Pizzo Marona, ein perfekter Aussichtsgipfel für klares Herbstwetter


Publiziert von Kerimo , 22. März 2017 um 19:24.

Region: Welt » Italien » Piemont
Tour Datum:26 Oktober 2016
Wandern Schwierigkeit: T3+ - anspruchsvolles Bergwandern
Wegpunkte:
Geo-Tags: I 
Zeitbedarf: 3 Tage
Zufahrt zum Ausgangspunkt:Über Verbania, Santino nach Cicogna
Unterkunftmöglichkeiten:Ca' del Pitur in Cicogna
Kartennummer:285 Domodossola

Halbdunkel. Regen wie aus Kübeln, die Straße bedeckt von glitschigem Laub und Wasser. Die engste Straße, die ich kenne, dazu fast 20 Kilometer lang. Mit Gegenverkehr. Und Halbdunkel, und Regen wie aus Kübeln. Und durchdrehenden Reifen. Als ich endlich die Piazza von Cicogna erreiche, begrüßt mich der Fahrer des Wagens hinter mir mit der scheinbar gar nicht böse gemeinten Frage: „Wie kommt es, das gerade die Deutschen, diese Autobauer-Nation, so schlechte Autofahrer sind?“. Dann die magischen Stunden des Wetterwechsels. Überall Dampf, Wolkenfetzen, Feuchtigkeit, aber all das langsam, aber unaufhörlich am steigen und im Auflösen begriffen. Schließlich Abendsonne durch die Wolken, ein Regenbogen über dem Pizzo Pernice. Eine ganz ausgefallene Glockenmelodie tönt von der aus dem Nebel hervorkriechenden Dorfkirche. Die Nacht und die Dusche im komfortablen Bed and Breakfast „Ca del Pitur“ sind genau das richtige vor den anstehenden Übernachtungen in den spärlich eingerichteten Schutzhütten des Val Grande. Morgen ist es soweit: Alleine Wandern! Drei ganze Tage! Wie sehr habe ich mich darauf gefreut. 

Der Wetterbericht trügt nicht: Am nächsten Morgen ist das Hochdruckgebiet angekommen und wird eine ganze Woche lang bleiben. Ich mache einen Fehler, den ich zwar schon öfters gemacht habe, dessen Folgen ich aber erst morgen wirklich spüren werde: Völlig euphorisch, aber völlig untrainiert, übernehme ich mich am ersten Tag der Wanderung. Ich will über den Pizzo Marona bis zum Biwak auf der Alpe Fornà wandern. 300 runter, 1700 hoch, 300 runter, dazu auch einige Kilometer Strecke. Anfangs geht es noch schnell. Wie im Flug bin ich unten beim Rio Pogallo, oben beim Bivacco Curgei, dann schon etwas langsamer auf dem noch nebelverhangenen Pian Cavallone, schließlich richtig am kämpfen im sonnigen Osthang des Marona. Die Kapelle auf dem Gipfel (was für ein stolzes Glaubensbekenntnis!) taucht schließlich in greifbarer Nähe auf, aber ich mühe mich ziemlich mit dem steilen und schmalen Pfad und vor allem mit dem Gewicht auf meinem Rücken. Die Sonne fühlt sich fast sommerlich aggressiv an, aber das trockene Gras riecht nach Herbst. Spinnfäden überall. Menschen! Die letzten für ein paar Tage. Was für eine Verschwendung, sich solch einen Prachttag entgehen zu lassen. Die Sicht vom Gipfel, die ich mit niemand teile, reicht vom Monte Viso im Südwesten bis zum Presanella im Osten! Von Bernina, Disgrazia, den Walliser 4000ern und der alles beherrschenden Monte Rosa-Ostwand ganz zu schweigen…

Der Weiterweg führt zunächst ausgesetzt, dann ganz bequem am Hang des Monte Zeda entlang bis zu seinem Ostgrat, von dort gelange ich nach einem kurzen Abstieg und Wiederaufstieg zum Rifugio auf der Alpe Forna. Für den Gipfel des Zeda hatte mir sowohl Zeit (es wird früh dunkel Anfang November…) als auch Motivation (was konnte die Aussicht vom Marona überhaupt übertreffen?) gefehlt. Die Hütte ist Val Grande-typisch spartanisch eingerichtet, aber es gibt fließendes Wasser, Töpfe, Holz (allerdings keinen Zunder, und keine Axt) für den Ofen. Hier herrscht die völlige Einsamkeit. Die abendlich leuchtenden Bernina und Disgrazia - zum Greifen nah! Dann Dunkelheit, matschige Nudeln in lauwarmem Wasser, dazu Pesto. Zum Trinken klares Wasser und ein kleines Fläschchen Whisky – ich bin froh, mir den Luxus gegönnt zu haben. Über der Hütte die Gipfelpyramide des Monte Zeda, stumm und düster, Sterne, aber keine Sternschnuppen. Jedes Geräusch wird sorgsam analysiert. Es muss vom Metalldach herkommen, das sich durch den Temperaturunterschied verzieht und ab und zu knackt. Dann wieder absolute Stille. Glockenläuten aus dem Tal! Die Kirche ist gut sichtbar unten im Val Cannobina. So allein und in dieser Dunkelheit erscheint sie wie ein Wunder. Versteht man erst, wie sehr man die Menschen braucht, wenn man sich der Einsamkeit hingibt? Hier oben wiegen ein, zwei kurze SMS aus der Heimat zumindest um einiges mehr…

Als ich endlich aufstehe, ist es schon hell und das Nebelmeer unter mir gut sichtbar. Also schnell ohne Gepäck hinauf auf den Grat, um den Sonnenaufgang bestaunen zu können! Eine Entscheidung, die mir zwar den Weiterweg auf dem Sentiero Bove* unmöglich macht – hierfür hätte ich direkt mit Gepäck aufbrechen müssen -, dafür aber eines der wunderbarsten Bergerlebnisse meines Lebens beschert: Die aufgehende Sonne über einem endlosen, in Gold und Orange getauchtem Hochnnebelmeer, das an die hervorkommenden Gipfel im Osten brandet wie ein Ozean. Im Westen das Val Grande und die mächtige Eiswand des Monte Rosa über den Tälern die ich kenne und liebe wie ein Zuhause.

Wieder an der Hütte gönne ich mir ein ausgiebiges Frühstück und merke, dass mein Körper und mein Geist für einen Weiterweg auf dem Sentiero Bove ohnehin nicht bereit sind. Eine tiefe Müdigkeit steckt in meinen untrainierten und plötzlich so geforderten Beinen, die – ich kenne es von anderen Touren – den ganzen Tag nicht verschwinden wird. Außerdem soll es eine knifflige Stelle im Aufstieg zum Torrione geben, die ich mir alleine und in dieser Verfassung nicht zutraue, wobei es wohl eher die ständige Ungewissheit über die ihre Kniffligkeit ist, die mir zu schaffen machen würde, als die Stelle selbst. Aber das weiß ich nicht, denn ich bin umgekehrt, um noch einmal auf dem Marona zu stehen und eine Nacht in dem wunderschönen, mir von vor 14 Jahren bekanntem Bivacco Curgei zu verbringen. Ein Abstecher zur geschlossenen modernen Hütte Pian Vada (Winterraum offen) bringt nichts weiter als die Erkenntnis, dass ich hier oben fehl am Platz bin: In der Mittagshitze wirkt das grelle Weiß des Hochnebels abweisend, ich fühle mich seltsam einsam und sinnlos. Das ersehnte Alleinsein kommt nun also mit Wucht auf mich zurück. Und das schon am zweiten Tag... Schnell zurück in Richtung Marona, wo sich meine Stimmung mit der überwältigenden Aussicht wieder aufhellt.

Heute ist die Sicht noch besser als gestern, dieses Mal kann ich sie endlich auch mit der nötigen inneren Ruhe genießen, denn ich kenne den Weiterweg und das gemütliche Bivacco Curgei und seine wunderschöne Lage am Waldrand (Wald! Leben!) schon. Kurz bevor die Sonne hinter dem Monte Rosa untergeht, bin ich dort. Holz gibt es genug, das ich zum Glück mit einer Axt hacken kann, und nicht wie bei Fornà mit einer Sichel… Die kleine Hütte fühlt sich für mich jetzt an wie ein Luxushotel, das kalte Wasser am Brunnen, mit dem ich mich wasche ist besser als eine heiße Dusche im Tal. Am nächsten Morgen Sonnenaufgang auf dem 20 Minuten entfernten Pizzo Pernice (Fernsicht bis zum Appenin), wo ich einen Herrn aus Verbania treffe, der hier mehrmals in der Woche morgens hinkommt und der mir erzählt, dass er möchte, dass seine Asche eines Tages hier verstreut wird. Meine Liebe zu den Bergen in der ersten Person, die mir seit zwei Tagen begegnet, gespiegelt zu sehen, bewegt mich.

Der Abstieg durch den herbstlich leuchtenden Wald ist wunderschön, und als ich schließlich nach dem kurzen Gegenanstieg in Cicogna ankomme, tut mir der Capuccino so gut, dass ich – befreit von der Last des Rucksacks – auf dem wunderbar ebenen historischen Talweg nach Pogallo und zurück laufe bzw. fast fliege, um gerade rechtzeitig zum herrlichen Abendessen im einzigen Restaurant des Dorfs (ebenfalls vom Besitzer des Ca del Pitur betrieben, der auch Bergführer für das ValGrande ist) wieder in Cicogna zu sein: Penne mit Walnusssoße, Polenta mit Salsiccia, Café, Genepy. Bei der Rückfahrt über die enge Straße am nächsten Morgen bei immer noch prächtigem Herbstwetter werde ich mir bewusst, um wie viele tiefgreifende Erlebnisse ich bereichert worden bin, die gerade dadurch so intensiv waren, dass ich sie ganz alleine erlebte. Und: Ich bin aus irgendeinem Grund ein besserer Autofahrer geworden!

 

*dieser führt auf dem Grat weiter über La Piota und Monte Torrione, hinter welchem man zum Bivacco Pian di Boit ins Val Pogallo absteigen kann


Tourengänger: Kerimo


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