Weiss überzuckert (Uri Rotstock, 2928 m)


Publiziert von Fico , 31. Oktober 2016 um 20:31.

Region: Welt » Schweiz » Uri
Tour Datum: 6 Oktober 2016
Wandern Schwierigkeit: T4 - Alpinwandern
Wegpunkte:
Geo-Tags: CH-UR 
Zeitbedarf: 9:30
Aufstieg: 1450 m
Abstieg: 2000 m
Strecke:Musenalp - Uri Rotstock - Biwaldalp - St. Jakob (Isenthal)
Zufahrt zum Ausgangspunkt:cff logo Isenthal
Zufahrt zum Ankunftspunkt:cff logo Isenthal Seilbahnstation St. Jakob
Unterkunftmöglichkeiten:Musenalp
Kartennummer:1191 Engelberg

„So, geht’s auf den Uri Rotstock?“, begrüsst mich freudig der Bauer in Isenthal, als ich an seinem Hof vorbeimarschiere. Es klingt eher wie eine Feststellung als eine Frage. Wo sonst könnte jemand mit dem Pickel am Rucksack hinwollen? Der Uri Rotstock ist zwar nicht der höchste Urner Gipfel, aber vermutlich der bekannteste. Mit seiner markanten Gestalt ist er von überall her unverkennbar und dominiert die Gegend des Vierwaldstättersees. Wer von der Musenalp aus hinaufsteigt, erblickt beim Betreten der Felsarena, wo früher Firn lag, plötzlich auf der einen Seite die rötliche Pyramide und auf der andern die „Urner Sphinx“, der Felskopf des Gitschen mit seinem unergründlichen Gesichtsausdruck. Herrschen überdies herbstlich vorwinterliche Verhältnisse, so wird die Besteigung des Uri Rotstock zum unvergesslichen Gipfelerlebnis.
 
„Du bist unser letzter Gast“, sagt Karin, als ich mich nach dem Frühstück verabschiede. Es liegt ein bisschen Wehmut in ihrer Stimme. Der letzte Gast – nicht nur für diese Saison. Mitte Oktober ist für sie und ihr Partner Cédric Schluss hier. Vieles ist bereits verpackt. Überall stehen Kisten und Bananenschachteln. Man spürt, dass ihr nach fünf Jahren der Abschied von der Musenalp nicht ganz leicht fällt.
 
Als ich mich um halb acht auf den Weg mache, ist die Musenalp in dicken Nebel gehüllt. Nach der sternenklaren Nacht ist der Boden gefroren. Das Gras ist von Raureif bedeckt. Keine halbe Stunde später bin ich bereits über der grauweissen Decke. Das Schartihöreli (1692 m) ragt wie eine Insel aus dem Nebelmeer. Zwischen dem ersten Couloir und dem Firnbach überholt mich ein anderer Berggänger. Er ist um sieben mit der ersten Seilbahn auf die Musenalp gefahren und hat das gleiche Ziel wie ich.
 
Eigentlich hätte ich die Fusseisen erst bei der Abzweigung auf 1988 m Höhe anziehen wollen. Dass es weiter oben vereist ist, wusste ich. Zwar ist der vor einer Woche noch aufgeweichte Boden nun hart und gut zu begehen, aber zwischendurch hat es heimtückische, von einer hauchdünnen Eisschicht bedeckte Stellen, die ich nicht immer auf den ersten Blick erkenne. Einmal wäre ich beinahe ausgerutscht. Ein zweites Mal will ich nicht riskieren und halte vor der nächsten Runse an. Im Rucksack bringen die Fusseisen nichts. Viel Schnee ist nicht gefallen oder er ist tagsüber geschmolzen, um dann sich dann über Nacht in Glatteis zu verwandeln. Bei der Stufe auf 2200 m Höhe sind die Felsen derart vereist, dass die Markierungen kaum mehr zu sehen sind. Auch die Ketten, an denen man sich festhalten könnte, sind von Eis bedeckt. Erleichtert atme ich auf, als ich die düstere Nordwand hinter mir habe und gegen Viertel nach zehn in der Sonne stehe.
 
Es ist, als wäre mit dem Wechsel vom September in den Oktober hier oben der Sommer direkt in den Winter übergegangen. Vor einer Woche war ich noch im T-Shirt auf dem Gitschen, nun ist es trotz Sonnenschein ziemlich frostig. Eine Zeitlang geht es südwärts weiter, dann biegt der Weg – entgegen der auf der Karte eingezeichneten Route – scharf nach rechts ab und aufwärts, bevor er nach Westen und danach wieder in die südliche Richtung verläuft. Die blauen Markierungen und Fussspuren im Schnee sind eine grosse Hilfe, um mich in dieser Öde aus Felsen, Schutt und Geröll zurechtzufinden. Noch vor 30 Jahren war hier alles von Eis bedeckt, die Gletscherzunge reichte bis auf 2500 m Höhe hinab. Macht man zu Hause am Bildschirm eine Zeitreise durch das Kartenwerk des Bundes (www.map.geo.admin.ch), so kann man feststellen, dass vor 100 Jahren einzig der Ostgrat, der den Uri Rotstock mit dem Chessel (2572 m) verbindet, sowie der südöstliche Ausläufer Richtung Rotstocksattel (2732 m) eisfrei waren. Zurückgelassen hat der Gletscher eine gewaltige Felsarena mit unzähligen geschliffenen Platten und Stufen, über die man hinaufsteigt, bevor man zuerst eine ehemalige Mittelmoräne und dann die letzten Überreste des Chlitaler Firns betritt.
 
Es hat eine gute Spur durch den frischen Schnee, der etwa 10 – 20 cm hoch liegt. Hier begegne ich wieder dem andern einsamen Berggänger, der bereits auf dem Abstieg ist. Diesmal wechseln wir ein paar Worte mehr. Ich frage ihn, ob er tatsächlich wieder auf die Musenalp hinunter wolle. Er nickt. Mit der entsprechenden Ausrüstung, antwortet er, wäre es sicher einfacher gewesen, so habe er halt den Weg suchen müssen. „Ein bisschen nach links, ein wenig nach rechts, dann ging es“, meint er bescheiden in seinem Ostschweizer Dialekt. Nur mit Bergschuhen, ohne jede Sicherung, über die vereisten Felsen zu klettern, ist eine alpinistische Leistung, die ich mir nicht zutrauen würde.
 
Es ist ein ergreifender Augenblick, als ich beim massiven, kunstvoll geschmiedeten Gipfelkreuz ankomme. Die Welt scheint mir zu Füssen zu liegen. Über dem Vierwaldstättersee lösen sich die letzten Wolkenreste auf. Nur weiter im Norden liegt bleiern eine zähe Hochnebeldecke. Unzählige Bergketten reihen sich aneinander. Man könnte glauben, man überblicke von hier oben fast die ganze Schweiz. Gut erkennbar im Nordosten der Alpstein, rechts davon das Glärnischmassiv, im Westen die Berner Alpen, davor der markante Titlis, ganz zu schweigen von all den näher gelegenen Zentralschweizer Gipfeln – man könnte sie gar nicht alle aufzählen, so zahlreich sind sie. Der Wind weht nur ganz schwach. Behaglich kann ich an der Sonne sitzen und andächtig der majestätischen Stille lauschen, die einen Hauch von Ewigkeit versprüht.
 
Ein lang gehegter und längst begrabener Wunsch ist heute für mich in Erfüllung gegangen. Als ich in jungen Jahren einmal auf dem Ortstock (2717 m) war, damals für mich der höchste je erreichte Gipfel, schwärmte dort ein anderer Wanderer vom Uri Rotstock: „Es hat sogar einen Weg, wo man nicht über den Gletscher muss!“ Inzwischen ist der Gletscher weg und man kann gar nicht mehr, selbst wenn man möchte, über den Gletscher. Oder zumindest nur noch für ein ganz kurzes Stück.
 
Gerne würde ich noch lange hier verweilen. Doch um fünf vor sechs fährt in Isenthal-St. Jakob das letzte Postauto. Und bis dorthin ist weit. Für den Aufstieg habe ich gute 5 ½ Stunden gebraucht und damit länger, als ich gedacht hätte. Für den Abstieg wähle ich vorsichtshalber den leichteren Weg. Er ist zwar länger, aber wahrscheinlich auch schöner. Man hat bis zum Rotstocksattel freie Sicht nach Osten und auf den Urnersee. Ausserdem kann man nochmals die „Pyramiden von Uri“ mit der Sphinx des Gitschen bestaunen. Man braucht, um solches zu sehen, nicht zwingend nach Ägypten zu reisen. Die Urner Berge bieten das in einer archaischen, naturwüchsigen Form. Die Natur selbst hat es mit ihren eigenen Kräften geschaffen, ohne dafür die Arbeitskraft unzähliger Sklaven zu beanspruchen.
 
Der Weg zieht sich endlos in die Länge. Ist man endlich bei der Gitschenhörelihütte, ist man noch nirgends. Bald darauf geht es auf dem weiss-rot-weiss markierten Weg weiter, an zahllosen Bachrunsen vorbei, jedoch nur ganz allmählich hinunter. Als ich auf der inzwischen geschlossenen Biwaldalp kurz anhalte und verschnaufe, ist es bereits 16.45 Uhr. Bis nach St. Jakob braucht man – so steht es auf dem Wegweiser – 1 Std. 20 Min. Das wird eng fürs letzte Postauto! So schnell es geht, marschiere ich weiter, ab und zu einen verstohlenen Blick auf die Karte werfend, um dann festzustellen, dass sich die Entfernung zur Postautohaltestelle nur sehr langsam verkürzt. Auf dem Fahrweg im Wald kann ich das Tempo nochmals beschleunigen. Um 17.45 Uhr bin ich am Ziel angelangt. Lieber zehn Minuten zu früh als eine Minute zu spät! Wenn ich den Uri Rotstock wieder einmal besuche, dann werde ich mir drei Tage Zeit nehmen. Es ist schade um die schöne Gegend, wenn man sich zum Schluss derart beeilen muss.
 
 
 
 
 

Tourengänger: Fico


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Kommentare (1)


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Felix hat gesagt:
Gesendet am 1. November 2016 um 07:18
mein Lieblingsberg - schöne Impressionen; gut und sehr deutlich sind bei deiner Überschreitung die so unterschiedlichen Terrainverhältnisse zu erkennen.

lg Felix


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