Kurzbericht 

Rendezvous mit Joe Black


Publiziert von georgb , 2. Mai 2019 um 09:38.

Region: Welt » Italien » Trentino-Südtirol
Tour Datum: 1 Mai 2019
Wandern Schwierigkeit: T2 - Bergwandern

Ich habe ein Rendezvous mitten in der Nacht. Denn mein Kollege ist Frühaufsteher, tagsüber zieht er sich lieber zurück und wird nicht mehr anzutreffen sein. Also quäle ich mich kurz nach Mitternacht aus dem Bett und rolle mit den heimtorkelnden Partygängern durch Brunecks Straßen.
Im Schein der Stirnlampe zockel ich durch die unheimlichen Wälder und lausche auf die Geräusche der Nacht. Mitten im Urwald bleibe ich stehen, hierher hat mich mein anonymer Meetingpartner bestellt. Ich harre der Dinge und während meine Beine in der Kälte zu schlottern beginnen stelle ich mir die Sinnfrage.
Doch nach 20 Minuten, in denen ich es kaum zu atmen wage, tönen plötzlich magische Geräusche an mein Ohr, er beginnt zu "singen". Aus zwei Richtungen klingt das Gluckern und Knattern der Auerhähne durch die Bäume. Ich lausche dem sagenhaften Gesang, ein Schauer läuft mir über den Rücken. Die Morgendämmerung setzt langsam ein und um mich herum beginnt es zu flattern, mir wird plötzlich bewusst, dass ich mitten im Balzgebiet stehe. Doch ich wage keinen Schritt, jedes Ästchen würde die hellwachen Tiere sofort verscheuchen.
Und tatsächlich, 30 Meter vor mir stolziert er aus dem Gebüsch, mein Herz klopft. Die alte Mär, dass er während seines Balzgesangs blind und taub ist und man sich dann nähern kann, ist Theorie. Denn schon als ich vorsichtig die Kamera zücke, wird er misstrauisch und zieht sich zurück. Es gelingt mir gerade noch ein verschwommenes Foto und ich entschuldige mich innerlich für mein unprofessionelles und plumpes Vorgehen.
Es ist hell geworden und ich verabschiede mich. Meine heiklen Rendezvouspartner sind schmollend im Dickicht verschwunden, hoffentlich habe ich sie nicht zu sehr gestört. Ich verlasse den unscheinbaren Ort, bei Tageslicht wird man hier nicht mehr den Hauch eines Auerhahns vernehmen.
Ich habe viel Zeit, darüber nachzudenken, wie man eine Auerhahnbeobachtung intelligenter anstellt, bzw. besser fotografiert und ziehe noch ein Stück durch die Wälder. Der Schnee ist trittfest und ich komme gut voran. Der Herbststurm hat die Bäume umgerissen und die Panoramawege verdienen jetzt auch ihren Namen. Es öffnet sich der Blick auf Marmolada und Heiligkreuzkofel, sie sind weniger schüchtern und lassen sich geduldig ablichten.
Im Norden leuchten die Zillertaler Gletscher, die Sonne lacht aus blauem Himmel, was für ein herrlicher Tag. Ich zottel zurück in die Niederungen, langsam macht sich mein Schlafmangel bemerkbar. Die vorbeihuschenden Gämsen beachte ich kaum noch, das Rendezvous mit Joe Black hat mich beeindruckt und sich mir tief und unauslöschlich eingeprägt. Der Auerhahn gehört seit heute für mich zu den Königen der Alpen und vielleicht lässt er sich irgendwann noch einmal zu einem Rendezvous überreden.


Tourengänger: georgb


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