Ciavena Alta

Es ist sehr gut denkbar, dass die Herrlichkeit des Lebens um jeden und immer in ihrer ganzen Fülle bereit liegt, aber verhängt, in der Tiefe, unsichtbar, sehr weit. Aber sie liegt dort, nicht feindselig, nicht widerwillig, nicht taub. Ruft man sie beim richtigen Wort, beim richtigen Namen, dann kommt sie. Das ist das Wesen der Zauberei, die nicht schafft, sondern ruft.
Franz Kafka, Tagebücher (1921)

Die Ciavena Alta gehört zu den Tessiner Bergen mit den anspruchsvollsten Normalrouten. Stünde der Berg an einer Passstrasse, dann wäre er bestimmt von massenhaft eingerichteten Kletterrouten durchzogen. Die Schwierigkeiten des Normalweges sind zwar auf einige wenige Meter beschränkt, doch ist die Kletterschwierigkeit im 4. Grad und dies über einem ziemlich eindrücklichen Abgrund. Umso besser also, wenn man diese Tour mit einem erfahrenen Kletterer angehen kann.

Von Fontana schlagen wir den Alpweg nach Cranzünasc ein, der im unteren Teil, in der Geröllhalde von Chiall, leicht verloren gehen kann. Man achte darauf, tendenziell eher rechts zu halten, an den Rand der Halde. Nach Corte di Fondo stossen wir auf ausgedehnte Bestände an Himbeeren und Heidelbeeren, was das Vorwärtskommen deutlich erschwert. Nach Corte di Mezzo öffnet sich der Blick auf das herrliche Halbrund der Alp, mit all den fantastischen Bergen zwischen Madonino und Pizzo della Cazzana.

Letztere packen wir als erstes an. Dazu gehen wir in den Sattel zwischen Ciavena Bassa (P. 2350) und Pizzo della Cazzana, zuoberst recht steil. Wir queren über Bänder auf der Calnègia-Seite und steigen dann über steiles Gras rechts am "Arc de Triomphe" vorbei, bis wir den Gipfel zuletzt über eine ausgesetzte Stufe (II+) erreichen. Der Tiefblick ins Val Calnègia und in den steilen Hang, der einst die Alpe della Cazzana beherbergte, ist beeindruckend.

Zurück im Sattel queren wir etwas auf der Südseite und steigen dann über den Grat auf die Ciavena Bassa, zuoberst kurz II. Eine weitere Querung und der Aufstieg durch ein steiles Grascouloir bringen uns an den Gipfelaufbau der prächtigen Ciavena Alta. Hier montieren wir die Klettergurte und machen uns über ein paar plattige Stufen und ein schönes Grasband an den Fuss der Felsstufe. Mein Begleiter ersteigt sie recht flink, während ich im Nachstieg gewiss keinen Preis für elegantes Klettern gewinnen könnte. Dass manche Leute diese Stelle ungesichert erklettern, ist kaum zu fassen. Weiter oben führt eine schiefe Platte, von einer kurzen Stufe unterbrochen, zum höchsten Punkt. Dieser Abschnitt sieht grimmiger aus als er ist (wäre aber bei Nässe sehr heikel).

Über die Stufe seilen wir ab, danach geht es zu Corte di Cima, wo wir beim Brunnen die Wasservorräte aufstocken können. Weiter zur Heidelbeerzone, wo wir einige Behälter füllen, bevor wir uns auf den langen Abstieg machen. Eine tolle, unvergessliche Tour bei besten Verhältnissen!