Plinio Martini beschreibt in einem Artikel in der Gazette „Pro Valle Maggia“ (Zusammenfassung erhältlich im Museum in Cevio, welches ich wärmstens empfehle) diesen Aufstieg wie folgt:
(…) Der Zweite steigt weiter rechts an unglaublichem Ort von Band zu Band hinauf – am Rande des Vorsprunges, welcher direkt gegenüber von Ritorto liegt –, um noch Piegn di Cavai zu erreichen; er endet mit einer Serie „unghie“ („Fingernägel“,eingeschlagene Tritte), sieben Zentimeter breit und etwa zwei tief, in einen blanken und steilen Steinbuckel eingeritzt. Ich habe noch keine Person angetroffen, welche diese Passage kennt, welcher mir mein Sohn Luca lehrte, welche er während der Pilzsuche entdeckt hat (…)
Nora und Aldo Cattaneo beschreiben die gleiche Stelle wie folgt:
Wie auf Seite 67 (Chroniken) erwähnt, ist die Corona dei Cristiani ein von allen gemiedenes Gebiet, da überaus herb. Darüber hinaus Schauplatz des Todessturzes der Faustina, eine robuste Frau, Mutter von zwölf Kindern, welche sich hier aufgehalten hat, um ein bisschen Heu zu ernten.(…)Man wendet nach links und ersteigt den Wald, quasi direkt bis zu den darüber liegenden Felsen, bis man sich total zwischen Felswänden eingeschlossen befindet. Als Ausweg zeigt sich ein glatter und exponierter Felssporn aus Granit in Form einer Nase, etwa zehn Meter hoch, welcher unüberwindbar erscheint. Stattdessen, genau betrachtet, erblickt man im glatten Granit Einritzungen, ziemlich stark die ersten, viel weniger diejenigen oben, daraus sich eine vage Treppe ergibt.
Tourenbeschreibung
Nach diesen zwei Beschreibungen stand dieser Aufstieg auf meiner mehrjährigen Wunschliste. Und heute ist es soweit. Wieder alles bestens vorbereitet und studiert. Nur der exakte Ort der Schlüsselstelle – der Felssporn in Nasenform – konnte ich nicht mit absoluter Sicherheit eruieren.
Ich überquere auf der recht federnden Eisenbrücke die Bavona und steche geradeaus in den Wald hinein und steige in Falllinie bis zu den Felsen auf etwa 760m. Es liegt im obersten Teil noch harter aber gut begehbarer Lawinenschnee, welchen ich nach rechts traversiere und den Weg sofort erkenne. Der Winter hat seine Spuren hinterlassen. Bäume und Büsche liegen quer über den Weg. Wiederum tue ich mein Bestes und räume weg, soviel ich kann. Dieses Mal habe ich sogar eine 50cm lange Bogensäge dabei. Nachdem ich den Zugang zum Weg frei gemacht habe, steige ich im bewaldeten Gebiet in logischer Folge nach rechts hoch bis unterhalb der Felswand auf etwa 870m. Ich quere quasi horizontal zwei Einschnitte bis zu einem ganz derben dritten. Hier ist gut sichtbar, dass die horizontale Traverse abgeschlossen ist. Ein marodes Seil hängt über einen Felsen herunter und gibt eher die Richtung an, als dass es sich als zuverlässige Sicherung eignen würde. Jedenfalls habe ich die Probe aufs Exempel nicht gemacht (Klettergrad II). Jetzt steige ich ziemlich steil hinauf bis auf etwa 950m – eher nach rechts haltend – und erreiche weniger steile aber riskantere und mit Laub überdeckte Abhänge mit faszinierendem Tiefblick nach Ritorto.
Plötzlich stehe ich in einem Amphitheater mit lediglich zwei Möglichkeiten. Horizontal weiter soll nach Angaben von Cattaneo die Umgehung der Schlüsselstelle sein. Links hoch führt ein andeutungsweiser Pfad durch viel Fallholz hindurch direkt in den Kessel hinein. Ich räume verbissen die abgebrochenen Buchengipfel weg und steige weiter bis auf etwa 1000m, wo ich mich auf einem ebenen Boden inmitten von Felswänden befinde.
Und hier gibt es nur einen Ausgang: Ein riesengrosser, vom Urgletscher polierter, zehn Meter hoher, Gneisklotz in Form einer Stupsnase. Davor liegen einige primitive aufeinandergeschichtete Steine als Steighilfe. Ein breites Querband und zwei grossflächige Einschnitte ermöglichen ein Erklettern der ersten zwei Meter. Dann folgen drei steile Meter mit sieben winzig kleinen, teils versetzten Einschnitten: Maximale Grösse = 3 cm x 12 cm, einige weisen keine 10 cm2 Auflagefläche aus. Ich versuche eine Seilsicherung zu erstellen, indem ich mithilfe eines kleinen Steines das Seil um das Bäumchen oberhalb der Nase legen will. Es muss echt grotesk aussehen: Auf dem mittleren Podest stehend, linke Hand am Werfen, rechte am Festhalten des Seilendes. Und dies sehr lange. Absolute Witznummer! Ohne Erfolg.
Irgendwann entschliesse ich mich, etwas zu trinken und die Situation cool zu beurteilen.
Ich nehme allen meinen Mut zusammen und sage mir, dass ich diese Stelle rein technisch meistern kann. Ein Klettergrad II, exponiert. Keine Haltegriffe, nur knappe Fussauflagen. Was dafür spricht: Trockener und griffiger Gneis ohne schwarzen Pilzbefall. Ich befestige das Seil am Rucksack – welchen ich vorerst unten lasse – und das andere Ende an meinem Hosengurt.
Zuerst probiere ich die ersten Einschnitte, welche noch einigermassen gross sind. Mit den Händen halte ich meinen Oberkörper aufrecht, damit möglichst viel Gewicht auf die Schuhe kommt. Und siehe da, wenn man mit dem richtigen Fuss beginnt, geht alles ganz automatisch. Die Einschnitte sind sehr intelligent angebracht.
Aufatmen. Geschafft!
Am Bäumchen angelehnt ziehe ich meinen Rucksack hoch, ziehe ihn vorsichtig an, und setze den Weg gegen WSW fort, um möglichst schnell aus der Gefahrenzone herauszukommen. 50m weiter oben quere ich eine Trockenmauer. Von dort gehen Wegspuren weiter über diverse Plateaus, welche von ehemaligen Kohlenmeilern herrühren. Immer schön steigend zu einem Quertälchen mit rechts abschliessender Rampe, welche zum Punkt 1084 führt. Dort stehen Ruinen und der Wald weicht einer lieblichen Wiese mit zwei markanten Steinklötzen. Beim zweiten nach den Ruinen finde ich den gut sichtbaren Weg nach Puntid di La hinunter. Jetzt fühle ich mich sicher und kann mein Menü 1 verzehren, diesmal mit Jurawaffeln, Schokoladefüllung.
Nach ausgiebiger Rast steige ich nach Puntid hinunter. Paradieslilien empfangen mich und bestätigen, dass ich das Paradies gefunden habe. Die Brücke von Puntid hat mich etwas schief angeschaut, als wolle sie sagen: „Bist Du schon wieder hier?“ Aber sie sieht einfach immer toll aus, auch von hinten unten. Diesmal mit Paradieslilien.
Ganz gemütlich und überglücklich schlendere ich nach Foroglio hinunter, begleitet vom tosenden Wasserfall. Weiter über die Brücke und nach wenigen Metern nach rechts dem bezeichneten Wanderweg entlang durch traumhaftes Schwemmland der Bavona nach Ritorta. Dort schaue ich noch einmal hinauf zur Via del Naso. Mit gewissem Stolz sende ich ein sms an meine Gattin: „Naso perfetto“!
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