"Was willst Du denn hier?!" - Hausfriedensbruch am Sewenstock


Publiziert von dyanarka , 11. Februar 2010 um 19:57.

Region: Welt » Schweiz » Uri
Tour Datum:25 Mai 2009
Wandern Schwierigkeit: T4- - Alpinwandern
Hochtouren Schwierigkeit: WS+
Wegpunkte:
Geo-Tags: CH-UR 
Zeitbedarf: 4:00
Aufstieg: 850 m
Abstieg: 850 m
Strecke:Gitzchrummenflue-Sewenhütte-Wieleschchänel-Ruederstock-Sewenalp-Sellflue
Zufahrt zum Ausgangspunkt:Autobahn Luzern-Bellinzona. Abfahrt "Wassen" (Sustenpass), Parkplatz "Gitzichrummenflue" bei Punkt 1613m (bei Brücke über Gorezmettlenbach).
Unterkunftmöglichkeiten:Wassen, Altdorf

Das war mal wieder einer der Tage: Die Wohnung zu eng, die Luft zu stickig, die Stadt zu grau. Also raus aus der Bude, und zwar jetzt. Ganz spontan ab in die Berge. Aber: Wohin? Nichts geplant, nichts gepackt. Aber ein Anfall von Lust auf Wildnis. Schnell, roh, unmittelbar.
Keine grosse Aktion, eher ein extravaganter Kletterspaziergang irgendwo abseits des Üblichen. Daher: nur Jogginggürtel, Mini-Imbiss, Kamera, Windjacke und Alustock. Und ab mit dem Auto und einer Ladung Karten in den Kanton Uri. Fahren...schauen...wohin jetzt mal?
Vorbei an Altdorf und - endlich eine klare Führung der Intuition: Rauf zum Sustenpass! Klar, erst Mai, und nach dem langen Winter wirds wohl noch viel Schnee haben da oben. Kann sein dass, .... Genau: In Wassen der Hinweis "Sustenpass gesperrt". Alles klar...also fahren soweit es geht und dann zu Fuss ab nach oben, irgenwohin.
Bei der Brücke über den Gorezmettlenbach schwappt das Panorama des mächtigen Grassengrats derart wuchtig ins Auto, dass ich anhalten muss. Genau: Hier ist richtig, ab hier gehts los. Ein Blick auf die Karte: Schafschijen, Hochsewen, Sewenstock... Mal sehen, ist schon kurz nach 12, für die ganz "Grossen"  reichts wohl nicht mehr, also erst mal rauf zur Sewenhütte. Die Gegend hier ist neu für mich.War bisher nur einmal auf dem Pass oben, am Gletscherseee und in der Nähe der Tierberglihütte. Diese Talseite wird also heute erforscht. Und los gehts...
Sehr schöner Weg rauf zur Hütte, kurze Umrundung derselben, atemberaubende Aussicht von der Terasse auf die +3000er gegenüber: Fleckistock, Chüeplanggenstock, Stucklistock. Mehrere Gletscher klammern sich unterhalb der Gipfel fest. Ein wahrhaft hochalpines Panorama. Das Maiental ist wirklich ein grandioses Tal. Unten idyllisch, oben wild und majestätisch, mit charaktervollen Bergspitzen rundum.
Von der Hütte zieht es mich nach Norden, hin zum Chli Spannort, hin zu dieser prächtig leuchtenden Gipfelwand, die mich schon unten hat anhalten lassen. Meine Vermutung: Irgendeinen Weg wirds dahinten hin schon haben, auch wenn auf der Karte nichts vermerkt ist. Die Richtung "zieht", also werden schon früher Leute dort lang gegangen sein. Und los...
Tatsächlich: Ein alter Pfad schnörkelt durch den Schotter Richtung Norden. Dann eine Trockenrinne: Der Wieleschchänel. Und eine angedeutete Gehspur nach oben. Ein echte Weg? Tierpfad? Egal. Rauf. Weiss auch nicht wieso...
Sportliches Querfeldeinlaufkrabbelklettern ist angesagt. Immer steiler wirds. Schroff richten sich die Felstürme und vom Wetter zerhackten Wände des Sewenstocks vor mir auf. Brauche beide Hände, um weiter nach oben zu kommen. Und jetzt: war da nicht ein Schrei? Gemsen? Klang aber anders. Und wieder: Gröööhl! Zu sehen ist nichts. Also erst mal weiter. Da! Eine Bewegung im Fels, nur aus dem Augenwinkel wahrgenommen. Uiii:  Ein Steinbock! Toll ! Mein erster in freier Wildbahn!
Jetzt noch gaaaanz langsam die Kamera rausholen... Aber der läuft ja gar nicht weg? Steht wie ein Stein der Bock und: fixiert mich haargenau. Äh... muss ich jetzt Angst haben? Droht der? Mein Instinkt meldet sich zu Wort: DU bist hier das fremde Tier im Revier, aufgepasst!
Nun, erst mal ein paar Fotos. Wow, wie gut der getarnt ist. Ohne seinen Ruf wär ich glatt an ihm vorbei gestolpert. Vorsichtig steige ich weiter und rede ihm gut zu, erkläre ihm, was er für ein schöner sei, beschwichtige ihn, dass ich nur kurz vorbei will und völlig harmlos bin. Nur ein kleiner Städter von unten, völlig unbedeutend und lieb. Sowas halt.
Er geht einen Schritt, zeigt sich von der Seite, zeigt seine Hörner und tut völlig desinteressiert, aber, dass weiss sogar der "kleine Städter" hier: der kriegt jetzt ALLES GENAU  MIT.
Und plötzlich: Neugierige behörnte Gesichter schauen vom Fels oben runter. Ein grosses und ein ganz kleines Gesicht. Nein, wie herzig: Eine Steinbock-Family!  Deshalb der Warnschrei: "Achtung, Du stehst in unserem Vorgarten!"
Mein Instinkt schiebt noch eine Belehrung nach: "Alles, was Du jetzt tust kann auch schwer in die Hose gehen. Das hier ist eine Begegnung von Tier zu Tier. Falls du jetzt auf den wunderbaren Einfall kommst, das kleine Steinböckli mit dem Szenenmodus von nahem porträtieren zu wollen, könnte es sein, dass man dich schwer auf die Hörner nimmt. Verhalte Dich jetzt also besser wie ein Tier - und weniger wie ein Streichelzoo-Professor!"
Genau.Mach ich. Danke.
Vorsichtig kraxelnd und weiter nett schwatzend, krauche ich an den Hübschen vorbei. Natürlich nicht, ohne alle paar Meter stehenzubleiben, zu loben, und mit meiner kleinen Lumix zu fotografieren ("Herr, bitte bitte jetzt und hier ein 12fach Zoom reinzaubern!").
Langsam, und unter den aufmerksamen Blicken der gehörnten Models, entferne ich mich gipfelwärts. Steiler war grad. Jetzt wirds richtig steil. Und exponiert. Die Wegspur schrappt gehörig über eine dem Wind ausgesetzte Flanke. Sehr windig! Bei Höhe 2450m gebe ich auf. Das ist mir zu gefährlich hier. Zu abseitig. Zumal jetzt erste Schneeflächen auftauchen. Nur Shirt und Windjäckchen sind mir zu gewagt, egal, ich bin rundum glücklich!
Zurück an meiner Steinbock-Jury vorbei ("Was'n das für'n behindertes Tier? Klettert unbeholfen wie ein fusskranker Wurm durch unsere Wohnung. Also Tiere gibts, das is' ja nich' mit zum ansehen!") krabbel ich quer um den Sewenchegel herum und dann direkt runter durch den Schnee  zum halb gefrorenen See der Sewenalp. Traumhaft idyllisch hier. . Oben leuchtet der Bächenstock. Von halber Höhe stürzen sich Wasserfälle zum Nordufer. Ich bleibe, geniesse, fotografiere... und mache mich auf den Rückweg. Renne den langen Grat zur Sellflue hinab, geniesse noch ein letztes Mal vor dem langen Waldstück die Aussicht auf Talgrund und Gletscher und will, wie immer, gar nicht mehr weg....


Tourengänger: dyanarka


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Kommentare (3)


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tschiin76 hat gesagt: Echt toller Bericht!
Gesendet am 12. Februar 2010 um 10:56
Habe ich mit grossem Interesse und einigen Lachern gelesen! Danke!

babu hat gesagt: Konnte mir ein
Gesendet am 12. Februar 2010 um 15:06
schmunzeln auch nicht verkneifen...! Herrlicher szenenbeschrieb zwischen "städter" und "steinbock-jury"...;-)

dyanarka hat gesagt: War wirklich tierisch....
Gesendet am 13. Februar 2010 um 07:54
Danke für eure netten Kommentare. Es war auch wirklich eine sehr spezielle Situation: Hab mich noch nie so unerwartet "tierisch" gefühlt. Wie ein unbeholfener Eindringling, der jetzt auf die Gunst der "Gehörnten"angewiesen ist. Es war schon klasse zu sehen, wie der "Alte", der Chef der Familiy sozusagen die Vorhut bildet, die Lage checkt und erst mal zeigt, was Sache ist - und dann kommen Mutter und Kind und "gückseln" neugierig, was da abgeht und wie Papa das managt.
Dachte bislang, Steinböcke lebe in Rudeln. Hab in dieser Stunde, die ich da aufmerksam am Hang rumkroch, keine weiteren als diese drei gesehen.

Grüssli

dyanarka


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