Klettern statt Putzen...


Publiziert von lorenzo , 9. September 2016 um 22:41.

Region: Welt » Schweiz » Bern » Oberhasli
Tour Datum: 7 September 2016
Wandern Schwierigkeit: T6 - schwieriges Alpinwandern
Hochtouren Schwierigkeit: S
Klettern Schwierigkeit: IV (UIAA-Skala)
Wegpunkte:
Geo-Tags: CH-BE 
Zeitbedarf: 16:00
Aufstieg: 2765 m
Abstieg: 2765 m
Zufahrt zum Ausgangspunkt:Von Innertkirchen mit dem Auto oder Alpentaxi ins Urbachtal
Zufahrt zum Ankunftspunkt:dito
Kartennummer:LK 1210 Innertkirchen, 1230 Guttannen; K. Ochsner, Engelhornführer, AACB 1990, und Kaspar und die 27 Engel, Berge Nr. 93, 1998

Nachdem Kaspar Ochsner an einem Prachtstag wohl 1997 mit seinem 15kg schweren Rucksack, in dem sich neben dem Kletterzeug auch Bohrmaschine und -haken befanden, auf das Signal hoch über der Urbachflanke - früher eine "Hochburg der Wilderer und Wildheuer" - gestiegen war, um "an einer neuen Route herumzuwerkeln", hatte er auf einmal keine Lust mehr, sich in die Wand abzuseilen, "bloss um irgendwelche Stellen zu putzen und Linien zu begradigen". Stattdessen legte er sich auf einen Blumenteppich, liess sich von den Graten der Engelhörner in ihren Bann ziehen und begann von der Überschreitung aller ihrer 27 Gipfel an einem Tag zu träumen:
 

"Und plötzlich ist diese Sehnsucht wieder in mir, wie früher:
Dieses unbeschwerte Klettern über Schrofen, Grate und unzählige Gipfel!
Die Schwierigkeiten waren egal, nur klettern wollten wir,
den Raum geniessen, die Bewegung, die Freiheit."


Vor Jahren war ich einmal von der Augstgumm über die Leiteren direkt zur Unteren Engellücke aufgestiegen, von dort über die dazwischenliegenden Gipfel bis zur Tennlücke geklettert und über die Röhreni zurück ins Urbachtal abgestiegen. Kürzlich angeregt durch Christoph Klein, der meines Wissens den "Extrem-Pause" überarbeitet und neu herausgegeben hat, wollte ich die Überschreitung auch der ganzen Süd- zusammen mit der Mittelgruppe, allerdings vom und zurück ins Urbachtal versuchen. Der Aufstieg von Mürvorsess auf das Gross Gstellihorn kommt zwar einer zeitraubenden Liebhaberei gleich, die die Energiereserven schon vor der eigentlichen Überschreitung gänzlich aufzuzehren droht, ist dafür aber landschaftlich umso schöner. Und der Abstieg von der Hohjägiburg über die Röhreni ist zwar nicht einfach zu finden, technisch ziemlich beschwerlich, und dürfte jedwelches Zeitbudget sprengen, belohnt aber mit einem wilden Ambiente, das seinesgleichen sucht, und mit faszinierenden Ausblicken ins Haslital.
 

Die zusätzliche Überschreitung der Tenngruppe wäre natürlich das Rotpünktchen auf dem "i", dafür müsste unsereiner aber von einem höher gelegenen Ausgangspunkt wie z.B. dem Rosenlauibiwak (2330m), der Dossenhütte (2663m) oder einem Biwak auf der Augstgumm (2009m) starten, um genügend Zeit zu haben. Als ich jedenfalls bei beginnender Dämmerung unter der Tennlücke anlangte, von wo aus es nochmals hinauf zum Tennhorn gehen würde - was ich von Anfang an nicht geplant hatte -, war mein Mütchen restlos gekühlt, und meine einzige Sorge war, noch vor dem Eindunkeln die Burgalp zu erreichen. Die Überschreitung der Tenngruppe von der Burgalp mit der Erkletterung des Mittaghiri als Höhepunkt und dem Abstieg über die Röhreni ist aber auch für sich ein lohnendes Tourenziel.
 

Gross Gstellihorn
Von Mürvorsess über Schrätteren, Enzen, Augstgumm, NE-Flanke und N-Grat auf das Gross Gestellihorn, 5-6h, WS+. Für eine ausführliche Routenbeschreibung siehe unter "Zur Feier des Jahres".

Südgruppe
Vom Gross Gstellihorn über den N-Grat zurück zur Kontaktstelle aus Gneis und Kalk. Über den "ebenen", z.T. aber ausgesetzten Äbnisgrat (I-II) zu den Sagizähnen. Diese werden exponiert über ihre griffigen, aber nicht überall festen SSW-Kanten erklettert (III). Vom 1. Sagizahn kann 5m gesichert abgeklettert oder -geseilt werden (Block), vom 2. 15m (Stand) und vom 4. 25m (Stand) auf der Urbachseite durch eine Rinnenrampe zur Unteren Engellücke. Der unterste Abschnitt des Gross Engelhorn SSW-Grats wird auf der Urbachseite auf steilem Gras umgangen, bis der Grat durch eine Rinne gewonnen werden kann. Über den gut gestuften, aber ausgesetzten und z.T. brüchigen Grat auf den S-Gipfel und nach einer Scharte auf das Gross Engelhorn. Abstieg über den ENE-Grat in eine Scharte und Umgehung des folgenden felsigen Gratabschnitts auf Grasbändern in der SSE-Flanke. Von der nächsten Scharte 25m Abseilen (Stand) auf die Urbachseite und Querung auf Grasbändern unter der Oberen Engellücke hindurch zu einer steilen Kaminrinne (II), die hinauf zum W-Gipfel (2764m) führt, Depot. Über den W-Grat einfach, aber ausgesetzt auf das Urbachengelhorn und zurück. Vom W-Gipfel E des NNE-Grats über die obere N-Flanke (brüchig) 2x25m Abseilen (Schlinge, Stand), Querung nach links zum Grat und über diesen (II, griffarme Platte III-) hinunter zum Gemsensattel, 3h 30min, ZS.

Mittelgruppe
Vom Gemsensattel über Gemsenspitze, Klein Engelhorn, Mittel-, Ulrich-, Gertrud- und Vorderspitze zur Hohjägiburg, 3-5h, S. Für eine ausführliche Routenbeschreibung siehe unter "Alle Jahre wieder".

Röhreni
Abstieg kurz entlang der NE-Rippe (II), bis nach links in das Schrofencouloir zwischen dieser und dem NNE-Grat gequert werden kann. Durch dieses steil hinunter (T6, II) und Querung zu einem Sättelchen unter der Tennlücke (2426m). Richtung NE absteigende Querung mehrer Rippen, von deren Scharten jeweils eine Geröllrinne hinunter führt. Auf ca. 2160m Abklettern (od. -seilen an Block) durch eine enge Felsrinne  (zuunterst III) und weiter durch ein SE gelegenes Parallelcouloir hinunter zur plattigen Quellmulde des Schellibachs auf ca. 1960m (Lawinenreste). Abklettern über eine ca. 7m hohe griffarme Platte (V) in das Bachbett und auf der anderen Seite auf geröllbedeckten Bändern zum Beginn der Grasbänder der Röhreni. Auf dem horizontalen oberen Wildheuerpfad (Zustieg für die Kletterrouten an Signal und Pyramid) weiter nach NE, bis auf den unteren eingezeichneten ab Chieweidli gewechselt werden kann (z.T. ausgesetzt, nach der grossen Felsnische mit einer Höhle Kabel). Auf diesem hinunter zur Oberen Burgalp (Mad), weiss-rot über die Untere Burgalp und Alleschwendi zur Einmündung P. 792 in die Urbachtalstrasse und auf dieser zurück nach Mürvorsess, 4h 30min, WS/T4.

Material: Stöcke, Stirnlampe, Leichtpickel und Kletterausrüstung mit Helm, Gurt, 50m 7,5mm Seil, 5 Express, 4 Schlingen, Kk-Set sowie kleinem und mittlerem Friend.

Fahrplan: 5 Uhr Mürvorsess, 10 Uhr Gross Gstellihorn, 13.30 Gemsensattel, 16.15 Hohjägiburg, 21 Uhr retour.

Bemerkung: zwischen dem letzten Brunnen auf Enzen bzw. den Bächen auf Loicherli und dem ersten Brunnen auf der Oberen Burgalp gibt es abgesehen ggf. von Schmelzwasser aus Schneeresten kein Wasser!

Tourengänger: lorenzo


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Kommentare (12)


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danueggel hat gesagt: Weltklasse / Hufeisen
Gesendet am 10. September 2016 um 10:37
Salü Lorenzo

Grossartig! Du weckst den von mir verdrängten Schmerz, dass ich diese Saison noch nicht in den Engelhörnern klettern war und erinnerst mich gleichzeitig an mein Projekt "Hufeisen", das ich zugunsten anderer Projekte etwas vernachlässigt habe.

Gerne erlaube ich mir zu gegebenem Zeitpunkt dein Expertenwissen " anzuzapfen"

Übrigens: Die neue Auflage des Pause-Klassikers wird z.B. hier besprochen: https://www.bergzeit.ch/magazin/walter-pause-im-extremen-fels-kletterfuehrer-neuauflage/

Nochmals: Ein wie immer toller Bericht - Gruss, Daniel

lorenzo hat gesagt: RE:Weltklasse / Hufeisen
Gesendet am 11. September 2016 um 11:58
Hallo Daniel

vielen Dank für Deine Rückmeldung und den Hinweis! Die Saison ist ja noch nicht zu Ende, oft kann man in den Engelhörnern noch bis Ende Oktober - Anfang November schöne Klettertouren machen.

Das Hufeisen wäre natürlich das Non-plus-ultra, abgesehen von der Länge setzt aber die Gross Engelhorn N-Flanke (nach dem Point-of-no-return der 40m Abseilstelle am Froschkopf) mit abwärtsgeschichtetem und z.T. brüchigem Fels sowie wenig Sicherungsmöglichkeiten (IV, Schlüsselstelle) solide Kletterfähigkeiten und gute Nerven voraus. Erkundige Dich doch einmal bei www.hasliberge.ch.

Gute Touren und Grüsse

lorenzo

danueggel hat gesagt: RE:Weltklasse / Hufeisen
Gesendet am 14. September 2016 um 07:43
Salü Lorenzo

Danke für den Hinweis, jetzt wollte ich doch dieses Weekend in die Engelhörner und prompt spielt das Wetter nicht mit! Nun denn, wenn sich das Wetter wie letztes Jahr gestaltet, dann habe ich wirklich noch Zeit. Vielleicht reicht es ja sogar noch dieses Jahr, die eine oder andere Teiletappe zu klettern. Dann kann ich realistisch einschätzen, was möglich ist.

Den Engelhornführer habe ich mir nun gekauft um langsam Nägel mit Köpfen zu machen, denn zu oft habe ich - unbetechtigterweise - Angst vor der eigenen Courage...

Danke für die Inspiration - Daniel

lorenzo hat gesagt: RE:Weltklasse / Hufeisen
Gesendet am 15. September 2016 um 21:48
Hallo Daniel

ja, dieses Wochenende scheint ungünstig zum Klettern zu sein - andererseits villeicht eine Gelegenheit, den Engelhornführer zu studieren.

Hoffentlich bleibt allfällig an den höheren Gipfeln (Kingspitz-, Gross Engelhorn- und Mittelgruppe) fallender Schnee schattseitig nicht schon liegen.

Angst vor der eigenen Courage ist gerade in den Engelhörnern sicher berechtigt, und eine schrittweise Annäherung deshalb wichtig. Villeicht kennst Du ja das sehr empfehlenswerte Buch "Die Angst - Dein bester Freund" von Alexander Huber.

Für den Einstieg sind West- und Simelistockgruppe geeignet (vom Gross Simelistock überblickt man das ganze Hufeisen). Dort kann man sonnseitig jeweils noch bis spät im Herbst klettern.

Ich wünsche Dir erfüllte Tage in den Engelhörnern!

Grüsse

lorenzo


silberhorn hat gesagt:
Gesendet am 10. September 2016 um 18:51
Hätte schampar gärn was Sinnvolles geschrieben, leider kommen mir auch heute nur Banalitäten in den Sinn.

lorenzo hat gesagt: RE:
Gesendet am 11. September 2016 um 11:34
So geht es mir meistens auch...aber der Sinn in den Banalitäten ist oft tiefgründiger als der sogenannt hohe des Sinnvollen...

amphibol hat gesagt: wunderbar!
Gesendet am 10. September 2016 um 22:13
Wie gewohnt, deine Berichte! Gratuliere!
Gruss, amphibol

lorenzo hat gesagt: RE:wunderbar!
Gesendet am 11. September 2016 um 12:06
Hallo amphibol

Danke vielmals! Das Wetter war einfach wieder einmal unwiderstehlich, aber dank einer leichte Bise war es zum Glück nicht zu heiss.

Gute Touren und Grüsse

lorenzo

Alpin_Rise hat gesagt: Welch ausgefüllt-erfüllender Tag
Gesendet am 16. September 2016 um 14:38
, gratuliere!

Derweil bleibts bei mir immer noch beim Lesen statt Klettern, was die längeren Touren in den Engelhörner betrifft.
Pläne gibts, jetzt fehlt meiner Courage noch der Mut, eine schnelle Begleitung plus deine Berichte im Hosensack.

G, Rise

ps: Ein schöne Hommage als Einleitung - kanntest du Chäppi persönlich?

lorenzo hat gesagt: RE:Welch ausgefüllt-erfüllender Tag
Gesendet am 17. September 2016 um 11:09
Hallo Rise

herzlichen Dank! Bei diesem Wetter ist Lesen sicher die sinnvollere Variante als Klettern, zumal es erst noch erfüllender ist als Putzen...

Falls die Pläne reifen und die Courage sich ermutigen sollte, eine schnelle Begleitung aber nicht zur Verfügung steht, liesse sich villeicht mit einer etwas weniger schnellen etwas machen.

Ich kannte Chäppi nicht persönlich und bin ihm nur zweimal begegnet: einmal nach dem Abstieg vom Kleinen Simeler vor der Engelhornhütte, wo wir über den leichtesten Aufstieg vom Simelisattel auf den Grossen Simeler diskutierten, und Jahre später kurz vor seinem Tod in seinem Laden Vertical Sport in Interlaken, wo wir uns über die Ausrüstung, die er bei seiner Gesamtüberschreitung verwendet hatte, und seine neuen Routen in den Engelhörnern unterhielten.

Grüsse

lorenzo

markocupic hat gesagt:
Gesendet am 26. Oktober 2021 um 13:18
Hallo Lorenzo
Dickes Kompliment und grosses Dankeschön für deine sehr ausführlichen Tourenbeschreibungen.

Inspiriert durch deinen Bericht habe ich mich am Wochenende selber entschlossen der Hohjägiburg via Röhreni einen kleinen Besuch abzustatten.
Das Wetter war ja perfekt, einzig der wenig vorhandene Schnee und Wassereis erschwerten die Kletterei. Schon eindrücklich, wie abgelegen und von welcher Schönheit das Urbachtal ist.

Ich habe die Route auch dank deiner Beschreibung recht gut gefunden. Einzig beim Eingang in die Rinne unter der NNO Wand der Hohjägiburg habe ich trotz mehrerer Anläufe sicherlich nicht ideal getroffen. Die Kletterei zum Gipfel nachher war recht anspruchsvoll wegen dem angetroffenen Wassereis.

Den Abstieg habe ich dann perfekt getroffen, indem ich aus der Rinne über die beiden Sättelchen der ersten 2 Pfeiler nach Osten gequert bin.

Im unteren Teil habe ich die von dir angetroffenen Schwierigkeiten (V) nicht angetroffen. Kann es sein, dass du zu früh via das Parallelcouloir nach unten bist? Ich bin noch weiter nach unten gestiegen und konnte dann ohne Schwierigkeiten über Bänder zurück zur Quellfassung des Schellibachs (Lawinenschnee) queren.

Wie hast du dich bei deiner Überschreitung vom Gstellihorn zur Hohjägiburg gesichert? War alles free solo? Hast du Kletterfinken benutzt oder bist du mit den Bergschuhen geklettert? So, oder so. Eine super Leistung war das.

Ich wünsche dir weiterhin schöne Touren.

Liebe Grüsse

Marko

lorenzo hat gesagt: RE:
Gesendet am 26. Oktober 2021 um 22:01
Hallo Marko

ich gratuliere Dir zu Deiner Begehung der Röhreni! An einem so klaren Oktobertag trotz Schnee und Wassereis sicher ein einmaliges Tourenerlebnis.

Ich musste damals den Ausstieg aus der NE-Rinne auch suchen. Die glatte Platte hinunter zum Schellibach war einfach die direkteste Variante, darüber, ob es wirklich ein Fünfer ist, könnte man sicher diskutieren...

Bei der Südgruppe bin ich seilfrei geklettert, habe aber mehrmals abgeseilt. Bei der Mittelgruppe habe ich mich am Klein Engelhorn mit dem Seil, an der Mittelspitze zuoberst mit der Standschlinge und an der Getrudspitze wieder mit dem Seil gesichert, sonst bin ich alles seilfrei geklettert, habe aber auch mehrmals abgeseilt. Für die ganze Tour habe ich nur Bergschuhe benutzt.

Ich wünsche Dir auch weiterhin schöne Touren. Hoffentlich gibt es noch ein paar goldige Herbsttage, bevor der grosse Schnee kommt.

Herzliche Grüsse

lorenzo


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