Auf freiem Fuss zu den Quellen von Calancasca, Hinterrhein und Valser Rhein


Publiziert von lorenzo , 1. Juli 2011 um 01:49.

Region: Welt » Schweiz » Tessin » Bellinzonese
Tour Datum:25 Juni 2011
Wandern Schwierigkeit: T5 - anspruchsvolles Alpinwandern
Hochtouren Schwierigkeit: WS+
Klettern Schwierigkeit: III (UIAA-Skala)
Wegpunkte:
Geo-Tags: CH-GR   CH-TI   Gruppo Pizzo di Cassimoi   Gruppo Cima Rossa   Gruppo Rheinwaldhorn   Gruppo Zapporthorn   Gruppo Pizzo Corói   Gruppo Cima di Gana Bianca 
Zeitbedarf: 5 Tage
Zufahrt zum Ausgangspunkt:cff logo Malvaglia, Filovia Dagro
Zufahrt zum Ankunftspunkt:cff logo Olivone
Unterkunftmöglichkeiten:Läntahütte; Rifugio Scaradra
Kartennummer:LK 1273/1274/1254/1253/1233; G. Brenna, Clubführer Tessiner Alpen 3, SAC 1996; M. Volken, R. Kundert, T. Valsesia, Alpinwandern Tessin, SAC 2004; G. Brenna, Misox und Calancatal, Salvioni 1998; E. Riva, Fünfzig 3000er des Tessins, Salvioni 1999

Eine Melodie, zwei Bücher, ein Foto und ein Berg...Vor Jahren erzählte mir eine Arbeitskollegin vom Passo Soreda, seither erinnerte mich das kurze sonore So-re-da von Zeit zu Zeit immer wieder an gute alte Zeiten. Später studierte ich in den beiden Büchern von G. Brenna und E. Riva aufmerksam die abgelegenen und kargen Gipfel zuoberst im Calancatal. Schliesslich fand ich im Alpinwanderführer Tessin ein Foto von der Capanna Scaradra unter azurblauem Himmel, das mich jedes Mal, wenn ich es wieder anschaute, wie magisch anzog.

Um die drei genannten Anziehungspunkte in einer logischen Linie gelenkschonend mit moderaten Höhendifferenzen und Distanzen zu verbinden, wählte ich Dagro, das mit einer Seilbahn erreicht werden kann, als Ausgangspunkt, und plante mangels Unterkünften für die ersten beiden Etappen zwei Biwaks ein. Mittel- und Höhepunkt  der gesamten Route würde zwar die stolze Firn- und Felspyramide des Rheinwaldhorns mit seiner wunderbaren Rundumsicht sein, zunächst führt die Tour aber durch eine der einsamsten und unwegsamsten Gegenden der Schweiz. Aber was sind schon fünf Tage 
Einsamkeit verglichen mit hundert Jahren ? Und ein langer Roman wird dieser Bericht hoffentlich auch nicht werden...

25.6.: Start bei zweifelhaftem Wetter (SF Meteo: "im Tessin sonnig und warm...") in Dagro und weiss-rot (wr) über Ciavasch (1378m), Garéi (1270m) und Scòna (1118m) nach Madra (oder alternativ auf dem Sentiero storico über Dandrio). Weiter wr steil hinauf nach Pianèzza (1470m) und flacher durch das Val Madra über die Alpe di Bragnéi (1622m) zu P. 1807. Hier nach N über den Bachlauf des Val Madria und wieder steil hinauf (Pfadspuren, spärliche Markierungen) nach Ciavasch (2048m), wo man bei gewittrigem Wetter zur Not übernachten könnte (feucht-schimmlig anmutende Matratzen...). Nach ENE auf Pfadspuren zwei Bachläufe querend hinauf zu deren Quellen bei Ganne di Rotondo (ca. 2550m) und Biwak unter dem vorspringenden Dach eines Felsens (Schafunterstand), 460m Ab-, 1645m Abstieg, 6h 15min, T4. Nach leichtem Nieseln klart es abends, "als es kühle ward", zunehmend auf. Auch die bimmelnden Schafe legen sich zur Ruhe.

26.6.: Zuerst der übliche leidige Biwakkram nach sternenklarer frostiger Nacht. Während die Schafe auf Futtersuche die Grüss della Parete nach W queren, steige ich 6 Uhr 30 auf Schafspuren über die grasige S-Flanke zum felsigen SE-Grat und über dessen letztes Drittel auf die Cima dei Cogn, 1h 30min, L oder T5. Nun auf der Gratscheide hoch über Alp de Pertüs und Alp de Stabi im E (GR) und Piano della Parete und Alpe di Giumella im W (TI) nach N zu Cima Rossa, Piz Piotta und Puntone della Parete. Der Grat besteht aus Schotter, Geröll und leichten Felsen (I), war z.T. noch mit Schnee bedeckt, und ist insgesamt einfach zu begehen. Am SSE-Grat der Cima Rossa wird P. 2961 W umgangen und die Erkletterung des Gipfelaufbaus von E verlangt kurz etwas mehr Engagement (II), 3h 30min, L. Auf dem NNW-Grat des Puntone della Parete bis zum tiefsten Sattel vor den Türmen des N-Gipfels (2993m), nach W durch eine brüchige, weiter unten mit Schnee gefüllte Rinne hinab auf ein Firnfeld, nach NNW zuerst weiter hinunter bis ca. 2800m und wieder hinauf zum Passo di Giumello, 1h, L. Der folgende SE-Grat zum Puntone dei Fraciòn bildet den schwierigsten Teil dieser Etappe: ein senkrechter Aufschwung wird links (G. Brenna: "auf logischer Route", III), eine weitere Stufe rechts ausgesetzt auf einem Band umgangen, zuletzt wieder über einfache Felsen und Firn auf den Gipfel, 1h, WS+. Abstieg über den N-Grat auf Schotter und Firn hinunter zum Pass de Stabi und Abstecher über den WSW-Grat (Spuren) auf den Piz de Stabi, wo der Tiefblick auf den Schiessplatz Hinterrhein nicht gerade berauschend ist...1h, L. Hinunter zum Zapportpass und an den unteren Rand des Ghiacciaio di Giumello (Spuren) zum zweiten Biwakplatz auf "weichen" Felsplatten auf Höhe der ersten Gletscherbäche (ca. 2925m), 1h, L, insgesamt 1320m Auf-, 950m Abstieg, 9h. Bei schönstem Wetter bot dieser Tag weitwinkelmässig einen Vorgeschmack auf das Rheinwaldhorn, dafür etwas gezoomtere Ansichten der Misoxer Berge und der Bondasca Gruppe. 

27.6.: nach einer dank 
höherer Lage und böigem N-Föhn noch etwas kühleren Biwaknacht und Genuss von 
buchstäblich mineralhaltigem Gletscherwasser mit sandigem Nachgeschmack um 4 Uhr 45 etwas lustloser Aufbruch: auf griffigem Firn zurück zum Zapportpass, weiter (Spuren) zum ESE-Grat und über diesen auf Geröll und Firn auf das Rheinquellhorn, 1h, L. Kurz vor dem Gipfel kehren mit der aufgehenden Sonne auch die Lebensgeister wieder zurück. Ueber den ENE-Grat auf einfachen Felsen und hartem Firn (Pickel) z.T. ausgesetzt hinüber zum Vogelberg, von dem aus ich erstmals der Aufstieg zum Rheinwaldhorn im Detail studieren werden kann, 30min, L. Abstieg über den breiten NNW-Rücken auf Firn (Pickel, Steigeisen) und Schutt hinunter auf den Paradiesgletscher und Querung nach WNW zum Felsgürtel der südlichen E-Flanke, der über leichte Felsen oder durch ein Schneecouloir erstiegen werden kann. Weiter auf dem um ca. 8 Uhr von der bereits brennenden Sonne ideal aufgeweichten Firn (Pickel) in die Mulde unter der SE-Wand des Rheinwaldhorns. In der westlichen Ecke der Mulde über Gras und leichte Felsen und zuletzt über ein kurzes Firnfeld (ca. 50 Grad) hinauf zu einem Band. Auf diesem nach E und über eine griffige Stufe und einen grasigen Riss (III) an den oberen Rand des plattigen Felsgürtels. Auf dem anschliessenden Firnfeld schräg nach NNE aufsteigend zu einem Couloir und durch dieses auf den SSW-Grat oberhalb eines markanten viereckigen Turms. Auf dem Grat in anregender Kletterei (I-II) auf den Gipfel, 3h, WS+, insgesamt 4h 30min. Bei praktisch wolkenlosem Himmel und trockener Luft geniesse ich mit einem Paar aus dem Bleniotal die fantastische Fernsicht, im E  ist sogar der mächtige Ortler wie ein riesiges Reptil sichtbar! Abstieg zuerst entlang dem NNW-Grat (Spuren), wo ich auf einen aufsteigenden Alleingänger treffe, der sich darüber ärgert, das ihn der Zapporthüttenwart über die erste Hälfte des Hüttenwegs im Unklaren gelassen hatte...Ich fühle aufrichtig mit ihm. Auf ca. 3300m folge ich seinen Spuren hinüber zum NNE-Grat und gelange, zunehmend im aufgeweichten Firn einsinkend zum einfachen Felsgrat bei P. 3133 und weiter zur Läntalücke (wegen Spaltensturzgefahr verzichtete ich darauf, Spuren auf dem Läntagletscher westlich von P. 2923 hinunter zu folgen). Auf dem rot markierten Läntahüttenweg hinauf zu P. 3058m, wo die Kette aber hinter einer Wächte im Bodenlosen verschwindet und der darunter liegende N-Hang noch harten und z.T. vereisten Firn aufweist (üblicherweise erst später im Sommer  passierbar), so dass ich zur Läntalücke zurückkehre und rechts vom NW-Couloir bis ca. 2850m zuerst über lose Felsen (Steinschlaggefahr) absteige und dann auf aufgeweichtem Firn bis zum Läntagletscher hinuntergleite. Talauswärts beginnt bald der weiss-blau (wb) markierte Hüttenweg, der ab einer Tirolienne, die aber blockiert ist, beidseits des Valser Rheins verläuft. Etwas weiter unten gelingt es mir trotzdem, trockenen Fusses auf dessen links Seite zu gelangen. Noch steht der Bergfrühling in voller Blüte und in allen Farben leuchtende Blumen säumen den Weiterweg zur Läntahütte, 4h 45min, WS, insgesamt 1000m Auf- und 1780m Abstieg, 9h 45min (ohne Verhauer 8-9h). Die Bewirtung durch das Hüttenteam ist vorzüglich, und von verschiedenen Touren eintreffende Leute sorgen für eine willkommene Abwechslung.

28.6.: Frühstück ab 7 Uhr und Start um 7.30 Richtung Passo Soreda. Bei leichter Bewölkung wr talauswärts zur Abzweigung ca. 500m vor der Lampertsch Alp, steil hinauf in das wunderschöne Seitental, und an zwei in der Morgensonne glitzernden Bergseen vorbei zur Passhöhe, 2h 45min, T3. Rucksackdepot und wb dem NNW-Grat entlang über eindrückliche riesige Gneisplatten und aufgeweichten Firn auf den Pizzo Cassinello, 45min, L oder T4. Noch einmal sehe ich hinüber zur leuchtenden Firnpyramide des Rheinwaldhorns. Zurück zum Pass und wieder wr auf der W-Seite hinunter, wo ich das Team der Läntahütte bei der alljährlichen Sanierung des obersten Wegteilstücks antreffe. Auf dem bald bequemer werdenden Bergweg hinunter zum Capanna Scaradra, 1h, T4-, insgesamt 1100m Auf- und 930m Abstieg, 5h 15min. Nach einem erfrischenden Bad im nahegelegen Bach studiere ich anhand der aufliegenden Dokumentation an der Nachmittagssonne die umliegenden Gipfel und Kletterrouten: weitere Ziele warten...

29.6.: Von der Schaf- und Ziegenherde geweckt, packe ich meine Sachen zusammen und wandere  wr gemütlich am halbleeren Lago di Luzzone vorbei und über  Campo Blenio nach Olivone, wo ich mich im Restwasser des Brenno della Greina bei glühender Mittagssonne für die Heimfahrt über den Lukmanier bereit mache, 40m Auf-, 1310m Abstieg, 4h, T3. Unübersehbar und zum Greifen nah locken auch hier einige ganz besonders interessante Routen: ich werde 
also wieder kommen müssen!

Bemerkung: die angegebenen Höhendifferenzen wurden mit dem Altimeter gemessen und können daher von den tatsächlich zurückgelegten etwas abweichen.

Ausrüstung: das Uebliche, zusätzlich Kocher, Essen für mehrere Tage, leichter Schlafsack, Matte, Leichtpickel und-steigeisen, nach dem Motto 
so viel wie nötig, so wenig wie möglich, indem jedes Komfortplus auf Kosten des Wandergenuss' geht.

"...Die Stimme wars des edelsten der Ströme,
Des freigeborenen Rheins ,
Und anderes hoffte der, als droben von den Brüdern,
Dem Tessin und dem Rhodanus
Er schied und wandern wollt', und ungeduldig ihn
Nach Asia trieb die königliche Seele...

...Ein Räthsel ist Reinentsprungenes. Auch
Der Gesang kaum darf es enthüllen...."
(Friedrich Hölderlin, Der Rhein)

(Auf der Heimreise von seiner Hauslehrerstelle in Bordeaux erreichte Hölderlin die Nachricht vom Tode seiner Geliebten Suzette Gontard - Diotima -, und er beschloss, nicht nach Deutschland zurückzukehren, sondern durch die Schweiz und Italien nach Griechenland weiterzuwandern. Ueber Grimsel, Furka, Oberalp und Lukmanier gelangte er zu Fuss nach Olivone und dem Brenno entlang bis Aquila, wo er wegen der drohenden Gefahr von Wegelagerern kehrt machte und über die Greina den Rückzug antrat. In der Rheinschlucht wurde er von einem Säumerknecht hinterrücks angefallen und niedergeschlagen, bevor er im Frühsommer 1802 in verwirrtem und verwahrlostem Zustand die deutsche Grenze überschritt. Nach mündlichen Angaben von D.E. Sattler, Herausgeber der Frankfurter Ausgabe, 1975-2006, anlässlich eines Konzertrezitals im Rahmen des Lucerne Festivals 2011. Hölderlins Pseudonym "Scardanelli", mit dem er seine späten Gedichte unterzeichnete, ist vom kleinen Dorf Scardanal zwischen Versam und Bonaduz, nahe dem Zusammenfluss von Vorder- und Hinterrhein, abgeleitet.)

Tourengänger: lorenzo
Communities: Ticino Selvaggio


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Kommentare (7)


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TeamMoomin hat gesagt: Toll!!!!!
Gesendet am 1. Juli 2011 um 09:31
Hallo Lorenzo

Super Tour hast du da gemacht, da wird man echt neidisch. Seit ich diesen Frühling das erse mal im Hinterrheintal war habe ich mich verliebt in diese Gegend, sie ist so unglaublich schön!
Echt eine Nachahmung wert, grandios!

Grüsse Oli und Moomin

lorenzo hat gesagt: RE:Toll!!!!!
Gesendet am 1. Juli 2011 um 10:24
Hallo Oli und Moomin

vielen Dank für eure Rückmeldung, mir ging es genau gleich wie euch!
Die Tour ist wirklich lohnend und gut machbar. Wichtig sind einfach eine gute Vorbereitung und mindestens drei, vier Tage stabiles schönes Wetter.

Viel Vergnügen!

lorenzo

Hurluberlu hat gesagt: RE:Toll!!!!!
Gesendet am 12. Juli 2011 um 20:29
Quel retour en beauté, sauvage à souhait!
On en redemande pour tout l'été.
Bravissimo Lorenzo!

lorenzo hat gesagt: RE:Toll!!!!!
Gesendet am 12. Juli 2011 um 22:47
Merci edwood, tu as raison: c'était tout simplement merveilleux!
Salutations lorenzo

jimmy hat gesagt: Alta Malvaglia
Gesendet am 12. Juli 2011 um 21:38
Herrlich!
Deine Fotos dienen mir als Vorarbeit für Ende August... Du hörst von mir!
Andreas

lorenzo hat gesagt: RE:Alta Malvaglia
Gesendet am 12. Juli 2011 um 22:56
Hallo Andreas
da bin ich aber gespannt! Ende August ist ja meistens eine gute Zeit.
Grüsse lorenzo

jimmy hat gesagt: Adula
Gesendet am 18. September 2011 um 19:29
Unter http://www.hikr.org/tour/post40475.html
die versprochene "Vertiefung"
Andreas


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