Jedes Kind, jeden Tag einen Bückling.


Publiziert von lainari , 20. August 2017 um 20:53.

Region: Welt » Tschechien » Krušné hory
Tour Datum:30 Juli 2017
Wandern Schwierigkeit: T2 - Bergwandern
Wegpunkte:
Zeitbedarf: 4:45
Aufstieg: 220 m
Abstieg: 220 m
Strecke:15,5 km
Zufahrt zum Ausgangspunkt:Auto oder Zug der ČD bis Kovářská (nur am Wochenende)
Kartennummer:1:50.000, KČT Nr. 4 Krušné hory Karlovarsko

Zur einstigen Fischkonserven-Grossindustrie A. Kalla
 
Der Untertitel sollte indes für Klarheit gesorgt haben, dass es sich im folgenden Tourenbericht nicht um die Beschreibung fragwürdiger Erziehungsmethoden in einem katholischen Knabenchor handelt. Aber um was dann - lainari fährt ans Meer? Denkste! Die einstige Fischkonserven-Grossindustrie A. Kalla residierte branchenunüblich im Gebirge auf der böhmischen Seite des Erzgebirgskamms und war zu ihrer Zeit laut Eigenwerbung die größte Firma dieser Art des Kontinents. Aus ihrer Werbung stammt auch der als Überschrift verwendete Slogan. Mehr zur Firma an passender Stelle in der nachfolgenden Tourenbeschreibung.
 
Wieder einmal soll es dampfig warm und gewittrig werden. Da bleibt nur die Flucht nach oben, so weit hinauf wie es hier in der Region eben geht - auf den Kamm des Erzgebirges. Am zeitigen Morgen starte ich meine Anreise. Der Sonnenaufgang kommt wegen eines blankgeputzten Himmels recht unspektakulär daher. Ohne Verzögerungen oder Hindernisse komme zügig voran und erreiche meinen heutigen Zielort Kovářská (Schmiedeberg). Nach dem die Höhepunkte der Region schon von pika8x14 „abgegrast“ wurden, richte ich meine Nase gen Boden und folge historischen Spuren. Der im 14. Jh. entstandene Ort Schmiedeberg blickt auf eine lange Tradition der Eisenverarbeitung zurück. Die dazu verwendeten Erze wurden in der weiteren Umgebung gewonnen. Der Niedergang dürfte mit der beginnenden industriellen Eisenerzeugung in der Mitte des 19. Jh. und anderswo günstigeren Produktionsbedingungen in Zusammenhang stehen. Die hier lebenden Deutschböhmer schafften jedoch einen Neubeginn hin zu einem prosperierenden Gemeinwesen. Wesentlich soll sich dabei der Anschluss an die Eisenbahn im Jahre 1872 ausgewirkt haben.
 
Ich fahre bis zum Bahnhof Kovářská (žst) und stelle dort das Auto ab. Auf einem Sträßchen laufe ich dann Richtung Westen bis zu einer Brücke und biege dort nach links. Eine kurze Zeit folge ich einer unscheinbaren öffentlichen Fahrstraße. An einer markanten Kehre halte mich geradeaus und begehe in der Folge einen Forstweg. Links davon mache ich einen alten Antriebsgraben und einen einstigen Teichdamm im bewaldeten Gelände aus. Diese könnten mit dem später besuchten Kalkofen in Zusammenhang stehen. Am Weg befinden sich in größeren Abständen drei grob gezimmerte Volieren, die vermutlich einem Auswilderungsversuch (evtl. Birkhühner) gedient haben. Nach längerer Gehdauer macht der Forstweg einen Bogen und trifft auf eine Kreuzung mit fünf abgehenden Wegen. Am zweiten nach rechts finde ich einen alten Antriebsgraben und einen Mauerrest, der auf die Einschicht Drátovna (Drahtmühle) hinweist. Hier wurde früher aus dem in Schmiedeberg gewonnenen Eisen Draht gezogen. Die vermuteten Kellerreste bleiben mir zunächst verborgen. Ich folge etwas mühsam dem zunehmend verwachsenen Graben bis zu seinem Ausgangspunkt am Bach Černá voda (Schwarzwasser) und überquere diesen. Da das Vorankommen im hohen Gras schwierig ist, gehe ich den gegenüberliegenden Talhang hinauf und halte im Offenland auf einen vermuteten Weg zu. Dieser wurde jüngst von einem Fahrzeug befahren und bietet angenehmeres Gehen. Nun schreite ich auf einen Höhenrücken mit einem Kreuz zu. Von hier hat man einen schönen Ausblick auf den Fichtelberg und den Klínovec (Keilberg). Der Platz bietet sich für eine kleine Pause an. Danach kehre ich neben einer tiefen Weghohle in die Talmulde zurück und komme zu den Ruinen der Einschicht Königův mlýn (Königsmühle). Nach dem II. Weltkrieg entging die Örtlichkeit bei Einrichtung der tschechoslowakischen Grenzzone der totalen Zerstörung, indem sich die Einwohner des benachbarten Ortes Stolzenhain (Haj) das Recht zur Baumaterialgewinnung sicherten. Dies geschah jedoch nur zaghaft. Das Areal ist einer der faszinierendsten Orte, die ich bisher besucht habe. Die Weite, der Wind, die traurigen Ruinen und die nahezu mit dem Ort verschmelzenden Kunstwerke bilden eine unverwechselbare Atmosphäre. Die erwähnten Kunstwerke entstehen immer wieder neu im Rahmen von jährlichen Festivals und Workshops. Die diesjährige Veranstaltung steht offenbar kurz bevor: www.konigsmuhle.cz. Nur schwer kann ich mich vom Areal trennen und laufe am Waldrand talwärts weiter. Dann gehe ich im Wald hinauf und treffe auf einen Weg, der zur Fünfwegekreuzung zurückführt. Dort stochere ich auf der Suche nach den Kellerresten noch ein wenig im üppigen Grün, wobei ich fast in eine riesige Hirschlosung hineintrete. Das hüfthohe Kraut verdeckt zudem einige Untiefen im Gelände, so dass ich vorsichtig agieren muss. Schließlich lege ich die zwei gesuchten Kellereingänge von Drátovna frei.
 
Beschwingt vom Fund strebe ich an der Kreuzung den äußerst linken der möglichen Wege bergan, was sich im Verlauf als falsch erweist (Hier hätte ich zurück zur nächsten Kreuzung gehen sollen.). So erreiche ich nun ungewollt die Hauptstraße und gehe an ihrem Rand nach links bis zum Wanderwegabzweig Pod Vysokou sečí. Hier biege ich ohne Wanderwegmarkierung nach links und halte mich talwärts. Nach einiger Zeit komme ich wie ursprünglich geplant zur Vápenka Kovářská (Kalkofen Schmiedeberg). Das Bauwerk, der einzige Schachtofen des Böhmischen Erzgebirges, aus dem Jahre 1831 befindet sich gerade in Restaurierung. Die Anlage war bis 1924 als Besitz der Herren von Buquoi in Betrieb und soll etwa insgesamt 1,5 Mio. t Dolomitmarmor zu Kalk verarbeitet haben. Die Gewinnung im dazugehörigen Steinbruch wurde zwar im Verlauf der Abbaudauer durch Sprengen unterstützt, geschah aber ansonsten von Hand. Auf dem Schottersträßchen gelange ich nun zurück zum Bahnhof Kovářská und dokumentiere zur Freude des Lokführers die Hälfte der Zugbewegungen des Tages. Die Zwischenzeit nutze ich für eine Mittagspause. Anschließend begebe ich mich in Richtung Ort und passiere an der Bahnhofstraße die ausgedehnten einstigen Fabrikanlagen der Kallova továrna/Fischkonserven-Grossindustrie A. Kalla. Um 1877 erweiterte Anton Kalla seinen örtlichen Kaufladen um einen Lebensmittelexport. Er experimentierte mit einer eigenen Fischkonservenherstellung und errichtete 1900 eine Räucherei. 1905 wurde im einstigen Schmiedewerk eine Fischkonservenfabrik eingerichtet. 1910 wurde dann ein umfangreicherer Produktionskomplex an der Bahnhofstraße fertiggestellt. Pro Jahr wurden 2.500 t Rohfisch in etwa 280 Kühlwaggons über den Bahnhof des Ortes zugestellt. Die Verarbeitung zu Fischkonserven erfolgte durch rund 400 Angestellte. Man gründete Zweigfilialen in Schlesien und Rumänien. Mit dem II. Weltkrieg endete diese Erfolgsgeschichte. Die Gebäude wurden danach von einer Elektrofirma genutzt. Schmiedeberg hieß bis dahin auf Tschechisch in Laut-Transformation Šmídeberk und wurde nach der Vertreibung der Deutschböhmer durch Inhalts-Transformation in Kovářská (kovář = Schmied) umbenannt. Im Zentrum des Ortes steht die große Ruine des historischen Schmiedewerkes. Offenbar verfällt sie zusehends und ist daher jetzt eingezäunt. Auf etwas älteren Bildern ist noch eine komplette Mittelwand zu sehen, heute ist diese zu etwa einem Drittel verschwunden. Nach einer kleinen Runde durch den Ort kehre ich zum Bahnhof Kovářská zurück und beende meine heutige Rundtour.
 
Die pausenbereinigte Gehzeit betrug 4 h 45 min.
Die absolvierte Wegstrecke ist nur zwischen Vápenka Kovářská und Kovářská als Wanderweg markiert und größtenteils mit T1 zu bewerten. Die Erkundung des Antriebsgrabens Drátovna, die Bachquerung und die Erkundung der einstigen Siedlungen ist abweichend als T2 einzuschätzen.

Tourengänger: lainari


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