Bin im Wald


Publiziert von iuturna , 21. Februar 2017 um 12:30.

Region: Welt » Schweiz » Zürich
Tour Datum:19 Februar 2017
Wandern Schwierigkeit: T3 - anspruchsvolles Bergwandern
Wegpunkte:
Geo-Tags: CH-ZH 
Aufstieg: 250 m
Abstieg: 250 m
Strecke:ca. 3 km
Zufahrt zum Ausgangspunkt:Bushaltestelle Mittelleimbach, Bus Nr. 70
Zufahrt zum Ankunftspunkt:Bushaltestelle Mittelleimbach, Bus Nr. 70

Das ist mein Wald.
Er lässt mich durch, weil er sieht, dass ich harmlos bin.
Er sieht, dass nur ich das bin und sonst nichts.

So habe ich das immer empfunden. Dieser Wald war für mich Spielplatz und Zufluchtsort zugleich (obwohl es nichts gab, wovor ich hätte flüchten müssen, man sagt das nur so). Das ist schon über 30 Jahre her.

Warum komme ich hierher zurück? Meine Streifzüge durch diesen Wald laufen bei mir wie ein Film im Hintergrund ab, immer, wenn ich meine, dass ich an nichts denke. Manchmal auch, wenn ich eine Situation als mühsam empfinde. Es lenkt mich nicht wirklich ab, aber es relativiert vieles, wenn ich z.B. hinter eine Person, die ich gerade mühsam finde, im Geiste diesen Wald-Film projeziere.
Wenn ich durch diesen Wald streife, dann weiss ich, dass ich das bin und sonst nichts.

Zwischen den beiden Rippen Rellsten-Sporn, der damals noch keinen Namen hatte, und der Rippe mit dem Wanderweg zur Felsenegg liegt die Wiese "Rossweid".

Auf dieser Wiese herrschen im Februar zwei Jahreszeiten.
Es ist bereits Frühling, wo die Sonne hinscheint. Dort ist der Boden schon ganz warm. Der Waldboden auf der sonnigen Seite ist zu dieser Zeit besonders warm, denn die Buchen haben noch kein Laub und lassen die Sonnenstrahlen ungehindert durch.
Es ist noch Winter, wo die Sonnenstrahlen nicht hinreichen. Oben, im Quellgebiet, liegt noch Schnee und der Boden ist gefroren. Aber auch hier rumort unter der Erde der Frühling.
Es ist der Vorfrühling, die Vorfreude. Würde ich den Winter nicht kennen, woher wüsste ich, was der Frühling ist?
Es ist meine liebste Jahreszeit. Und darum habe ich auch bald Geburtstag.

Dieser Berg besteht aus Lehm. Erinnerungen an Lehm ziehen sich durch meine Kindheit wie eine gelbe Spur. Lehm ist eine schwerfällige Erde. Ich habe mir immer überlegt, ob man ein anderer Mensch wird, je nach dem, auf welcher Art von Boden man aufwächst. Sand fand ich immer eine sehr elegante Erde und ich beneidete Menschen, die auf Sand lebten.
Sand ist locker, er rieselt und gelangt überall hin.
Lehm gelangt auch überall hin. Wenn man auf Lehm aufwächst, wird man erdverbunden, ob man will oder nicht, denn er ist sehr anhänglich.
Lehm gelangt in die Fasern der Kleidung, in die Rillen der Haut, ins Haus, in die Wohnung. Er gelangte sogar auf unseren Weihnachtsbaum in Form von selbstgebastelten Christbaumanhängern.
Lehm fliesst, langsam aber unaufhaltsam. Der ganze Üetliberg besteht aus Lehm und er fliesst tatsächlich. Wenn man hier wohnt, bemerkt man, dass der Abstand zwischen dem Haus und dem Berg mit der Zeit geringer wird. Das fand ich immer etwas unheimlich. Ich überlegte mir, ob der Berg um das Haus herumfliessen oder ob das Haus mit dem Berg mitfliessen würde oder beides gleichzeitig. Ich malte mir eine Zukunft aus, in der man die Abendsonne geniessen könnte, nachdem der ganze Berg zerflossen wäre, denn die Sonne geht hier früh unter.

In diesem Wald gibt es unzählige Wege auf den verzweigten Rippen und durch die Bergflanken. Viele davon sind wahrscheinlich Wildwechsel. Auch diesmal habe ich wieder neue gefunden.
In diesem Wald gab es Fixpunkte, die wir als Kinder jedes Mal aufsuchten, wenn wir hier her kamen. Der wichtigste Ort auf diesem ganzen grandiosen Spielplatz war für uns der Hof namens Obstgarten, der am unteren Ende der Rossweid liegt.

Dieser Hof verfällt seit Jahrzehnten, doch das Verfallsstadium hat sich in den letzten 30 Jahren kaum verändert. Es herrscht Stagnation und mir kommt der Verdacht, dass der Hof schon in diesem Zustand erbaut worden ist oder dass er hier zwischen Wiese, Wald und Bach aus dem sumpfigen Boden heraus gewachsen ist, so wie die Bäume oder die Felsen.
Auf diesem Hof verbrachten wir viel Zeit. Es lebten hier fünf Kühe, 30 Hühner und etwa ebenso viele streunende, scheue Katzen. Mit den Hühnern und den Kühen versuchten wir zu spielen, soweit sie es sich gefallen liessen. Den Bauern von damals nahmen wir als ein Lebewesen unter vielen wahr. Er duldete uns, so wie er die streunenden Katzen duldete. Wir konnten tun und lassen, was wir wollten. Manchmal halfen wir auch mit Begeisterung bei der Arbeit.
Dieser Hof liegt meist im Schatten. Es war ein düsterer Ort, der uns magisch anzog.
Dieser Hof war ein spannender Ort. Wir kletterten überall herum und auf den Dachböden fanden wir Gegenstände, die seit Jahrzehnten dort gelegen hatten. Wir zogen sie ans Tageslicht und verliehen ihnen neuen Sinn. Abends liessen wir alles so liegen, wie es uns gerade aus den Händen fiel und gingen nach Hause. Wir konnten sicher sein, dass die Sachen das nächste Mal noch da waren.

Dieser Wald verändert sich. Der Wanderweg hat ein neues, solides Geländer und wurde breiter und ebener ausgebaut. Eine ehemals kleine Clubhütte am Waldrand hat jetzt eine asphaltierte Zufahrt und tatsächlich einen Garten mit Gartentor und Hecke. Seit dem Sturm Lothar, der hier an Weihnachten 1999 viele Bäume entwurzelt oder geknickt hat, gibt es Lichtungen und Aufforstungen. https://de.wikipedia.org/wiki/Orkan_Lothar Der Wald ist dadurch luftiger und lichtdurchlässiger geworden. Ich habe ihn viel düsterer und bedrohlicher in Erinnerung. Auch habe ich überall weisse Markierungen an Bäumen gefunden. Soviel ich aus dem Internet erfahren konnte, handelt es sich um Forstmarken.
Dieser Wald wächst. Im oberen Teil der "Rossweid" hat er an Fläche zugenommen. Baumgruppen, die früher isoliert auf der Wiese standen, sind nun mit dem Wald zusammengewachsen. Den grössten Baum, eine imposante Wettertanne, habe ich nicht mehr gefunden. Vermutlich wurde auch sie bei einem Sturm entwurzelt.

Dieser Wald ist kein Freilichtmuseum. Er verändert sich mit der Geschichte der Menschen und den klimatischen Bedingungen. Ein Blick auf die historischen Karten zeigt, dass um 1880 nur ein kleiner Teil der heutigen Fläche bewaldet war. Der ganze Hang war bis oben an den Grat gerodet. Auf der Karte von 1930 sind zwei Gebäude nördlich vom Obstgarten zu sehen, die nicht mehr existieren und deren Grundmauern wir damals beim Herumstöbern entdeckten. Die Bedeutung der Land- und Forstwirtschaft ist in den vergangenen Jahrzehnten zurückgegangen, die Bedeutung von Freizeit, Erholung und Naturpädagogik hat stark zugenommen.
Dieser Wald erlebte nie ein goldenes Zeitalter und ist in ständigem Wandel, so, wie die ganze Welt. Die einen bauen sich am Waldrand eine halbe Festung mit Zufahrt und einem Garten mit Hecke, die anderen suchen die unberührte Natur. Ich gehöre zur zweiten Sorte, doch sobald ich die Natur betrete, ist sie nicht mehr unberührt.

Ich komme unvorbereitet in meinen Wald. Er sieht, dass ich harmlos bin, nur ich, sonst nichts. Was sagt er zu den Bauwerken, Aufforstungen und Markierungen der Menschen? Offenbar lässt er sie gewähren, das hätte ich früher nie gedacht. Ich hätte Angst gehabt, er würde sich irgendwie rächen. Vielleicht findet der Wald mich gar nicht harmlos und ich möchte nur, dass es so ist. Aber vielleicht weiss er bereits aus Erfahrung, dass alles nicht von Dauer ist, nur Menschengekrabbel.

Tourengänger: iuturna
Communities: Bergphilosoph(i)en


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Kommentare (9)


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Vielhygler hat gesagt:
Gesendet am 21. Februar 2017 um 22:01
Schöner Bericht! Danke...

VG Andreas

iuturna hat gesagt: RE:
Gesendet am 22. Februar 2017 um 00:00
Danke dir sehr fürs Kompliment! Es freut mich, wenn er dir gefällt!

mong hat gesagt:
Gesendet am 21. Februar 2017 um 23:58
Für mich ein Highlight, dieser Bericht und die Fotos. Danke.

iuturna hat gesagt: RE:
Gesendet am 22. Februar 2017 um 00:02
Das freut mich sehr! Vielen Dank!
;-))

DiAmanditi hat gesagt:
Gesendet am 27. Februar 2017 um 08:31
Toller Bericht! Hat Spaß gemacht ihn zu lesen und die Fotos haben auch sehr schöne Eindrücke vermittelt.

iuturna hat gesagt: RE:
Gesendet am 1. März 2017 um 18:34
Danke dir, es freut mich, wenn's gefällt!

rojosuiza hat gesagt:
Gesendet am 6. März 2017 um 10:24
ich hab auch so einen Wald gehabt; nur der verwunschene Bauernhof hat gefehlt..

http://www.hikr.org/tour/post63764.html

iuturna hat gesagt: RE:
Gesendet am 8. März 2017 um 22:52
Toll, dein Bericht, hab ihn grad gelesen. Du hattest zwar keinen Bauernhof, dafür eine Müllhalde! Das macht doch genauso Spass :-))

rojosuiza hat gesagt: RE:
Gesendet am 8. März 2017 um 22:55
Ich hatte sogar 2 Müllhalden; das Nachbardorf Schönenberg hatte auch eine.

Früher war das Leben toll!


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