Klettern im Alpstein: III. Kreuzberg (Schmales Südrippli), Widderalpstöck (Hurlibutz, Fähnligipfel)


Publiziert von Fico , 11. Juni 2015 um 12:37.

Region: Welt » Schweiz » Appenzell
Tour Datum: 6 Juni 2015
Wandern Schwierigkeit: T5 - anspruchsvolles Alpinwandern
Klettern Schwierigkeit: 4+ (Französische Skala)
Wegpunkte:
Geo-Tags: CH-SG   Alpstein   CH-AI 
Zeitbedarf: 4 Tage
Zufahrt zum Ausgangspunkt: cff logo Brülisau Kastenbahn
Zufahrt zum Ankunftspunkt: cff logo Brülisau Kastenbahn
Unterkunftmöglichkeiten:Berggasthaus Bollenwees (www.bollenwees.ch) Roslenalphütte (www.vs-wallis.ch/stgallen/huetverz/roslenalp.html)
Kartennummer:1115 (Säntis)

Angemeldet für den viertägigen Kurs „Senkrechtes Vergnügen in der Wand“ von ‚bergpunkt‘ hatte ich mich bereits, als mir ein Faltprospekt zugeschickt wurde: „Wir bringen Sie an den Fels“, steht auf dem grossformatigen Bild des Werbeprospekts mit grandioser Felskulisse. Mitten drin ein kleiner Mensch, der in schwindelerregender Höhe am Fels klebt. Ein ähnlich spektakuläres Bild, das mich sogleich faszinierte, hatte ich schon einmal im ‚plaisir‘-Führer von Filidor gesehen: vom „Schmalen Südrippli“ am III. Kreuzberg. Tatsächlich sind beide Fotos vom selben Grat, einfach aus unterschiedlicher Perspektive aufgenommen. Dass ich irgendwann dort hinauf käme, hatte ich seit einem Jahr insgeheim gehofft. Gross war daher meine Freude, als im Laufe der vier Tage im Alpstein die Hoffnung zur Gewissheit wurde.

Der Fussmarsch von Brülisau zur Bollenwees ist schweisstreibend. An diesem wunderschönen Donnerstag herrschen bereits vormittags sommerliche Temperaturen. Mein Gepäck habe ich auf zwei Rucksäcke verteilt: vorne die Ersatzkleider, hinten die Kletterausrüstung und alles andere. Das ungute Gefühl ist diesmal nicht, etwas vergessen zu haben, sondern dass ich zu viel eingepackt habe, vor allem Kleider und so viel Proviant, als müsste ich mich mindestens eine Woche lang ausschliesslich aus dem Rucksack verpflegen. Das nächste Mal werde ich es besser machen!

Bei der Saxerlücke, gleich neben dem Wanderweg, hat es eine Kalkplatte, die als Klettergarten eingerichtet ist. Dort machen wir die ersten Kletterübungen. Voller Tatendrang steige ich vor, nach dem ersten Bohrhaken komme ich nicht mehr weiter. Während die linke Hand vergeblich nach einem Griff sucht, klammert sich die rechte verzweifelt an der Expressschlinge fest. „Das bringt nichts, komm wieder runter und versuch es an einer anderen, einfacheren Route!“ Jürg, ein gemütlicher Berner von froher, heiterer Wesensart, den nichts aus der Ruhe bringt, ist seit zwölf Jahren Bergführer und wird uns in den nächsten Tagen beim „senkrechten Vergnügen in der Wand“ begleiten. Er zeigt mir, wie ich mich auf der Felsplatte hinstellen und langsam den Druck auf die Fusssohle aufbauen muss, damit es klappt.

Zwischen den Übungen und danach probiere ich immer wieder und quere, einen halben Meter über dem Boden, auf der Felsplatte hin und her, schaue den Fels genau an und setze gezielt den Fuss auf. „Willst Du noch einmal hinauf? Komm, ich sichere Dich!“, ruft Philippe, ein junger, sehr sympathischer St. Galler. Dankbar nehme ich sein Angebot an. Das Seil hängt noch in der Route, ich kann von oben gesichert („top-rope“) hinaufklettern. Vorsichtig taste ich mich voran, belaste ganz allmählich den Fuss und staune und freue mich, wie die Kletterfinken am Fels kleben bleiben. Die Freude ist so gross, dass ich gleich nochmals dieselbe Route klettere. Dann ziehen wir das Seil ab und ich wiederhole das Ganze im Vorstieg. Anschliessend eine andere Route, dann noch eine… Die andern der Gruppe sind längst unten in der Bollenwees, nur Jürg ist geblieben und lässt sich von unserer Begeisterung anstecken. Klettern macht süchtig! Ganz zum Schluss wagen wir uns an jene Route, an der ich am Anfang gescheitert bin. Philippe, der viel gewandter als ich klettert, steigt vor. Nach der ersten Zwischensicherung kommt auch er nicht mehr weiter. Sogleich ist Jürg zur Stelle und findet die feinen Unebenheiten im Fels, die als Tritte herhalten müssen. Nun versuche ich, von oben gesichert, nochmals mein Glück. „Steh ruhig drauf, das hält schon!“ So lotst er auch mich durch die glatte Platte, die mir anfänglich unüberwindbar schien. Es ist ein triumphales Gefühl, als ich oben ankomme!

Auf dem weiss-blau-weiss markierten Weg Richtung Hundstein kommt man an den Widderalpstöck vorbei. Verlässt man auf etwa 1850 m Höhe, bei einem kleinen Schneeflecken, den Weg und steigt über die steile Grasflanke hinauf, steht man am Wandfuss des Hurlibutz, einem westlichen Vorgipfel des Mittelgipfels. Dort befindet sich unser Übungsgelände für den zweiten Tag. Nach den vier Seillängen seilen wir, in Anbetracht des für den Nachmittag angesagten Gewitters, ab, ohne vorher noch auf den Gipfel zu steigen. Wieder auf dem Hundsteinweg, unterhalb der Steilstufe, besuchen wir anschliessend den Kinderklettergarten beim sog. NN-Südplättli, wo mehrere kurze Routen zum Üben einladen.

Am Samstagmorgen ist der Himmel nicht mehr wolkenlos wie am Vortag. Es sieht ganz danach aus, dass das Gewitterrisiko gestiegen ist. Auf dem Bergweg wandern wir über die Saxerlücke zur Roslenalp und steigen dann auf Wegspuren hinauf Richtung Scharte zwischen dem III. und IV. Kreuzberg. Im letzten, steilsten Stück, wo man zum Vorankommen die Hände braucht, befestigt Jürg ein Seil, so dass wir gesichert mit der Prusikschlinge am Seil, die mit einem Schraubkarabiner am Klettergurt befestigt wird, hinaufsteigen können. Das ist eine einfache und komfortable Methode, vor allem wenn man als Gruppe unterwegs ist.

Roger ist als durchtrainierter Bergläufer stets so unterwegs, als hätte er Siebenmeilenstiefel an den Füssen. Wir beide bilden die erste Seilschaft. Anfänglich hatte ich die Idee, mit den Bergschuhen auf das Schmale Südrippli zu klettern. Auf Empfehlung von Jürg wechsle ich die Schuhe – und werde ihm dafür schon bald dankbar sein. Zu Beginn der 2. SL hat es rechts an einem griffarmen, senkrechten Wandstück einen Bohrhaken. Mit grosser Mühe versuche ich dorthin zu gelangen. „Komm zurück! Das entspricht überhaupt nicht der angegebenen Schwierigkeit und ist wahrscheinlich eine Variante zur Normalroute“, vermutet Jürg, der zu meinem Erstaunen auch zum ersten Mal hier ist. Auf der linken Seite hat es eine schmale Rinne, in welcher ich gut vorankomme. Doch weit und breit kein Bohrhaken. Als ich bald am Ende der Rinne bei einem alten, rostigen Schlaghaken bin, ist das für ihn Hinweis genug, dass ich mich erneut verstiegen habe. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als vorsichtig zurück zum Stand zu klettern. Hier ist definitiv kein Klettergarten! Das ist alpines Gelände, wo der angegebene Schwierigkeitsgrad nur einen und vielleicht sogar den kleineren Teil der Schwierigkeiten und Gefahren ausmacht. Tritte und Griffe hat es ausreichend, schwieriger ist es, die richtige Route zu finden.

Nun übernimmt Jürg den Vorstieg. Die Route verlässt die schmale Rinne sogleich wieder und führt auf dem Grat hinauf zum zweiten Stand. In der 3. SL wird der Grat richtig steil und schmal. Zuoberst befindet sich ein Türmchen, davor und dahinter hat es einen Stand. „Mach den Stand hinter dem Türmchen, damit die andern Seilschaften den vorderen Stand nehmen können“, ruft Jürg hinauf. Roger steht oben und braucht ziemlich lange, bis er sich am angegebenen Ort eingerichtet hat. Der Grund dafür wird mir sogleich klar, als ich ebenfalls vor dem Türmchen stehe: Es braucht einiges an Überwindung, um vom ohnehin schon sehr ausgesetzten Grat aus in der senkrecht abfallenden Wand hinter das Türmchen zu klettern. Das ist übrigens genau die Stelle mit dem spektakulären Bild auf dem Werbeprospekt – und wohl auch die Schlüsselstelle der Route.

Die 4. SL verläuft zuerst horizontal auf dem luftigen Grat, bevor der nächste und letzte Aufschwung folgt. Zum Glück finden Hände und Füsse überall bequeme Griffe und Tritte. Hier auf Reibung klettern zu müssen, wäre für mich – und obendrein im Vorstieg – eine allzu grosse Herausforderung. Glücklich ist, wer die Höhenangst unten beim Einstieg zurückgelassen hat und nicht zu oft hinunterschaut, ob sie sich wirklich noch dort befindet und sich nicht heimlich hinaufgeschlichen hat… In diesem oberen Teil macht das Schmale Südrippli seinem Namen alle Ehre. Dann kommt bereits die letzte Seillänge, die auf dem Topo gar nicht mehr eingetragen ist. Sie endet auf dem Weg, der nach wenigen Metern zum Gipfel des III. Kreuzberg (2020 m) führt.

Der Tiefblick ins Rheintal ist sensationell, das Wetter hat sich vorbildlich gehalten, man könnte stundenlang hier verweilen. Wir wollen allerdings nicht warten, bis das Gewitter kommt. Wir wechseln die Schuhe und steigen am kurzen Seil durch die Ausstiegsrinne zur Scharte ab. Von dort aus weiter wie beim Aufstieg, mit der Prusikschlinge am Fixseil. Auf der idyllisch gelegenen Roslenalp machen wir Halt. Von Mai bis Oktober, jeweils am Wochenende, ist die Hütte, die der Rettungskolonne Sax gehört, bewirtet. Einziges Menu am Samstagabend: Spaghetti – nebst kalten Speisen und Getränken, die den ganzen Tag angeboten werden. In der Hütte kosten die Schlafplätze 15 Franken pro Nacht und für nur 10 Franken kann man im ehemaligen Stall übernachten. Wer auf Komfort verzichten mag und die Ruhe dem emsigen Treiben im Berggasthaus Bollenwees vorzieht, ist hier gut aufgehoben. Zurzeit sind wir die einzigen Gäste. Für den Abend habe sich noch jemand angemeldet.

Am Sonntagmorgen erwache ich mit schwerem Kopf, auch ohne vorherigen Alkoholgenuss. Die dritte Nacht im Massenlager auf der Bollenwees, diesmal bis auf den letzten Platz besetzt. In den Gliedern macht sich die Müdigkeit – in den ersten Tagen von der Klettereuphorie und den Glücksgefühlen überlagert – immer stärker bemerkbar. Die Sonne brennt schon heiss vom Himmel, als wir uns um halb acht auf den Weg machen. Der Fähnligipfel in den Widderalpstöck ist das heutige Gipfelziel. Für mich eine Art Zugabe, mit dem Schmalen Südrippli am Vortag wäre ich bereits glücklich und zufrieden gewesen. Vor dem Geröllfeld meint Jürg, es sei nun Zeit, den Helm aufzusetzen und den Klettergurt anzuziehen: „Hier habt ihr genügend Platz, oben beim Einstieg ist es vielleicht nicht mehr so bequem.“ Bevor er sich auf den Weg zur ersten Seilschaft macht (Philippe und Roger klettern auf einer anderen, etwas anspruchsvolleren Route: Ostkante 5b), sagt er noch: „Wir sehen uns oben beim Einstieg.“

Anna und Nick bilden die zweite Seilschaft, Stephan und ich die dritte. Wir werden auf dem Alten Südplättli zum Fähnligipfel hinaufklettern. Zwei farbige Punkte, die Helme einer andern Seilschaft, weiter oben in der Rinne zeigen, wo wir hin müssen. Im Geröllfeld komme ich nur langsam voran. Die andern drei sind ein gutes Stück voraus. Als ich mich in der Rinne neben den Legföhren durchzwänge, höre ich einen Schrei. Stephan hat einen andern Weg genommen und ist auf den steilen Schrofen abgerutscht. Zum Glück hat er sich rechtzeitig halten können. An den Fingern hat er eine Schürfwunde und mag nicht mehr klettern. „Er soll dort warten, bis ich komme“, ruft Jürg, nachdem ich ihn benachrichtigt habe. Beim Einstieg oben ist es tatsächlich sehr steil und ich bin froh, dass ich nur noch die Schuhe wechseln muss. Auch das dauert seine Zeit, ich fühle mich alt und ungelenk. Inzwischen ist Jürg über die Schrofen hinabgesprungen und bringt Stephan in Sicherheit, indem er ihn am fixen Seil, das er im Rucksack mitführt, absteigen lässt. Und ebenso schnell und flink wie ein Gemslein ist er auch wieder bei mir oben.

Die ersten Seillängen steigt Jürg vor, worüber ich keineswegs unglücklich bin. In der 3. SL bin ich an der Reihe. Nach geschätzten zehn, vielleicht zwanzig Metern kommt der erste Bohrhaken, der nächste ist nirgends in Sicht. „Siehst Du die Sanduhr dort oben?“, fragt Jürg, „dort kannst Du eine Schlinge legen.“ Es ist die zweite Zwischensicherung, nachher klettere ich bis zum Stand. „Die Sanduhr hast Du perfekt gebaut, aber hänge das nächste Mal bitte auch noch das Seil in den Karabiner“, sagt er trocken, als er neben mir steht. Ich mag gar nicht daran denken, wie tief ich hätte stürzen können, mit nur einer einzigen Zwischensicherung in der ganzen Seillänge.

Das Alte Südplättli wird im SAC-Führer als „schöne Platten- und Wasserrinnenkletterei in bestem Schrattenkalk“ und „ideale Anfängerroute“ charakterisiert. Fürs Auge sind die Wasserrinnen schön. An den Händen fühlen sie sich an wie ein Korallenriff, messerscharf. Und wenn ich mit den dünnen Kletterfinken in eine solche Rinne stehe, ist es, als hätte sie Zähne, die zubeissen. Oft bleibt nur die Wahl zwischen der glatten Platte mit den feinen Unebenheiten – wie am ersten Tag im Klettergarten – und einer Wasserrinne. Doch es macht einen Unterschied, ob man dort unten der glatten Platte vertraut oder hier oben in luftiger Höhe. So entscheide ich mich, jedes Mal wenn die Finger nichts zum Festhalten haben und sich nur leicht aufstützen können, für die Wasserrinnen und klettere schnell weiter – in die nächste Wasserrinne. Es ist, als würden sie nach meinen Zehen schnappen. Als ich oben auf dem Gipfel ankomme, sehen meine Hände und Unterarme aus, als hätte ich mit einer Wildkatze gespielt.

Auf dem Weg von der Bollenwees nach Brülisau schaue ich nochmals zurück zu den Widderalpstöck. Steil und unzugänglich sehen sie aus. Kaum zu glauben, dass ich wenige Stunden zuvor dort oben stand! Die vier Tage im Alpstein waren lehrreich und schön, aber auch anstrengend. Es sind Erlebnisse, die ich nicht missen möchte. Wie andere Leute irgendwelche Gegenstände, sammle ich sie und reihe sie auf wie an einer Perlenkette. Das ist Reichtum! Das ist Leben!

Tourengänger: Fico


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Kommentare (1)


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Felix hat gesagt:
Gesendet am 12. Juni 2015 um 16:05
Gratulation!

zu deiner Klettertour - den atemberaubenden Fotos, sowie den wie gehabt persönlichen und aufschlussreichen Bericht!

lg Felix


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