Adrenalinrausch in Engelberg (Klettersteig Fürenwand)


Publiziert von Fico , 2. August 2015 um 23:07.

Region: Welt » Schweiz » Obwalden
Tour Datum:31 Juli 2015
Wandern Schwierigkeit: T2 - Bergwandern
Klettersteig Schwierigkeit: K3+ (ZS+)
Wegpunkte:
Geo-Tags: CH-UR   CH-OW 
Zeitbedarf: 8:00
Aufstieg: 900 m
Abstieg: 900 m
Strecke:Engelberg - Vordrist Eien - Schlänggenbrücke - Klettersteig Fürenwand - Fürenalp - Hobiel - Stäuber - Alp Stäfeli - Schlänggenbrücke - Vordrist Eien - Engelberg (ca. 25 km)
Zufahrt zum Ausgangspunkt:cff logo Engelberg
Zufahrt zum Ankunftspunkt:cff logo Engelberg
Kartennummer:1191 (Engelberg)

Als „echte Herausforderung, vor allem für die Psyche“, wird der Klettersteig Fürenwand im Buch „Die Klettersteige der Schweiz“ von Hüsler/Anker (AT Verlag, 2. Auflage 2012) charakterisiert. Hier werde „Tiefe total“ geboten und obwohl die soliden Eisentritte Sicherheit gewährleisten, werde „der halbe Kilometer Luft unter den Schuhsohlen dadurch um keinen Meter weniger“.

Es war ein spontaner Einfall, am Nachmittag vor der Tour. Zufällig kam mir ein alter SALEWA-Prospekt in die Hände, mit einer Kurzbeschreibung des Klettersteigs durch die Fürenwand. Am Abend vor dem Schlafengehen warf ich noch einen Blick in das erwähnte Buch und legte das Material für den folgenden Tag bereit. Kurzum, gross Gedanken, auf was für ein Abenteuer ich mich einlassen würde, machte ich mir nicht.
 
Am Bahnhof in Engelberg laufe ich gleich los. Dass es bis zur Talstation der Seilbahn Fürenalp auch einen Bus gibt, erfahre ich erst später. Besser so. Sonst hätte ich den schönen Wanderweg entlang der Engelberger Aa vermutlich nie entdeckt. Der Gross Spannort glitzert in der Morgensonne. Auf der andern Bachseite liegt ein Campingplatz. Bald darauf kommt man an einem Golfplatz vorbei. Ein paar hundert Meter vor der Schlänggenbrücke, wo der Weg in die Strasse mündet, hat es eine Kletterwand. Die Routen sind nicht für Anfänger. Auf den Fels gepinselt steht: Schlänggentanz 6a+, Eros 6c. Am Abend, als ich auf dem Heimweg bin, sind dort ein paar Jugendliche am Üben.
 
An der Stelle, wo ich die Abzweigung zum Klettersteig vermute, verlasse ich die talaufwärts führende Alpstrasse. Einen Wegweiser sehe ich keinen, dafür ein Stück weiter oben, auf einem bemoosten Stein, eine leicht verblichene weiss-blau-weisse Markierung. Zuversichtlich folge ich dem schmalen Pfad. Beim Einstieg sind schon mehrere Personen und machen sich bereit. An der Felswand hängt die übliche, mehrsprachige Hinweistafel. Und die Eisenleiter zeigt, in welche Richtung es nun weitergeht: senkrecht nach oben.
 
Bevor ich meine Rast beendet habe und fertig ausgerüstet bin, treffen weitere Kletterer ein. Wenn ich jetzt gleich loslege, hat es vor und hinter mir genügend Abstand, denke ich mir und steige unverzüglich die Leiter hoch. Es dauert jedoch nicht lange, bis mir einer auf den Fersen ist. Inzwischen bin ich in einem senkrechten Wandstück, das volle Aufmerksamkeit erfordert. Als er immer näher kommt, rufe ich ihm zu: „Du hast grosses Vertrauen zu mir. Falls ich stürze, bist nämlich Du meine Bremse.“ Leicht erschrocken antwortet er: „Ja, pass bloss gut auf!“ Bei der erstbesten Gelegenheit weiche ich aus und lasse ihn überholen. Nun habe ich wieder meine Ruhe, ohne dass jemand von hinten drängelt.
 
Jedes Mal wenn ich am Ende eines Abschnitts die beiden Karabiner umhänge, habe ich ein mulmiges Gefühl. „Wenn du auf einem Klettersteig stürzest, brauchst du den Heli“, sagte Matthias einmal zu mir, wie es seine Art ist, lächelnd und ohne mit der Wimper zu zucken. Er muss es wissen. Er ist nicht nur Bergführer, er ist auch Rettungssanitäter bei der REGA. Seine Worte kommen mir immer wieder in den Sinn, wenn ich sehe, wie weit unten sich der letzte Fixpunkt befindet.
 
Oft ist die Wand nahezu senkrecht und so glatt, dass es ohne Eisenstifte und Stahlbügel nicht ginge. Und wo der Fels etwas gestufter ist, sind die besten Tritte und Griffe meistens nass, so dass ich mich lieber am Stahlseil und an den Eisen festhalte. Eine besondere Herausforderung sind die luftigen Querungen, vor allem wenn das Seil leicht durchhängt und obendrein Wasser auf den Felsen herunterrinnt. Das sind die Momente, in denen der Adrenalinspiegel in Blut sprunghaft ansteigt. Bevor ich die Stelle angehe, atme ich jeweils tief durch und erleichtert auf, wenn ich sie hinter mir habe.
 
Hinter mir klettert einer in einem beachtlichen Tempo. Als er mich fast eingeholt hat, weiche ich an einem Ort, wo es günstig ist, zur Seite und warte. Er bedankt sich. „Ganz schön fordernd die Querung vorhin auf den nassen Felsen!“, füge ich noch hinzu. „Es soll auch nicht allzu leicht sein!“, antwortet er barsch, geht stramm weiter und schliesst dicht auf die „Zweierseilschaft“ vor mir auf: ein Mann und eine Frau, die ihn bald einmal vorbei lassen.
 
Eine Weile schon habe ich die beiden vor mir, sie kommen nur langsam voran. Der Mann steigt vor und hält die Frau am verkürzten Seil. Ein Bergführer ist er wohl nicht. Bei den Querungen hängt das Seil manchmal meterlang schlapp durch. Eine Seilsicherung mit Karabiner und Halbmastwurf sieht anders aus. Wenn er nur mit seinem Klettersteigset gesichert und womöglich sogar gleichzeitig am Klettern ist, dann haben die beiden mit dem Seil lediglich ihr Schicksal aneinander geknüpft. Sollte sie stürzen, reisst sie ihn unweigerlich bis zur nächsten Verankerung mit. Solange alles gut geht, hat das Seil immerhin eine psychologische Wirkung. Und diese kann die Frau gut gebrauchen. „Jetzt hänge ich hier auch noch fest!“, schimpft sie laut und reisst entnervt an den beiden Strängen ihres Klettersteigsets. Bei der Verankerung geht das Stahlseil meistens in einem Bogen nach oben und dort haben sich ihre Karabiner verklemmt. Das passiert mir auch immer wieder, wenn ich sie nicht mit der Hand mitführe. 
 
Dass der Klettersteig durch die Fürenwand allzu kurz sei, kann niemand behaupten. Nach jeder luftigen Querung geht es wieder in die Vertikale, dann folgt die nächste Querung. Stundenlang. Einfachere Passagen sind meistens Gehgelände als Verbindung zwischen den Felswänden. Der „ultimative Kick“ ist eine eiserne „Strickleiter“ von gegen zwanzig Metern Länge, fast am Schluss der Route. Mehr als zwei Personen gleichzeitig dürfen sich nicht auf der Leiter aufhalten. So steht es auf einer Hinweistafel. Lieber warte ich geduldig, bis die Frau vor mir ganz am oberen Ende angekommen ist, und nütze die Zeit zum Fotografieren. Es wäre schade, die Aussicht in luftiger Höhe nicht zu geniessen. Gut gesichert wohlverstanden, nach dem Umhängen am Ende eines Abschnitts.
 
Die „Strickleiter“ überwindet eine überhängende Felspassage. Bei jeder Bewegung wippt sie leicht mit und verstärkt so das schwebende Gefühl. Irgendwie kommt es mir vor, als hätte ich sowas schon einmal erlebt… Im Zirkus war es, wenn die Artisten auf einer hängenden Leiter hinaufstiegen, bevor sie über das gespannte Seil tänzelten. Bloss bin ich diesmal nicht Zuschauer, wohl oder übel bin ich selbst zum Akrobaten geworden. Das Himmelsgewölbe ist mein Zirkuszelt.
 
Als ich oben ankomme und am Ende des letzten Abschnitts die Karabiner aushänge, verspüre ich eine gewisse Erleichterung und ein überwältigendes Glücksgefühl. Es ist geschafft! Auch das Paar, das die ganze Zeit vor mir war, ist dort. Der Mann nimmt das Seil auf. Ich gratuliere den beiden. Vor allem die Frau darf stolz sein. Für sie war es alles andere als eine Kleinigkeit. „Wenn ich noch jünger wäre, würde mir das auch leichter fallen“, findet sie sie und schaut zu den zwei jungen Frauen, die soeben den Ausstieg erreicht haben. „Es ist schwierig, auch wenn man jung ist“, seufzt eine der beiden im Vorbeigehen.
 
Mein Tagesziel habe ich erreicht. Ich gönne mir eine erholsame Mittagsrast. Fast eine Stunde, länger als üblich. Dazu ziehe ich Schuhe und Socken aus und strecke die Füsse ins weiche Gras. Während ich die zahlreichen Berggipfel ringsum bestaune, überlege ich mir, wann ich zum letzten Mal in Engelberg war. Wahrscheinlich als Kind. Mit den Eltern war ich einmal auf dem Titlis. Mit der Seilbahn, versteht sich. Vom Bahnhof direkt zur Seilbahnstation und dann hinauf auf den Gipfel, in den Nebel. Zum ersten Mal stand ich auf einem Gletscher, auf einer kleinen Fläche, die extra für die Touristen eingezäunt worden war. Als wir die Hoffnung aufgegeben hatten, dass sich die Sonne noch zeigen würde, fuhren wir hinab zur Zwischenstation. Dort war es zwar wärmer und die Aussicht besser. Doch mehr als ein paar Schritte zu tun, war nicht möglich. Allzu gerne wäre ich zu Fuss weiter oder irgendwo herumgekraxelt. Als sich mit der Zeit die Wolken auf dem Gipfel verzogen hatten, fuhren wir nochmals hinauf. In der bald einmal untergehenden Sonne genoss ich ein Bergpanorama, wie ich es nie zuvor gesehen hatte. Es waren solche Erlebnisse, die in mir eine tiefe Sehnsucht weckten, die jahrzehntelang ungestillt blieb.
 
Nach der Mittagspause stellt sich die Frage nach dem Abstieg. Mit der Luftseilbahn und mit dem Bus wäre ich schnell und bequem wieder in Engelberg. Doch dafür ist der Tag viel zu schön. Der Grosse Spannort mit seinen schroffen Felszacken zieht mich wie magisch an. Statt zurück nach Engelberg wandere ich weiter Richtung Surenenpass. Wüsste ich nicht, dass es am nächsten Tag regnet, würde ich es bereuen, bereits das Retourbillet gelöst zu haben. Vor allem als ich die Alp Hobiel entdecke. Über Nacht hierbleiben kann ich diesmal nicht, aber kurz verweilen und bei einem Urner Meringue mit Alprahm und einem Glas frischer Milch die Aussicht geniessen, bevor ich mich auf den Heimweg mache.
 
Bei der Verzweigung Stäuber, wo das Wasser, das vom Surenenpass herkommt, über die Felsen stiebt, zeigt der Wegweiser, dass ich fast drei Stunden brauchen werde, bis ich wieder in Engelberg bin. Eile habe ich keine. Es ist noch lange hell und die Züge fahren regelmässig bis am späten Abend. Zweihundert Höhenmeter weiter unten führt der Weg dem Bach entlang, der hier auf Urner Gebiet bezeichnenderweise Stierenbach heisst, bevor er nach der Kantonsgrenze zur Engelberger Aa wird. Ganz sanft geht es hinab, im Gras zirpen unzählige Grillen, als wollten sie mit dem tosenden Wasser wetteifern, das auf der andern Talseite von den Felswänden stürzt. Auf dem Weg vor mir flattern Schmetterlinge. Nebelschwaden ziehen zum Grossen Spannort hinauf und verleihen ihm ein mystisches Aussehen. Schleierwolken haben inzwischen die Sonne verdeckt, die sich nur ab und zu wieder zeigt. Es ist angenehm mild. Ein solcher Abstieg, auch wenn er stundenlang dauert, macht Freude und ist der reinste Genuss.
 
Als ich in Engelberg ankomme, ist es fast 19 Uhr. Obwohl ich seit zehn Stunden unterwegs bin, verspüre ich kaum Müdigkeit. Offenbar ist der Adrenalinrausch noch nicht ganz verraucht. Wieviel Adrenalin im Blut wird eigentlich pro Stunde abgebaut? Raschen Schrittes marschiere ich durch die Strassen des abendlichen Touristenortes, vorbei an grossen Hotels und fahrenden Autos, die mir so fremd vorkommen, als wäre ich mehrere Tage weg von der Zivilisation gewesen. Dann verschluckt mich der Bahnhof. Fünf Minuten später fährt der Zug. Im Tunnel schliesse ich die Augen und lasse die Erlebnisse nochmals an mir vorbeiziehen. Was für ein Tag! Was für eine Tour! Darin eingebettet der Klettersteig durch die sagenhafte, über 500 Meter hohe Felswand.

Tourengänger: Fico


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Kommentare (2)


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danueggel hat gesagt: Mitten drin
Gesendet am 3. August 2015 um 09:25
Habe den Bericht mit Freude gelesen, man fühlt sich mitten drin im alltäglichen "Wahnsinn" am Klettersteig, sehr anschaulich beschrieben :)

Felix hat gesagt:
Gesendet am 9. August 2015 um 22:09
wieder (!) eindrücklich beschrieben!


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