... mit philosophischem Schluss (der Schaum auf dem Macchiatto).

PS: Ich bin durchaus schon trockenen Fusses über den Lago Bianco gekommen ;-)

rojosuiza hat gesagt: RE:Danke für deinen launigen Bericht
Gesendet am 7. Juli 2021 um 08:47
Ich hab's gesehen, fuemm63. Du hast es geschafft!


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