Erlebnis Palü - mit anspruchsvollem Abstieg ins Tal


Publiziert von alpensucht , 28. August 2016 um 19:41.

Region: Welt » Schweiz » Graubünden » Berninagebiet
Tour Datum:14 August 2016
Wandern Schwierigkeit: T4 - Alpinwandern
Hochtouren Schwierigkeit: WS+
Klettern Schwierigkeit: II (UIAA-Skala)
Wegpunkte:
Geo-Tags: CH-GR   Palü-Gruppe   Bernina-Gruppe   I 
Zeitbedarf: 13:30
Aufstieg: 1200 m
Abstieg: 2300 m
Strecke:ca. 18km

... an der ersten Abseile am Fortezzagrat gibt es mächtig Gedrängel. Gut, dass wir die Ersten in der Reihe sind! Johannes braucht gerade seinen Pickel nicht und „schmeißt ihn gut gezielt“ in den Firn unterhalb. Hoffnungsvoll gespannt schauen wir der folgenden Rutschpartie zu und staunen, als er unvermittelt mit einer Ecke  der Schaufel im sicher 45-50° steilen Firn hängen bleibt. Wir schreiben ihn ab...Erst weiter unten entschließe ich mich die kurze, gefährliche steinschlägige Querung zu begehen, damit Johannes für den Rest des Abstiegs seinen Eispickel nutzen kann...

Am Vortag fühlten wir uns nach unserer erlösenden Ankunft im Nobelrestaurant spätestens nach dem Blick in die Getränkekarte ziemlich fehl am Platze.


Spätestens heute morgen, als wir uns mit reich gedecktem Tablett an unseren Tisch setzen und das umwerfend gute Frühstück genießen, zeigt sich wie unterschiedlich eine große Tour beginnen kann:

Fröstelnd aus dem Biwaksack/Zelt kriechen, in vereiste Stiefel steigen und nach einem trockenen Riegel und einem Schluck Wasser einsam in einen anspruchsvollen Grat einsteigen -- oder eben mit 60 anderen Bergsteigern im warmen Restaurant eine königliche Morgenmahlzeit einnehmen und in einer langen Kette von Lichtern auf einfachem Zustieg einfach den Vorderleuten folgen gen Gletscher marschieren! Jeder wähle selber - beides hat seinen eigenen Reiz.

Normalweg zum Palü-Hauptgipfel T4, WS, 40°, 4h
Ab 3:30 Uhr gibt es Frühstück. Wer etwa 3:40 Uhr unten ist, muss locker 10min anstehen, um sich dann reichlich das Tablett und die Gläser zu füllen. Gegen 4:45 Uhr begeben wir uns hinter etlichen anderen zügig auf den Zustiegsweg in südöstlicher Richtung. Wir überholen gleich zu Beginn viele ruhig in den Morgen ziehende Bergsteiger, weil ich im eigenen Tempo unterwegs sein möchte. Hinter einem flotten Pärchen halte ich mich dann bis hinab durch den Schutt der Flanke oberhalb des Persgletschers.

Gegen 5:30 Uhr stehen wir auf dem Gletscher und freuen uns am morgendlichen Schimmer. Einige sind schon vor uns unterwegs, der Firn ist durchgefroren, somit brauchen wir uns weder um Verhältnisse noch Routenfindung zu kümmern. Dennoch treibe ich meinen Vordermann, der zunächst die Führung übernimmt, zur Eile an. So richtig warm ist mir noch nicht geworden. Wird Zeit, dass das Gelände steiler wird und die Sonne aufgeht.
6:15 Uhr. Im Cambrena-Eisbruch ereilt uns dann das morgendliche Glühen der hohen Gipfel im Festsaal. Wir müssen kurz inne halten, überholen dann aber wieder zwei Seilschaften. Um 7:20 Uhr treten wir erstmals aus dem Schatten und legen nach weiteren 20min eine Pause ein. Gesicht eincremen, Energie und Flüssigkeit aufnehmen, Schuhe neu tapen (Steigeisen waren mal zu fest eingestellt und haben oberhalb der festen Fersenkappe das Leder und die Naht beschädigt).
Der steile Aufstieg auf die Schulter verlangt vielen sicherlich viel von ihrer Kondition ab. Wir sind gut akklimatisiert und kommen gut hinauf. Oben treffen wir auf die Seilschaft, die am Vorabend mit uns am Tisch saß.
Ich finde abmontierte, aggressive Frontzacken im Schnee (Modell unbekannt, Farbe rot), stecke sie ein und gehe nun weiter voran. Der letzte Aufschwung zum Firngrat ist bekanntermaßen steil und anstrengend. Breite Serpentinen erleichtern den Aufstieg. Mein Seilpartner wünscht sich ausdrücklich, dass ich sie ausgehe, was ich angesichts des langen Abstiegs gern tue.
Der Firngrat oben bietet nun die Crème de la Crème einer rundum klassischen Hochtour. Es hat hier keine Wechten - nur einen ebenmäßigen, schmalen Grat mit guter Spur und teils tiefem Schnee. Zum ersten Mal entscheide ich mich am kurzen Seil zu führen. Die ersten erfolgreichen Gipfelstürmer kommen schon entgegen und warten an geeigneter Stelle auf uns.

Um 8:30 Uhr betreten wir den höchsten östlichen Punkt des Palü. Fröhlich ziehen wir weiter gen Hauptgipfel. Die Spur ist am heutigen Tag mit respektvollem Abstand zu den Wechtenrändern gelegt. Nach weiteren vielleicht 30min erreichen wir den breiten Hauptgipfel. Die folgende ausgiebige Pause bis es kalt wird, ist selbstverständlich bei so stabilem Wetter.

Viele Seilschaften genießen hier die Aussicht, bleiben lange oben und kehren wieder auf der Route über den Ostgipfel zurück. Mit uns gehen nur einige Gruppen weiter über den Spinas. Umso mehr kommen jedoch den Spinasgrat hinauf. Ein wenig freuen wir uns schon auf den Felskontakt.


Spinas- und Fortezzagrat im Abstieg WS, II, 5h 30min

9:40 Uhr betreten wir den Einstiegspunkt, wo es bald ausgesetzt zur Sache geht. Wir halten unser Seil zwischen 6 und 10m Abstand und gehen am „langen“ Seil, nachdem wir eine ganze Weile entgegenkommende Seilschaften an uns vorbei gelassen haben. Als der Weg endlich frei wird, holen wir schnell eine vor uns kletternde 5er-Seilschaft ein. Ohne Steigeisen überwinden wir die ersten trockenen Passagen sicher und gut. Mit der Zeit stellen wir uns noch besser auf einander ein und automatisieren mehr das Um-den-Block-Legen und Wieder-Rausschwingen des Seils.

Insgesamt wird der Grat sehr stark frequentiert und bietet wirklich einen außerordentlichen Genuss in meist festem Fels. Nach Überschreiten des höchsten Punkts gelangen wir bald zu dem Entschluss unsere Steigeisen anzuziehen. Einige Schneebedeckte Platten müssen abgeklettert werden. Zur Sicherung baue ich einen Blockstand und lasse Johannes natürlich zuerst absteigen. Das fühlt sich im Abstieg eher wie ein IIIer an, wirkt aber eigentlich von oben nur furchteinflößend, weil die Platten rechts ins Nichts abbrechen. Beim Abklettern selber finden sich überall so gute Tritte und Griffe, dass man sie wohl gerade noch im oberen II. Grad bewerten kann.

Nach 90min auf dem Grat sehnen wir uns dann doch nach dem Ende der mental anstrengenden Abkletterei. Die grandiose Kulisse ist längst zur Nebensache geworden. Zügig Vorankommen zählt nun, denn die unteren Gletscherbereiche am Fortezzagrat weichen stark auf. Gegen 11:30 Uhr steigen wir in den Sattel, pausieren kurz und steigen zügig zum Fortezzagrat hinab.

Wieder wird das Ausmaß der Dimensionen hier deutlich. Westalpenflair in den (lt. UIAA) Ostalpen!

Am Fortezzagrat suchen wir die Abseile leider erst einmal rechts – denkbare Möglichkeit mit alpinem Abseilstand, aber keine Option, da nachweislich eingebohrte Abseilstände zu finden sein müssen. Also zurück und links nachschauen. Inzwischen will gerade eine unentschlossen wirkende osteuropäische Seilschaft zum Stand queren, machen aber keine Anstalten vorwärts zu gehen. Deshalb ziehe ich schnell vorbei.
Hinter uns drängen bereits die nächsten (teils Bergführer-) Seilschaften. Am Stand gibt’s dann arges Gedrängel, weil der Bergführer unbedingt zeitgleich mit uns vom rechten oberen Turm abseilen will, weil wir ihm wohl zu lange brauchen. So bemühe ich mich um Tempo. Doch leider fällt meinem Partner der Pickel im Gedrängel aus der Rucksackhalterung. Eine ernste Unaufmerksamkeit, denn wir müssen noch über weite Gletscherflächen absteigen, die nicht nur flach sind! Wir schreiben das Gerät zunächst ab.

Am Ende der ersten Abseile entschuldige ich mich beim Bergführer für das lange Verweilen am ersten Stand. Dieser winkt ab und ermutigt mich den Pickel zu holen. So machen wir es dann auch.

Ich seile bei der Zweiten einfach doppelt soweit ab, wie es der „markierte Normalweg“ erforderte und erreiche eine sehr brüchige Stelle, an der ich gut den Rucksack abhängen, stehen und zum Firn gelangen kann. Im Firn braucht's nur eine Querung in Eisklettermanier von kaum 30m, um den Pickel zu erreichen. Das muss ich schnellstens erledigen, denn das Firnfeld liegt genau in Falllinie der losgetretenen Steine der oberen Seilschaften. Und es kommen gerade viele Leute. Als ich zurück quere, kommen auch die ersten Steine geflogen und auch noch irgendein anderes schwarzes, eckiges Utensil, was ich nicht identifizieren kann. Egal. Ich will nur zurück.

Zurück zur Normalroute muss ich nur kurz einige brüchige Stellen II überwinden und gleich geht es zu den letzten Abseilpunkten. 13:30 Uhr !!

Auch bei den letzten Manövern nehmen wir uns trotz der späten Stunde noch Zeit, so dass wir erst 30min später am Einstieg im Firn landen. Der weitere Abstieg ist autobahnmäßig trassiert. Nach dem kurzen Felsstück auf Höhe der Refugii dals Chamuotsch („Gamszuflucht“) wird der Firn wirklich gefährlich weich und wir „fahren“ teilweise dennoch höchst genussreich und ohne einzubrechen weite Strecken ab.

Ganz unten vor der Isla Persa wird es noch einmal sehr unangenehm. Wir sinken tief ein und müssen zuletzt auch über zahmes Blankeis. Die Orientierung stelle ich mir hier bei Nebel schwierig vor. „Rechts halten“ muss die Devise sein, denn dort, am höchsten Punkt der Isla Persa stehen Steinmänner, die wohl nicht nur als Markierung des Höchsten Punkts (P.28..m) gebaut worden sind.


Abstieg über Isla Persa und Morteratschgletscher ins Tal T4, I, 4h

15:00 Uhr. Die nächste Seilschaft hält zwei Überraschungen bereit: ein freudiges Wiedersehen mit meinem ostdeutschen Prüfungspartner bei der Trainerausbildung im letzten Sommer und die Nachricht, dass das eckige Utensil, mit dem man nach mir warf, ein Handy einer britischen Seilschaft gewesen sei. Wir konnten nicht mehr vor Lachen wohlwissend, dass jeder von uns schon so einiges fallen lassen hat. Sie haben es nachher noch gesucht, aber nicht gefunden. Ein wenig ärgere ich mich auch, dass ich es nicht mitgenommen habe. Wären weniger Steine gekommen, hätte ich es sicher geholt!

Jedenfalls tauschen wir uns noch fröhlich über absolvierte Touren aus und beraten die weitere Abstiegsroute zum Morteratschgletscher. Nach 20min beginnen Johannes und ich rechts haltend den weiteren Abstieg. Nach 300m finden wir Pfadspuren mit Steinmännchen und bleiben darauf bis hinab zum Moränensee.

Wir vereinbaren dort eine längere Pause. Der Abschnitt ist steil und unwegsam, doch wenigstens weitgehend mit Vegetation versehen, so dass nicht alle Tritte unter unserem Gewicht hinweggleiten.

Der Abstecher zum See muss uns gegönnt sein! Herrlich weiche, begrünte Schwemmböden und glasklares Wasser finden wir vor. Meine obligatorische Abkühlung wird heute ausgiebig zelebriert. Die grandiose Bernina-Kulisse in Verbindung mit völliger Ruhe hält uns sehr viel länger in Faszination als wir planten.

Nach einer reichlichen Stunde und vergeblichem Versuch ein schönes Bernina-Spiegelbild im See zu fotografieren, kehren wir in die Einsenkung der riesigen Seitenmoräne zurück. 17:00 Uhr.

Johannes steigt weit unter mir ab. Schutt rutscht und Steine rollen. Wegen schwächer werdender Konzentration und meines inzwischen mangelhaften Sohlenprofils rutsche ich einmal unerwartet aus, verletze mich aber nicht. Die Neubesohlung meiner Hanwag Sirius' steht an!

Das Finale der gelungenen Tour wird vom erneuten Betreten des gigantischen Talgletschers eingeleitet. Wir gehen ohne Seil, das Eis ist aper. Sehr oft halte ich an und betrachte gebannt die atemberaubenden Spaltensysteme. Im Rücken grüßen, sich langsam entfernend, Bella-Vista und Bernina.

Eine letzte Schlüsselstelle liegt im Bereich des Gletschertors. Glatt geschliffene, plattige Felsen mit Schuttauflage überwinden wir vorsichtig. Die letzten steilen 100Hm liegen vor uns. Die Wegfindung erweist sich erneut als anspruchsvoll. Einer der wasserreichen Abflüsse muss mindestens einmal überwunden werden. Mitten im Wirrwarr der losen Blöcke treffen wir wieder auf Steinmännchen und halten uns an diese, bis wir ganz unten die Talsohle erreichen.

Der 5km lange Fahrweg bis Morteratsch zieht sich nochmal enorm in die Länge. Ich versuche Johannes, der schon ziemlich am Ende seiner Kräfte zu sein scheint, mit allerlei Schabernack abzulenken und aufzuheitern. Die Metallsäulen mit den alten Gletscherständen tragen informative Tafeln mit historisch nur selten relevanten Inhalten. Die meisten Texte dienen zur Werbung für die Besonderheiten der Region und wirken wie Teasertexte von Online-Reiseportalen. Deshalb gebe ich es bald auf sie zu lesen. Jede Pause wird nun zur Anstrengung, deshalb gehen wir langsam und stetig weiter. Vom Klettergarten begeben sich einige auch gerade auf den Weg in die Ortschaft. Sie sehen uns wohl an, dass wir nicht nur den Eisrand vom Morteratsch besucht haben...

In Morteratsch genehmigen wir uns noch einige Köstlichkeiten und freuen uns bald darauf im Auto wirklich zur Ruhe kommen zu können.

Eine Perfekte Tour an einem perfektem Tag - nichts anderes lässt sich vorher hoffen und ist es danach geworden! Dankbar, erfüllt und hochzufrieden mit dem Verlauf unserer Mehrtagetour fahren wir heimwärts.

Erneut wurde es möglich, dass sowohl mein Tourenpartner als auch ich selbst konditionell und technisch gefordert waren und in der Tat, sinnvollerweise weder mehr noch weniger gegangen wäre. Selbst an dem Schlechtwettertag erreichten wir einen stattlichen Gipfel. Unser Seilhandling ist sicherer und schneller geworden. Im Vergleich zu anderen Seilschaften erkennen wir, dass da dennoch viel Luft nach oben ist. Da man bei der Tourenwahl in entgegengesetzter Richtung erst spät am Tage durch die gefährlichen Cambrena-Eisbrüche absteigen muss, sehe ich unsere Richtung als optimal an. Beim nächsten Besuch möchte ich jedenfalls schwierigeren Fels und eventuell auch steileres Eis in die Finger bekommen.

Einige sehr attraktive Gipfelziele haben wir uns für andere Besuche der Region aufgehoben. Für viele Nichtschweizer bleibt wohl die Rechnerei und Kreativität zum Einsparen noch lange weiter bestehen. Das ist einer der wenigen Gründe, warum wir das Zentrum unserer alpinen Aktivitäten deutlich weiter östlich sehen. Umso mehr erachten wir die wenigen gegönnten Tage im schönsten Land der Welt als unbeschreiblich wertvoll und alles andere als selbstverständlich.

Es gibt kaum eine würdigere Tour als diese zum Abschluss eines dreiwöchigen, den Schönheiten der Alpen gewidmeten Urlaubs! Sie ist lang, eisig, felsig, ausgesetzt und landschaftlich von herausragender Schönheit!


Tourengänger: alpensucht


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