Bruneck 835m - Those were the days und andere Geschichten aus der Isolation


Publiziert von georgb , 30. März 2020 um 21:34.

Region: Welt » Italien » Trentino-Südtirol
Tour Datum:15 April 2020
Wandern Schwierigkeit: T1 - Wandern
Wegpunkte:
Geo-Tags: I 
Zeitbedarf: 12 Tage

4.April: Il borgo più felice

2015 wurde Bruneck noch zur glücklichsten Kleinstadt Italiens gekürt, doch davon sind wir sechs Jahre später weit entfernt! Die wenigen Menschen auf den Straßen beäugen sich misstrauisch, gehen sich aus dem Weg und schauen sich nicht mehr in die Augen vor lauter Angst und Unsicherheit, schlimm!
Was ist noch erlaubt, was nicht? Manche bleiben strikt in der Wohnung, haben sie seit Wochen nicht mehr verlassen und schimpfen über jeden, der sich noch auf die Straße traut!? Andere scheren sich einen Dreck, glauben, ihre Skispuren würden nicht gesehen und wissen nicht, dass sie damit in Italien eine Straftat begehen?
Von der glücklichsten Kleinstadt ist nicht mehr viel übrig, die schlechte Stimmung ist fast greifbar und scheint ansteckender zu sein als das Virus selbst!? Immerhin ist bei der Gemeindeverwaltung Vernunft und gesunder Menschenverstand eingekehrt, ein kleiner Spaziergang wird inzwischen geduldet, auch wenn es mal 205 Meter geworden sind!? So kann ich wenigstens frische Waldluft atmen und einen Hauch von Natur spüren.
Die glücklichste Kleinstadt Italiens ist Bruneck damit zwar noch nicht wieder geworden, aber mich macht es glücklich, dass ich wenigstens zu den Leberblümchen gehen darf, bevor sie verschwunden sind

7.April: Survival of the fittest oder Die Maske

Viel hat sich an der Situation nicht geändert, noch immer herrscht strenge Ausgangssperre und der Landeshauptmann hat dazu Mundschutzpflicht verordnet. Aus Angst vor den Oster"ausflüglern" werden die Kontrollen auch wieder verschärft, selbst Forstangestellte und Militär werden eingesetzt, um die Spaziergänger zu bremsen. Obwohl mit Gesichtsmaske und Abstand die Ansteckungsgefahr gegen Null geht!? Inzwischen schwärzen sich die Bewohner gegenseitig an und melden die "Verbrecher" der Polizei, wenn sie sich zu weit in die Wälder bewegen. Das tut mir persönlich am meisten weh und ich beschränke meine Ausflüge auf wenige Ausgänge "in der Nähe der Wohnung". So komme ich gerade an den Waldrand und finde wenigstens ein paar wildwachsende Blumen und Wildvögel zum Fotografieren.
Die Blumen im Garten habe ich schon aus allen Perspektiven abgelichtet und von den vielen Makroaufnahmen tun mir die Knie weh ;-) Die Vögel rund ums Haus kenne ich alle persönlich und die Hausmaus grüßt mich wie einen alten Bekannten!? Langsam kehrt wirklich Lagerkoller ein, ich höre von Leuten kurz vorm Nervenzusammenbruch oder dem Alkohol komplett verfallen, es ist wirklich eine Prüfung, survival of the fittest!?


11.April: Versteckspiele oder im Schutze der Nacht

Langsam habe ich meinen Coronarhythmus gefunden, ich bin meist zum Sonnenaufgang schon wach, werfe mich in Tarnkleidung und mache meine Runde "vicino a casa". Obwohl ich mich innerhalb der tolerierten Distanz bewege, will ich keinem Kontrolleur in die Arme laufen oder von einem neugierigen Nachbarn beobachtet werden!?
Deshalb lausche ich nicht nur den Stimmen und Geräuschen der Tiere, sondern habe immer ein waches Auge für menschliche Lebewesen. Wie man hört, sind die Ordnungswächter überall unterwegs, also bleibe ich in der Nähe von Deckung, um im Falle unbemerkt im Gebüsch zu verschwinden ;-) Inzwischen wird die Bevölkerung auch aus der Luft mit Hubschraubern beobachtet und meine Hysterie geht so weit, dass ich manchmal sogar in der Dämmerung herumlaufe, um nicht gesehen zu werden.
Durch diese Versteckspiele wird mein Auge und mein Instinkt geschult, keine Bewegung entgeht mir und ich sehe Dinge, die mir früher niemals aufgefallen wären ;-)

14.April: Those were the days oder Ich sing euch ein Lied

Irgendwie will mir dieses Lied heute nicht mehr aus dem Kopf! Es wird nie mehr so sein wie es war, nach diesem Jahresbeginn 2020, das ist gewiss! Relationen und Wertigkeiten verschieben sich. Was einst selbstverständlich war, wird jetzt zu einem Luxusgut und was einst unbedeutend war, fällt jetzt erst auf.
Der Tod rückt näher, in den Medien und im wirklichen Leben. Meine Mutter ist vor wenigen Monaten unerwartet verstorben. Ihr Sterben und ihr Tod trafen mich hart, dagegen ist die Coronakrise lächerlich. Was gäbe ich drum, sie noch einmal umarmen zu dürfen, mit ihr wandern zu gehen oder ihr herzhaftes Lachen durch den Raum schallen zu hören. Es tut richtig weh, Abschied von einem geliebten Menschen nehmen zu müssen und mit dem Verlust zu leben. Was sind da ein paar Monate ohne Bergtouren oder Wanderungen? Es ist beinahe lachhaft, sich darüber zu beschweren!
Trotzdem steigt mir gelegentlich auch eine Träne ins Auge, wenn ich auf die nahen Gipfel blicke, wie sie langsam ausapern und auf mich warten!? Doch der wahre Schmerz brennt anders, die Berge werde ich wiedersehen, die Verstorbene nicht! Ein Trost sind mir die vielen Vöglein, die ich bei meinen Spaziergängen beobachte. Ihr Gesang ist mir inzwischen vertraut, ich erkenne viele schon an ihren Liedern und ich singe manchmal mit:  "Those were the days my friend!"

15.April: Soweit die Füße tragen

Nur wenige Minuten, nachdem ich den Text vom Vortag eingefügt hatte, kam die Nachricht von einer Lockerung der Ausgangssperre in Südtirol. Es ist jetzt erlaubt, sich zu Fuß von der Wohnung weg zu bewegen, ohne Entfernungsbegrenzung. Schon spinnen in meinem Kopf die ersten Tourenziele herum, aber der Landeshauptmann hat an den gesunden Menschenverstand appelliert. So gehe ich mit gutem Beispiel voran, bremse meinen Elan und beschränke mich auf eine nur leicht erweiterte Runde. Schließlich müssen sich meine Füße erst wieder daran gewöhnen, mich weiter weg zu tragen ;-)

Tourengänger: georgb


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