Bedauerlicherweise werde ich keine Cisalpino mehr aus der Höhe fotografieren können


Publiziert von Henrik , 28. September 2009 um 14:41.

Region: Welt » Schweiz » Tessin » Bellinzonese
Tour Datum:25 September 2009
Wandern Schwierigkeit: T2 - Bergwandern
Wegpunkte:
Geo-Tags: CH-TI   Gruppo Pizzo del Sole 
Zeitbedarf: 2 Tage
Aufstieg: 1100 m
Abstieg: 1900 m
Strecke:Ritom-See - Cari - Sobrio
Zufahrt zum Ausgangspunkt:ÖV
Zufahrt zum Ankunftspunkt:ÖV
Unterkunftmöglichkeiten:Pensione Cari Osteria Ambrogini Beide preislich sehr zu empfehlen
Kartennummer:ivs-gis

 

                  
“Bedauerlicherweise werde ich keine Cisalpino mehr aus der Höhe fotografieren können...“ – nein, ich teile wohl wie die meisten Bahnfahrer die Erleichterung über das Ende der Aera Cisalpino, aber ich teile auch die Befürchtungen von laponia41.
 
An der Talstation der Ritombahn stolperte kurz nach 12 Uhr eine sichtlich müde Schulklasse dem Kiosk entgegen, der alsbald in Beschlag genommen wurde. Einer der Schüler stiess einen hörbaren Seufzer aus: „...endlich wieder in der Zivilisation angekommen“ – es war ihnen anzusehen, wo sie unterwegs gewesen sein mussten. Claudia und ich suchten genau die Abkehr davon: weg vom Lärm – hinein in die Stille. Wir waren die einzigsten Fahrgäste hinauf zur Bergstation, um 12.15.
 
Die am 11. November 1926 als Werksbahn eröffnete Gelmerbahn dient seit dem 4. August 2001 als touristische Werksbahn. Sie führt von der Talstation Handeck (1400 m ü. M.) zur Bergstation Gelmersee (1850 m ü. M.) und ist mit 106 Prozent Steigung die steilste Standseilbahn der Welt. Zum Vergleich: Die Ritombahn bringt es «nur» auf 87,8 Prozent. Eine besondere Attraktion ist die im Jahre 1921 ursprünglich für den Kraftwerkbau erstellte und 2003 gründlich renovierte Ritombahn, die mit einer Steigung von 87,8% auf einer Länge von lediglich 1370 Metern eine Höhendifferenz von fast 800 Metern überwindet. Lange Zeit war es üblich, dass im Offiziellen Kursbuch nur Seilbahnen aufgenommen wurden, die über eine eidgenössische Konzession verfügten.
 
Die wenigen Meter bis zum Stausee verflogen schnell – wir waren eingestandenermassen etwas spät dran, das rächte sich später. Oberhalb der Beiz kamen die Stöcke aus den Rucksäcken, die Fleecejacken dagegen hinein. Über dem Gotthardmassiv bauten sich schwere Wolken auf, Dunst lag sowohl unten im Tal wie Richtung Lukmanier. Hier beginnt der Sentiero dei monti der Strada alta. Ihn wollten wir begehen – ein Wunsch, um den Claudia bat, als wir vor drei Wochen in Cès den herrlichen Joghurt löffelten. Ein frischer Wind verhiess angenehmes Wandern. Sanft steigt der meist hervorragend markierte Pfad an, schon bald glauben wir uns nach Schweden versetzt (Dank laponia41), danach auf grossen Steinplatten zum höchsten Punkt des Sentiero dei monti: Passo Forca auf 2112. Es roch nach Regen – den wir hofften ja nicht erleben zu müssen. Hier fällt der Weg satte 650 m hinunter nach Cassine di Catto – teils in Serpentinen, teils in langen Absätzen durch weichen Waldboden, hin und wieder felsig unterlegt, nirgends ausgesetzt, manchmal etwas ruppig, reiche Flora, aber kaum irgendwelche Vogelstimmen. Das einzige störende Geräusch kommt aus dem Tal: die Autobahn! In Catto stehen am Wegweiser drei ausgemusterte Gartenstühle, die wir gleich benutzten, um uns zu beratschlagen. Nebenan wird ein Rustico gerade winterfest gemacht, Holzstapel mit Blachen bedeckt – etwas neugieriges Jungvieh gesellte sich zu uns. Das Wegschild verheisst uns nach Cari gerade mal etwas mehr als 2 ½ h – locker! Glaubten wir. Wir steigen bedächtig hinauf zum Pt. 1720 bei Boscaiöu, geniessen etwas später auf einem „Bödeli“ die etwas verhinderte Sicht durch den Dunst ins Tal und rasten ganz kurz: Stehpause. Ein Blick auf die Uhr zeigt, dass wir weit hinter der Zeitvorgabe liegen [obwohl wir beide der Meinung sind, gute Läufer zu sein!]. Längere Zeit auf gleichbleibender Höhe – danach kommt der "Gesundheitspfad" auf weichem Waldboden mit Abertausenden von Tannenzapfen und Milliarden von Lärchennadeln - trotz Felsen links und rechts wähnten wir uns auf einer Finnenbahn! Bei Cassinella treten wir auf die weiten Weideflächen unterhalb Sompréi, kommen danach auf einen Tarmac, dem wir folgen bis oberhalb Prédelp (das im Sommer vom Linienbus bedient wird). Bei Tic Cattaneo weiter durch den Wald zur Capanna Prodör (nur an WE besetzt, kein Winterraum) und steigen dort hinunter zur Strasse, die nach Cari führt – das Chamonix des Tessin’, ein Ort fast ohne Charme! Der letzte Kilometer auf der Strasse wirkte unendlich lang – und wir haben das „Zeitbudget“ um über 1 ½ h überzogen: das schlug uns aufs Gemüt. Noch spätabends fragten wir uns einmal mehr, ob’s an uns lag oder wie oft gemunkelt an den oft realitätsfremden Zeitangaben der Tessiner Wanderwege...die beiden reservierten Doppelzimmer, die wir als Einzelreisende nutzen konnten, freuten uns allemal, wir waren die einzigsten Wandergäste; hingegen zum Essen war die Pensione Cari abends bis auf den letzten Platz belegt. Die Holzofenpizza schmeckte vorzüglich.
 
Der Samstagmorgen präsentierte sich auf der Terrasse der Pension frisch – aus Richtung Süden drang helles Licht durch die Wolken, vielleicht heute etwas mehr Sonne als gestern Freitag? Bereits um neun schulterten wir die Rucksäcke, stiegen ab nach Molare, entlang des Waldrandes oberhalb der Strasse. Molare gefiel uns schon weit besser als das funktionelle Cari! Wir wanderten alsbald auf einem grünen Teppich zum Pt. 1565, wo der Weg abzweigt nach Leontica über den Bassa di Nara http://www.wandersite.ch/Tageswanderung/477_Tessin.html. Über Stock und Stein sprichwörtlich fällt der Weg etwas ab, Wurzelstöcke noch und noch, etwas Vorsicht ist geboten, jetzt am frühen Morgen, wo diese etwas rutschig sein können. Matengo und Cassin mit seinem bei klaren Sichtverhältnissen möglichen Panoramablick scheinen sich auf einen Anlass vorzubereiten – wir haben aber nicht nachgefragt: Menschen spazieren auf der Dorfstrasse an uns vorbei, mit Weinflaschen in den Händen...In Cassin rasten wir – Claudia möchte hier ihr Zmorge zu sich nehmen. Der Wegweiser neben dem Bildstock veranschlagt nach Sobrio 4 h 50 min – es sei vorweggenommen: wir brauchten einiges mehr! Am Übergang des Gebirgsbaches Froda stehen riesige Baumaschinen – wüstes Wurzelwerk liegt aufgetürmt herum, wir vermuten eine Lawine, die die gut ausgebaute Strasse hier verschüttet haben muss – hingegen wirkt der kleine Weiler Aldescio wie eine Oase, entrückt, der Bodennebel lässt uns etwas erschaudern. Dieser Teil des Sentiero führt durch eine hochnordisch anmutende Landschaft: wären mir hier Rentiere begegnet, ich wär’ nicht überrascht gewesen oder Trolle! Unzählige Fliegenpilze stehen am Wegesrand; die Pilzsaison wird eingeläutet sein, denn kurz vor Aldescio begegneten uns Einheimische mit grossen Flechtkörben. Oberhalb des Sasso Bello (Pt. 1674) ist der Weg für ein paar Meter etwas ausgesetzt und ruppig – aber immer top markiert. Das Liebliche von vorhin wird abgelöst durch hochstämmige Monokulturen der Marke Tanne! Fragéira mit 1713 m ist für diesen Teil II des Sentiero der höchste Punkt – ein wenig trostlos die Umgebung, aber immerhin sogar WE-bewohnt, es räuchelt aus einem Kamin. Bodennebel schwappt uns entgegen, der sogar die Fleecejacken nötig macht! In Monte Angone endet ein Tarmac, der in Anzonico beginnt: hier stehen in der Dorfmitte auch mobile Melkanlagen, das Wochenende wird gerade zelebriert mit Wagenwaschen, Gartenpflege und Holzhacken. Auf gleicher Höhe verbleibend, erstreckt sich zu gehen eher mühsam eine Strasse (z. Glück ungeteert) bis zur Alp Suaggia, wo sich überraschenderweise ein kleines Restaurant findet, das mit sauber gearbeitetem Holzmobiliar zu einem Espresso einlädt: Claudia verneint die Frage nicht, den Espresso mit einem Schuss Grappa zu geniessen. Ein Jagdhund saust zwischen unseren Beinen hindurch und verschwindet im Wald, ein schlaksiger, älterer Mann tritt aus dem nahen Wald weglos auf den Ort zu und betritt laut grüssend das Ristorante. Danach steigen wir etwas an über einen gepflegten Waldweg, kommen durch die Wasserschutzzone (Bui del Pecoraio) zur nächsten Alp Singiasco, die im Nebel kaum zu erkennen ist. Hier zeigt ein Wegschild, dass nur 5 (...) Minuten weiter unten der nächste grosse Wegweiser kommen wird! Ich weiss nicht, ob sich die Tessiner Wanderwege mit Usain Bolt messen...also für die 400 Meter brauchten wir knapp 15 Minuten....Man nehme danach den Waldpfad links nach Fararenca, folge der Teerstrasse bis zum nächsten Weiler Pascorasc (Punkt 1586) - wir befinden uns auf einem gefestigten Weg. Nach dem letzten Haus kommt ein grosser Stein, auf dem der Wegweiser (weiss-rot-weiss) aufgemalt ist. Erneut ein wenig ansteigen, erreicht man den Weiler Puscett mit dem kitschig wirkenden eingefassten Tümpel mit den Holzenten (Pt. 1678). Dort weist das Schild nach Sobrio via Cascine...der Nachteil, man wandert lange auf einer Strasse bis nach Usc! Man nehme stattdessen gleich hinter dem Wegweiser den Weg rechts hinunter, auf dem alten Pfad, wo wir sehr verblasste Markierungen auf den Steinen entdecken. Der Weg ist eine einzige Finnenbahn, wie wohltuend. Am Waldrand angekommen ein paar Häuser, aber keine Markierungen. Man muss aber an einem alten grünen Jeep vorbeigekommen sein, der links am Weg steht - nach diesem "Ereignis" 50 m später ins offene Feld treten, abschüssig und den untern Weg fokussieren (Strasse Usc - Puscett), dabei ist ein hoher Zaun zu überwinden (Achtung Baustelle). Nach der roten Sitzbank etwa 200 m weiter unmarkierte Abzweigung nach links (Trampelpfad) nach Usc. Mitten im Weiler staune einer über eine phantastische Markierung inkl. Wegweiser - sieht alles frisch aus! Es ist der "Sentiero vecchio" direkt nach Sobrio. Im Zickzack geht es durch den Weiler bis zum letzten Haus, wo rechts der Abstieg beginnt (Bodenmarkierung). Etwas ruppig und steil, aber gut angelegt, wo einige Stufen nach der Kapelle NEU der Weg statt rechts DEUTLICH nach links zeigt...das ist der alte Weg...ihm folgen kommt man nicht unter der Militär- und Post-Seilbahn vorbei (Matro), stattdessen folgt man der tiefen Schlucht, an dessen Ende (September 2009) umfangreiche Bauarbeiten am Bachbett einzusehen sind. Sobrio ist erreicht – das Dorf trägt in seinem Wappen eine Hauskatze, was soviel heisst wie Gemütlichkeit pur. Wir wurden herzlich empfangen durch die beiden Gastgeberinnen in der Osteria Ambrogini, die mich von früheren Besuchen gleich wiedererkannten – fassten den Speiseplan für den Abend zusammen und führten uns auf die reservierten Zimmer, zum Glück ohne TV. Das schätzten wir besonders auch im Restaurant. Zuerst wurde ein Tessinerteller und Salat gereicht, danach gab es Hirsch und Kartoffeln, im dritten Gang ein Tärtchen mit Birnen und zum Schluss ein Espresso. Die Gäste waren aus der Deutschschweiz aber auch aus der Romandie. Die Gastgeberinnen der Osteria verdienen meine eigenen 5 Sterne!
 
In Cari stand auf dem Wegweiser für Sobrio 5 h 30 min – unsere Zeit acht Stunden ohne Pausen. Welche Erfahrungen haben hikrs. mit den Tessiner Wegzeiten?
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Tourengänger: Henrik


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Kommentare (2)


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laponia41 hat gesagt: Strada altissima
Gesendet am 1. Oktober 2009 um 20:31
Erinnert mich alles sehr an eine Tour, die ich vor Jahrzehnten mit meiner Frau gemacht habe: Airolo - Cadlimohütte - Passo del Sole - Passo di Predelp - Cari - Anzonico - Biasca. Eine etwas sanftere Variante planen wir in diesem Herbst - natürlich mit Übernachtung bei Norma in Sobrio!

Hoffe, dich am Hikr-Treffen im Engadin endlich live zu sehen!

Saluti Peter


bulbiferum hat gesagt:
Gesendet am 1. Oktober 2009 um 21:16
Hallo Henrik
Ich habe mit den Zeitangaben im Tessin schon oft die gleichen Erfahrungen gemacht.

Viele Grüsse, Markus


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