Zu Fuss vom Thurgau auf den Säntis


Publiziert von Fico , 30. August 2014 um 23:20.

Region: Welt » Schweiz » Thurgau
Tour Datum:23 August 2014
Wegpunkte:
Geo-Tags: Alpstein   CH-AR   CH-SG   CH-AI   CH-TG 
Zeitbedarf: 2 Tage 4:30
Aufstieg: 4040 m
Abstieg: 3090 m
Zufahrt zum Ausgangspunkt:cff logo Hüttlingen-Mettendorf
Zufahrt zum Ankunftspunkt:cff logo Schwägalp oder Schwebebahn Bergstation Säntisgipfel
Unterkunftmöglichkeiten:Mattenhof, Flawil, Berghotel Schwägalp
Kartennummer:1053 (Frauenfeld), 1073 (Wil), 1074 (Bischofszell), 1094 (Degersheim), 1114 (Nesslau), 1115 (Säntis)

Zu Fuss von zu Hause auf den Säntis. Die verrückte Idee geht mich seit mehr als fünf Jahren nicht mehr aus dem Kopf. Vor vier Jahren begann ich mit der Routenplanung, vor drei Jahren mit dem Ausprobieren der Tagesetappen, die ich immer weiter optimiert habe. Die Luftlinie beträgt 46 km, für die gesamte Wegstrecke kann man die Ziffern glatt vertauschen und zu den 64 km nochmals 9 km dazuzählen. Es ist eine Strecke von rund 73 km, die sich um die Luftlinie herum schlängelt. Manchmal ist die Abweichung etwas grösser, der Bogen etwas weiter. Denn es gilt, dem motorisierten Verkehr so vollständig wie möglich auszuweichen. Das ist nicht immer einfach: Oft müssen Siedlungsgebiete durchquert und einmal die A1 unterquert werden.

Sportlichere Naturen als ich legen die Strecke möglicherweise fast an einem Tag zurück. Auch in drei Tagesetappen war für mich das Ziel noch anspruchsvoll genug und so hoch gesteckt, dass ich mehrere Jahre brauchte, bis ich ausreichend vorbereitet war. Am Anfang schmerzten schon nach 25 km die Gelenke so stark, dass ich aufgeben musste. In früheren Jahren forderte mich der Aufstieg von der Schwägalp auf den Säntis derart, dass ich jeweils glücklich war, wenn ich auf dem Gipfel ankam und anschliessend mit der Seilbahn hinunterfuhr. Nichtsdestotrotz verfolgte ich hartnäckig mein Ziel – und das Ziel verfolgte mich. Die verrückte Idee liess mich nicht mehr los. Auch wenn ich zwischenzeitlich zahlreiche andere, schöne und anspruchsvolle Touren Wirklichkeit werden lassen konnte, an meinem so absurden wie faszinierenden Ziel hielt ich fest: Irgendwann will ich von zu Hause aus auf den Säntis laufen.

 
1. Tag: Hüttlingen – Affeltrangen – Braunau – Greutisberg – Zuzwil – Felsegg – Glattmündung – Flawil (ca. 34 km, T1)

Am Samstagmorgen um 8 Uhr mache ich mich auf den Weg. In freudiger Erwartung, aber auch mit etlichen Zweifeln: Werde ich wirklich im Laufe des Montags auf dem Gipfel des Säntis ankommen? Oder werden irgendwelche Zwischenfälle meine Pläne durchkreuzen und mich zum Aufgeben zwingen? Es ist das erste Mal, dass ich zu einer so langen Tour aufbreche. Wird mein Körper durchhalten? Die einzelnen Etappen als Tagestour sind machbar. Aber alle drei Etappen aneinandergehängt?

Der Rucksack wiegt gute 10 kg, obwohl ich glaube, nur das Nötigste für die drei Tage eingepackt zu haben: Ersatzkleider und -wäsche, Toilettenzeug, Kartenmaterial, etwas Proviant und natürlich die Trinkblase mit 3 l Inhalt. Ausreichend Flüssigkeit ist das Wichtigste. Daran bin ich bereits mehrmals gescheitert.  Darum lieber etwas mehr Gewicht als zu wenig zum Trinken, denke ich mir.

Allzu stark würde ich heute nicht ins Schwitzen kommen. Abgesehen von einem Silberstreifen am Horizont, ist der Himmel ist bedeckt. Im Laufe des Vormittags brennt die Sonne immer wieder Löcher in die Wolkendecke, die von der feuchten Luft sogleich geflickt werden. So kann ich bis am Nachmittag wie unter einem gigantischen Sonnenschirm wandern.

Bei klarem Wetter hätte ich bereits nach einer Stunde freie Sicht zum Säntis. Heute lässt er sich nicht blicken. Macht nichts, ich weiss ja, wo er zu finden ist… Die allgemeine Richtung ist stets südöstlich. Die Strecke kenne ich inzwischen sehr genau, die erste Tagesetappe habe ich mehrmals ausprobiert (Wegbeschreibung hier) und diesen Frühling nochmals optimiert.

Nach vier Stunden erreiche ich P. 775 oberhalb von Greutisberg, die höchste Erhebung für heute. Ein kurzes Stück weiter unten hat es am Waldrand eine Sitzbank. Es ist Mittagszeit. Die Hälfte der ersten Etappe habe ich hinter mir. Erst die Hälfte? Schon die Hälfte! Ist das Glas halbleer oder halbvoll?

Eigentlich hätte ich hier gerne eine halbe Stunde ausgeruht. Nach 20 Minuten gehe ich weiter, weil ich kalte Finger habe. Und das im August! Als ich unten an der Thur ankomme, suche ich einen Platz auf der Kiesbank am Ufer. Mit gekreuzten Beinen setze ich mich auf ein paar aufgeschichtete Steine und massiere meine verspannten Schultern, die es nicht gewohnt sind, den ganzen Tag 10 kg zu tragen.

Der Lärm der nahen Autobahn, obwohl auf der andern Flussseite, ist nicht zu überhören. Das ist wenig angenehm, lässt sich aber kaum vermeiden. Zum Trost lüftet nun der Alpstein den Schleier und gibt den Blick auf mein Ziel frei. Schon viel näher und doch noch immer weit weg! Einzig der Gipfel mit dem Sendemast liegt in den Wolken.

Es ist inzwischen halb drei. Bis Flawil sind es weniger als 10 km, die ich noch schaffen muss. Öfters als am Morgen nütze ich die einladenden Sitzbänke entlang des Weges um kurz auszuruhen. Warum sollte ich mich beeilen? In Flawil ist für heute ohnehin Schluss, gleichgültig wie schnell ich gehe. Also ist es besser, wenn ich mir Zeit lasse und meine Kraftreserven nicht unnötig verbrauche.

In Niederglatt nehme ich den nur vermeintlich längeren, aber viel schöneren Weg über Glattburg, der am idyllischen Glattmüliweiher vorbeiführt. Allmählich drückt die Sonne stärker durch die Wolkendecke. Kurz vor 17 Uhr komme ich im Mattenhof in Flawil an, wo ich ein Zimmer reserviert habe.

Das Haus, das dem Berufs- und Weiterbildungszentrum Wil-Uzwil als Standort dient, ist am Wochenende geschlossen. Die Schlüsselbox spuckt den Zimmerschlüssel aus, der mir Zutritt zum Gebäude verschafft. Das Zimmer ist im 4. Stock – mit Blick zum Säntis! So habe ich mein Ziel stets vor Augen.

 
2. Tag: Flawil – Schwellbrunn – Urnäsch – Nusshaldensattel – Schwägalp (ca. 32 km, T1, einzelne Stellen T2)

Um 7 Uhr erwache ich. Elf Stunden Schlaf habe ich meinem Körper gegönnt, damit er bereit ist, mein Abenteuer weiterhin mitzumachen. Die heutige Etappe ist die härteste der drei Tage: nochmals gut 30 km, zudem sind rund 1000 Höhenmeter mehr zu bewältigen – erstaunliche 770 waren es bereits am Vortag, in einem nur leicht hügeligen Gelände. Die ganze Strecke von Flawil bis auf die Schwägalp habe ich vor genau einem Jahr bereits einmal unter die Füsse genommen (Bericht hier) –  und wäre am Tag danach nicht in der Lage gewesen, auf den Säntis zu steigen. Und diesmal? In den steifen Gliedern spüre ich die Anstrengungen des Vortages. Eine Blase an der rechten Fusssohle macht sich wieder bemerkbar, sobald ich den Fuss belaste.

Frühstück im Zimmer. Einen Liter Milch habe ich mir am Vorabend frisch vom Bauernhof nebenan besorgt. Dazu etwas Gebäck vom Migrolino, der am Samstagabend bis 21 Uhr geöffnet hat. Weit reicht heute Morgen die Sicht vom Zimmerfenster nicht. Der Alpstein gibt sich bedeckt und will anfänglich nicht zeigen, was über Nacht mit dem Säntis geschehen ist. Ein wenig später hebt sich dann die Wolkendecke und der Säntis präsentiert sich festlich gekleidet, ganz in weiss. Das wäre wirklich nicht nötig gewesen! Wenn das morgen auch noch so aussieht, werde ich die Wintersachen, die ich aufgrund der Wetterprognosen vorsorglich in den Rucksack gepackt habe, gut gebrauchen können.

Es ist kurz nach acht, als ich den Mattenhof verlasse. Das grosse Gebäude hatte ich ganz für mich allein. Der Rucksack ist nicht leichter geworden, wie mir die Druckstellen auf den Schultern signalisieren. Was heute auf mich zukommt, ist mir bewusst. Die Tagesetappe ist klar abgesteckt, das Zimmer auf der Schwägalp verbindlich gebucht. Ich werde alles daran setzen, rechtzeitig dort anzukommen. Rechtzeitig heisst: bevor es Nacht wird. Die Zeit ist daher ausreichend, auch wenn ich längere Pausen einlegen müsste.

Ein wenig Sorgen mache ich mir auch wegen der Schneeverhältnisse auf dem Säntis. Von hier aus lässt sich kaum abschätzen, wieviel Schnee wirklich gefallen ist. Es wäre allzu bitter, nach all den Anstrengungen und Entbehrungen, das Ziel nicht zu erreichen, weil zu viel Schnee liegt. Doch zuerst muss ich überhaupt auf der Schwägalp ankommen. Wenigstens das liegt in meiner Hand, jene kann ich nicht beeinflussen.

Nach kurzer Zeit sind die Muskeln genügend aufgewärmt und zu meiner Freude laufen die Beine wie von selbst, fast so als wären sie es gewohnt, den ganzen Tag nichts anderes zu tun. In Gedanken unterteile ich die Strecke, so dass ich mich an den kleinen Etappenzielen erfreuen kann. Die Talmühle liegt bereits hinter mir, auch die Bahnlinie zwischen Degersheim und Herisau habe ich überquert. Beim Aufstieg zum Stäggelenberg schaue ich zurück, irgendwo weit hinten liegt Flawil. Als ich beim Grillplatz am Rütiberg vorbeikomme, erinnere ich mich, dass ich hier jeweils Halt machte. Diesmal gehe ich vorbei, verspüre weder Hunger noch Durst, die Beine laufen einfach weiter.

Erst auf der Anhöhe nach Schwellbrunn setze ich mich hin. Es ist vernünftig, jetzt etwas zu essen und ein wenig auszuruhen. Als die Kirchenglocken zwölfmal schlagen, gehe ich bereits wieder weiter. Noch zwei Stunden bis Urnäsch und zum zweiten Mal auf 1000 m Höhe hinauf, bevor es wieder auf rund 800 m hinuntergeht. Wenn ich in Urnäsch bin, habe ich mehr als die Hälfte geschafft - solche Gedanken helfen, mich auf Trab zu halten. Zur Steigerung der Motivation nutze ich auch die „Erfolgsmeldungen“, die ich vom GPS ablese: „Tages-km“ (d.h. seit Beginn der Tour) 50.5 km, Aufstieg gesamt 1700 m. Bis am Abend werden es mehr als 2400 Höhenmeter sein. Und wieder ist das Glas entweder halbleer oder halbvoll…

Als ich endlich in Urnäsch ankomme, ist es bald halb drei. Bereits vorher habe ich mir eine Verschnaufpause gegönnt. Mit andern Worten haben mir meine Beine signalisiert: „Wenn wir dich bis auf die Schwägalp tragen sollen, dann lass‘ uns jetzt ausruhen.“ Am Bahnhofkiosk kaufe ich vorsichtshalber zwei Halbliterflaschen ‚Shorley‘. Es ist die letzte „Tankstelle“ vor der Schwägalp und wieviel Getränk noch in der Trinkblase ist, weiss ich nicht genau. Gefühlsmässig ist der Rucksack immer gleich schwer, obwohl ich schon viel getrunken habe.

Am Wanderwegweiser sehe ich: Schwägalp 4 h 20 min. Das ist nicht wenig, wenn man bedenkt, dass ich seit mehr als sechs Stunden unterwegs bin. Wenn alles gut läuft, wäre ich etwa um 19 Uhr dort. Es dürfte sogar etwas später werden, ich käme immer noch rechtzeitig an. Die Zuversicht verdrängt die Ermüdung und lässt mich weitergehen. Das nächste Ziel ist der Nusshaldensattel auf knapp 1500 m Höhe.

Die Etappen, in welche ich die noch zurückzulegende Strecke in Gedanken unterteile, werden kürzer, die Verschnaufpausen länger. Immer wieder schaue ich auf das GPS und kann es kaum erwarten, bis ich die nächsten „Erfolgsmeldungen“ ablesen kann: 60 km und Aufstieg gesamt 2000 m. Klare Anzeichen, dass die Übermüdung langsam aber sicher überhandnimmt. Das letzte, ziemlich steile Stück bis auf den Nusshaldensattel ist unter diesen Umständen nochmals eine kleine Herausforderung.

Und dann steht auf einmal der Säntis direkt gegenüber, ganz unvermittelt, ganz nah und in seiner ganzen Pracht, angeleuchtet von der Abendsonne. Der Anblick ist so überwältigend, dass er alle Müdigkeit vergessen lässt. Noch etwas mehr als eine Stunde bis zur Schwägalp. Den Rest will ich geniessen, es gemütlich nehmen. Bald merke ich, dass ich das Marschtempo gar nicht gross beeinflussen kann. Es ist, als hätten die Beine ihren eigenen Rhythmus gefunden, den sie beibehalten, bis das Ziel erreicht ist.

Kurz nach 19 Uhr stehe ich auf der Schwägalp im Hotel an der Rezeption. Ziemlich genau 11 Stunden nach dem Abmarsch am Morgen in Flawil. Die zweite, anspruchsvollste Etappe ist geschafft! Freude und Erleichterung halten die müden und schmerzenden Glieder in Schach.  Wie sehr die Füsse gelitten haben, spüre ich, als ich nach der warmen Dusche in den Hausschuhen zum Nachtessen humple. Wie wird das wohl morgen mit dem Aufstieg zum Säntis?

 
3. Tag: Schwägalp – Tierwis – Säntisgipfel (ca. 7 km, T3)

Es ist ein freundlicher Morgen. Die Schwägalp liegt noch im Schatten. Die Sonne scheint und trotz Wolken ist der blaue Himmel zu sehen. Keine Selbstverständlichkeit in diesem Sommer! Ausgeruht und nach dem ausgiebigen Frühstücksbuffet im Berghotel frisch gestärkt breche ich um 9 Uhr zum letzten Tag meines Abenteuers auf. Direkt beim Platz vor dem Hotel hat es einen Weg, der sogleich ansteigend hinter dem Antennenmast vorbei geht und 100 Meter weiter oben, beim grossen Schuttkegel, auf den markierten Bergweg trifft, der zu den Felsen, den sog. „Musfallen“, hinaufführt. Der Weg ist noch etwas feucht, aber nicht rutschig.

Erstaunlich gut komme ich am heutigen, dritten Tag voran. Nach nicht einmal zwei Stunden bin ich bereits bei der Tierwis. Früher benötigte ich nicht nur mehr Zeit, sondern vor allem, dort angekommen, dringend eine Pause. Heute trinke ich bloss ein paar Schlucke und gehe gleich weiter. Erst bei der Stütze 2 der Seilbahn lasse ich mich nieder. Dort hat es auch die ersten Schneeflecken. Bisher war der Weg komplett schneefrei. Den grösseren Teil des Aufstiegs habe ich hinter mir, bis zum Säntisgipfel fehlen nur noch 300 Höhenmeter. Der Himmel ist inzwischen bedeckt. Trotzdem reicht die Sicht bis den markanten Gipfeln der Zentralschweiz: zum Tödi, zum Clariden und zum Urirotstock.

Mit zunehmender Höhe werden auch die Schneeflecken zahlreicher. Oben auf dem Sattel angekommen, steige ich weglos die knapp 50 Höhenmeter zum Girenspitz (2448 m) hinauf. Dort liegt eine dünne Schneeschicht über dem Gras und es weht ein eisiger Wind. Der richtige Zeitpunkt, um die Winterausrüstung aus dem Rucksack zu holen: die leichte Kunstfaserjacke als mittlere Schicht unter der Goretex-Regenjacke, Wind-Stopper-Handschuhe und die sechszackigen Fusseisen, die ich zum ersten Mal benütze.  

Beim Abstieg vom Girenspitz auf den Sattel bieten die Fusseisen guten Halt auf den Schrofen und im steilen Gras. Auf den nassen Neuschnee hingegen ist überhaupt kein Verlass: beim Draufstehen rutscht er einfach weg. Auf der „Himmelsleiter“ sind heute nur wenige Leute unterwegs. Die meisten, die mir begegnen, sind offensichtlich mit der Schwebebahn hinaufgefahren und versuchen sich nun, in Turnschuhen oder gar Stoffschuhen, die eher für die Strandpromenade als fürs Gebirge gemacht sind, in den Felsen. Solange sie sich mit beiden Händen an den Drahtseilen festhalten, mag der kurze, nicht ungefährliche Ausflug ganz gut gehen.

Der Säntis bereitet mir einen kühlen, ja frostigen Empfang. Das weisse Kleid ganz durchlöchert und wo die Sonne den Schnee hat schmelzen lassen, lässt der Wind das Wasser zu Eis erstarren. Eiszapfen im August! Mein Picknick, das ich wie üblich beim alten, rostigen Kreuz auf dem NW-Gipfel des Chalbersäntis (2455 m) einnehme, dauert heute nur ganz kurz. Dem Wind, der mit über 40 km Stundenkilometer von Südwesten her bläst, kehre ich den Rücken und schaue zum Säntisgipfel hinüber. Es sind nur einige wenige Touristen, die sich heute ins Freie wagen. Kein Vergleich mit einem warmen, sonnigen Tag!

Wieder zurück auf dem Hauptgipfel bin ich am Ziel meiner grandiosen Tour angekommen. In zwei Tagen, vier Stunden und zwanzig Minuten bin ich zu Fuss von zu Hause aus bis auf den Säntis gewandert. Unglaubliche 4040 m Gesamtaufstieg zeigt das GPS an, fast das Doppelte des Höhenunterschieds zwischen Ausgangs- und Endpunkt. Nun wie vorgesehen mit der Seilbahn hinunterzufahren, scheint mir kein würdiger Abschluss einer solchen Tour. Darum fasse ich den Entschluss, zu Fuss auf die Schwägalp abzusteigen. Merkwürdigerweise fühle ich mich dazu durchaus in der Lage. Es ist die Euphorie über den gelungenen Sieg, die wie Doping wirkt und mich die Ermüdung nicht spüren lässt.

Es ist das erste Mal, dass ich den steilen Weg von der Tierwis auf die Schwägalp im Abstieg mache. Noch bevor ich beim sog. „Ellenbogen“ bin, fallen die ersten Regentropfen auf die Felsen. Sind es Abschieds- oder Freudentränen, welche mir die Natur auf den Weg schickt? Darauf hätte ich gut und gerne verzichten können! Denn obwohl der Regen bald wieder aufhört, ist der Weg jetzt rutschig und nass. So bin ich heilfroh um die Ketten, die bei den Stellen angebracht sind, wo kein Fehltritt erlaubt ist. Um nicht ganz am Ende der langen Tour einen Ausrutscher zu riskieren, gehe ich langsam und vorsichtig, so dass ich gute drei Stunden brauche, bis ich auf der Schwägalp ankomme.

Auf der Fahrt im Postauto nach Nesslau erwachen meine Glieder allmählich aus der „Doping-Narkose“ und signalisieren mit heftigem Kribbeln ihren wahren Zustand. Immer wieder schaue ich zum Fenster hinaus Richtung Säntis, überwältigt von einem glückseligen Gefühl von Freude, Harmonie und Dankbarkeit. Einen grossen Dank an meine Schultern, meine Beine und meine Füsse, die in diesen drei Tagen geduldig alle Strapazen ertragen und mir keinen Strich durch die Rechnung gemacht haben. Ebenso an das Wetter, das sich meinem Vorhaben nicht in den Weg gestellt und erst ganz Schluss gezeigt hat, dass es auch hätte anders sein können.

Das Grossartige an dieser Tour sind nicht so sehr die eindrücklichen 4040 Höhenmeter oder die rund 80 km, die ich in den drei Tagen zu Fuss zurückgelegt habe. Es ist etwas viel Individuelleres, das keine Vergleiche irgendwelcher Art zulässt und nicht messbar ist. Es ist eine Art „Pilgerweg“ zu sich selbst. Es ist eine wunderbare Erfahrung, wenn es gelingt, unabhängig von Alter und Fitness, jedoch mit entsprechendem Training und guter Vorbereitung, das scheinbar Unmögliche möglich zu machen. Und je unerreichbarer das Ziel anfänglich aussieht, je länger die Vorbereitungszeit dauert, umso grösser ist nachher die Freude und Befriedigung über den errungenen Sieg. Es ist ein Sieg über die eigenen Grenzen, die man erfolgreich gesprengt hat. Das ist etwas unglaublich Befreiendes, das einen wieder ganz tief durchatmen lässt.

Tourengänger: Fico


Minimap
0Km
Klicke um zu zeichnen. Klicke auf den letzten Punkt um das Zeichnen zu beenden

Galerie


In einem neuen Fenster öffnen · Im gleichen Fenster öffnen


Kommentare (6)


Kommentar hinzufügen

wam55 hat gesagt: Danke
Gesendet am 31. August 2014 um 00:40
Dein spannender Bericht hat mich richtig an den Bildschirm gefesselt.
Gratulation zu dieser tollen Leistung!
Gruess vom Werner

Pfaelzer hat gesagt: Toller Bericht
Gesendet am 31. August 2014 um 08:15
Eindrücklich das Befinden beschrieben, sehr schön zu lesen.
Und natürlich Gratulation zum Gelingen dieses Vorhabens.

LG
Wolfgang

alpstein hat gesagt:
Gesendet am 31. August 2014 um 09:02
Eine tolle Morgenlektüre an einem tristen August-Sonntag.

Gratulation und Grüße
Hanspeter

countryboy hat gesagt:
Gesendet am 31. August 2014 um 09:22
Gratuliere zur Wander- und Willensleistung. Die gedanklich gesetzten Etappenziele und die jeweilige Freude über das Erreichte kann ich gut nachempfinden. Dein eindrückliches Erlebnis hast du in einem ebenbürtigen Bericht festgehalten; Genusslektüre für jeden Wanderer und gleichzeitig zu neuen eigenen Pilgerideen anregend... ;-)

Fico hat gesagt:
Gesendet am 1. September 2014 um 09:48
Vielen Dank, lieber Werner, Wolfgang, Hanspeter und countryboy, für Eure lobenden Kommentare! Es freut mich, dass Euch mein Bericht gefallen hat.

Herzlich
Fico

Felix hat gesagt:
Gesendet am 23. Januar 2015 um 13:36
auch ich habe deinen Bericht mit grosser Aufmerksamkeit gelesen - wiederum hast du ihn sehr persönlich gehalten; super!

Super selbstverständlich auch die Leistung - bravo!
(Deine "Pilgerreise" erinnert mich gut und gern an unseren dreitägigen Marsch vom Meer bis auf den Pico del Teide ...)

Kompliment und Gratulation!

lg Felix


Kommentar hinzufügen»