Mittlere Fanesspitze 2989m - Wild und ungebändigt

Während sich die Südliche Fanesspitze großer Beliebtheit erfreut, werden ihre beiden Schwestern ignoriert. Genauer gesagt ist es nicht die Südliche Fanesspitze, die das Interesse an sich zieht, sondern der Tomaselliklettersteig. Er gilt als einer der anspruchsvollsten in den Dolomiten, gut geeignet, Bizeps und Nervenstärke zu testen ("eine Reifeprüfung für Klettersteiggeher"). Mancher der Ferratisti weiß wahrscheinlich gar nicht, auf welchem Gipfel er am Ende steht, außer Eisen berührt man nicht viel von dem Berg.
Ganz im Gegensatz dazu die Nördliche und die Mittlere Fanesspitze, hier bewegt man sich in Urgestein, von der Natur geformt, ohne jegliche Versicherung. Sogar der alte Steig ist inzwischen verfallen, mit Mühe erkennt man verblasste Markierungen und Trittspuren.
Von der Capanna Alpina steigen wir hinauf ins grandiose Hochtal il gran plan. Hier zweigt der Dolomitenhöhenweg 1 zur forcella dl lech ab. Noch wandern mit uns Heerscharen aus aller Welt, sogar Australier haben wir getroffen. An der Scharte verlassen wir die Wanderer und folgen einer deutlichen Spur nach links ins Reich der unbekannten Fanesspitzen. Je höher wir kommen umso vager wird sie und der Schotter steilt sich unangenehm auf. Äußerst mühsam erreichen wir eine Scharte vor dem Gipfelaufbau. Jetzt verliert sich die Spur und wir sind auf uns allein gestellt. Unter den Felsen queren wir ein Stück nach Westen und treten bei jedem Schritt Steine ins Tal. Links sichten wir eine felsige Rinne und versuchen unser Glück. Ein Stück steigen wir an, überwinden einen schwierigen Aufschwung im oberen 2. Grad und resignieren bald. Schnell zurück, das kann nicht der Normalweg sein. So folgen wir widerwillig dem Schotterband und tatsächlich von Westen führt ein mäßig schwieriger Hang zum Gipfel. Alles in allem bewegen wir uns maximal im unteren 2. Grad, aber es rutscht und bröckelt haarsträubend unter den Füßen und Händen, Gelände nur für Liebhaber ;-)
Die Ausblicke sind dafür heute gigantisch, bei klarer Sicht und mit wunderschönen Wolkenformationen. Lange sitzen wir am Gipfel und lassen das wilde, verlassene Dolomitenambiente auf uns wirken. 11 Meter mehr und auch unserer Gipfel würde mehr beachtet, das ist eben das Schicksal der zu klein geratenen.
Wir freuen uns an der Einsamkeit und steigen vorsichtig durch das Geröll zurück. Das Gelände ist schwierig, felsdurchsetzt und bröselig, nicht mal lässig abfahren will uns heute gelingen. Doch es wird noch richtig genussvoll später auf dem Weg zum lech de lagacio, einer Perle über der Scotonihütte. Von der forcella dl lech führt ein vorbildlich angelegter Steig hinunter zum See und weiter zum Rifugio.
Natürlich kehren wir ein und kosten den Kaiserschmarrn zum Abschluss eines traumhaften Sommertags im Weltnaturerbe.