Ortler: Über den Hintergrat zum Gipfel


Publiziert von Erli , 10. Oktober 2012 um 15:56.

Region: Welt » Italien » Trentino-Südtirol
Tour Datum: 2 Juli 2005
Wandern Schwierigkeit: T5+ - anspruchsvolles Alpinwandern
Hochtouren Schwierigkeit: ZS
Klettern Schwierigkeit: IV (UIAA-Skala)
Klettersteig Schwierigkeit: K2+ (WS+)
Wegpunkte:
Geo-Tags: I 
Zeitbedarf: 17:00
Aufstieg: 1600 m
Abstieg: 2070 m
Zufahrt zum Ausgangspunkt:Anfahrt nach Sulden über den Reschenpass
Kartennummer:Kompass Nr. 636 Ortles/Ortler 1:25000

Überschreitung des Ortler (3905 m)
Der Aufstieg über den Hintergrat auf den Gipfel des Ortler und der anschließende Abstieg über den Normalweg mit meinem Bergfreund Christian am 2. Juli 2005 nimmt in meinem Tourenbuch einen Ehrenplatz ein. Es ist bis heute die härteste Tour, die ich jemals gemacht habe. Der Ortler hat sich in jeder Hinsicht als ein "König" erwiesen, der uns alles abverlangt hat.

Es begann eigentlich schon am 11. Juni 2004. Wir kamen nach Sulden, um den Ortlergipfel 200 Jahre nach der Erstbesteigung durch Josef Pichler via Normalweg zu erreichen. Bereits der Weg zur Hütte erwies sich als mühsam; schon in Lagen knapp über 2200 m waren auf dem Weg zur Bärenkopfscharte zahlreiche Schneefelder zu überwinden, auf denen wir immer wieder tief einsanken. Um den Weg abzukürzen, gingen wir durch eine Schneerinne steil nach oben, weil wir irrigerweise dachten, so einen leichteren Weg zu wählen. Am Ende mussten wir auf dem Bergrücken zwischen Payerhütte und Bärenkopfscharte schließlich eine Wechte überwinden; der Weiterweg zur Payerhütte erfolgte ebenfalls ausschließlich durch den Schnee. Die Nacht im - geräumigen - Winterraum der Hütte war zu warm. Das merkten wir, als wir am 12. Juni den Normalweg Richtung Ortler in Angriff nahmen: wir blieben buchstäblich im Schnee stecken, in den wir knietief einsanken. Wir entschlossen uns zur Rückkehr.

Ein Jahr später kamen wir erneut nach Sulden. Christian hatte ein ambitioniertes Ziel ausgegeben: über den Hintergrat auf den Ortler! Beim Weg zur Hütte sparten wir durch die Nutzung des Langensteinliftes Körner und mussten dann von der Bergstation auf 2.330 m nur noch gut 300 Höhenmeter auf einem Wanderweg langsam aufsteigen und erreichten am 1. Juli 2005 gegen 16.30 Uhr die Hintergrathütte (2.661 m). Außer uns waren nur eine weitere 2er-Seilschaft und ein Bergführer mit einem Paar in der Hütte.

Am 2. Juli brachen wir um 4.00 Uhr nachts an der Hintergrathütte auf; der Wetterbericht hatte gutes Bergwetter vorausgesagt, doch das sollte sich ändern! Der Aufstiegsweg führte zunächst unschwer auf einem Steig über die Seitenmoräne des Suldenferners in einem Bogen unter dem Hintergratkopf zum Beginn des eigentlichen Grates. Dann geht es zunehmend steiler durch eine Mulde hoch; hier setzte Schneefall ein, der die Wegfindung zunehmend erschwerte. Zum Oberen Knott müssen nach einer Rinne mehrere Felsen überwunden werden (I), die jedoch durch Schnee und Eis ziemlich glatt waren. Wir haben bis zum Oberen Knott und dem Beginn des Firngrates aufgrund der schwierigen Bedingungen mehr als dreieinhalb Stunden (!) gebraucht. Am unteren Ende des Firnfeldes seilten wir uns an. Der Wind wurde immer stärker, die Sicht immer weniger, und im Schneesturm kämpften wir uns nach oben. Am Ende des Firnfeldes kam uns der Bergführer mit seinen beiden Kunden entgegen; sie stiegen frustriert ab, wir kämpften uns weiter vor, jetzt wieder durch felsiges Gelände bis unter den Signalkopf (3.725 m)
Bis dahin war es für mich schon schwer genug. Aber nun folgte im Sturm der schwierigste Teil. Und wir fanden zu allem Unglück trotz intensiver und langer Suche plötzlich keine Sicherungspunkte mehr. Bei einem Bohrhaken war einfach Ende! (Später habe ich dann gelesen, dass man an dieser Stelle ca. fünfzig Höhenmeter absteigen muss, und dann wieder nach oben, um den Signalkopf zu umgehen.) Was tun? Wir waren der Auffassung, dass ein Rückzug bei diesen Bedingungen zu gefährlich wäre, also entschlossen wir uns, weiter aufzusteigen. Vorsichtig, Schritt für Schritt tastete sich Christian vorwärts, ich blieb oft minutenlang stehen, bis es dann für mich weiterging, während Christian wartete – aber es gelang! Wir umstiegen die schwierige Stelle (III-IV), bis wir wieder auf den Grat gelangten. Ab und zu riss nun der Nebel auf, aber dann peitschte schon wieder der Sturm. Christian ging voran, ich bin teilweise auf allen Vieren über den Grat gestiegen. Nach einiger Zeit erreichten wir einen schneebedeckten Aufschwung, erneut ging es über Felsen (III-); die Kletterei wollte kein Ende nehmen. Dann sahen wir die Ostwand des Ortler. Erneut ging es über eine Firnschneide, wieder über ein Felsband, und wieder ein kurzes Firnfeld. Plötzlich rief Christian, der voranstieg: „Ich sehe das Kreuz!“ Ich konnte es kaum glauben, aber kurz danach sah ich es auch – und Christian stand am Gipfelkreuz und streckte seinen Eispickel in den Himmel. In diesem Moment riss der Himmel auf! Wenige Minuten später erreichte ich ebenfalls den Gipfel. Es war 14.30 Uhr. Wir waren fast 11 Stunden im Grat gewesen! Nach Nebel, Schnee und Sturm sahen wir nun die Welt um uns herum; nur die benachbarten Gipfel von Königsspitze und Zebru blieben in den Wolken. Aber wir genossen dankbar den Gipfel und empfanden pure Freude!

Der Abstieg über das Ortlerplatt, der nun folgte, war eine Wohltat. Der Weg war gespurt, und wir kamen gut durch die Spaltensysteme. Selten habe ich einen Gletscherhatsch so genossen! Am Ende des Gletschers erreichten wir das Bärenloch und das (verfallene) Lombardi-Biwak. Nun ging es über Geröll und Fels im Bogen wieder herab auf den Gletscher. Dann erreichten wir das Tschierfeckwandl. Wir packten das Seil in den Rucksack. Am Klettersteig galt es noch einmal, die Konzentration hochzuhalten. Dabei habe ich mich gelegentlich mit dem Karabiner in die Kette, die den Abstieg am Wandl erleichtert, eingeklinkt. Christian kletterte frei ab. Die Payerhütte erreichten wir gegen 18.00 Uhr. Nun war eine ausgiebige Pause angesagt. Ich hätte am liebsten in der Hütte übernachtet. Aber Christian führte uns weiter auf dem Weg Richtung Sulden, das wir gegen 20.30 Uhr bei Einbruch der Dämmerung erreichten.
 
Fazit: Die Überschreitung des Ortler war eine großartige, schwere und hochalpine Tour, aufgrund der widrigen Bedingungen war der Schwierigkeitsgrad für mich jedoch grenzwertig. Die Angaben der Tourenführer beziehen sich ja stets auf gute Bedingungen mit angemessener Sicht und aperem Fels. Beides war bei unserer Ortlerüberschreitung beim Aufstieg nicht gegeben. Ich habe anschließend meiner Frau versprochen, diesen Schwierigkeitsgrad nicht mehr zu klettern. Hier liegt für mich die persönliche Grenze, die es anzunehmen gilt. „König Ortler“ werde ich jedoch immer im Herzen tragen…  

Tourengänger: Erli


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Kommentare (1)


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hgu hat gesagt:
Gesendet am 11. Oktober 2012 um 08:15
Hallo Erli,
auch wenn es nun schon über sieben Jahre her ist, trotzdem: Herzliche Glückwünsche zum Ortler und zur tollen Überschreitung; Respekt!
Du hast hier einen ehrlichen Bericht eingestellt, der wieder einmal zeigt, dass in den Bergen eine rechtzeitige Umkehr immer überlegt sein sollte!

Liebe Grüße aus dem Rheinland
und weiterhin unfallfreie Touren
hgu


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