Auf das Matterhorn Neuseelands - Eine Besteigung des Mount Aspiring/Tititea (3033 m)


Publiziert von TimoS , 31. Januar 2016 um 12:03.

Region: Welt » New Zealand » Mount Aspiring National Park
Tour Datum: 9 Januar 2016
Hochtouren Schwierigkeit: ZS
Klettern Schwierigkeit: III (UIAA-Skala)
Wegpunkte:
Geo-Tags: NZ 
Zeitbedarf: 4 Tage
Aufstieg: 2500 m
Abstieg: 2500 m
Zufahrt zum Ausgangspunkt:Raspberry Flat Parkplatz, 50km Autofahrt von Wanaka
Unterkunftmöglichkeiten:Aspiring Hut, French Ridge Hut, Colin Todd Hut

“Oh man, this is freakin’ big!” Ich sitze rittlings auf einer schmalen Gratschneide aus hartgepresstem Firn, zu beiden Seiten gähnen breite Gletscherspalten in die jeweils eines meiner Beine hinabbaumelt. Der Grat, über den ich mich die letzten Minuten Meter um Meter vorschoben habe, bricht vor mir abrupt ins Bodenlose ab. Vorsichtig lehne ich mich vor und erhasche einen kurzen Tiefblick in die dunkle eisige Finsternis. Auf der anderen Seite, geschätzte eineinhalb Meter, definitiv weiter als eine Schrittlänge, entfernt geht es weiter - wir sind in eine Sackgasse gestiegen.  Soll es das schon gewesen sein? Soll unsere Tour hier schon ein vorzeitiges Ende finden, noch bevor wir überhaupt einen ersten Blick auf den Berg geworfen haben?
Bis hierher waren wir simultan am laufenden Seil gestiegen, Steilheit und Komplexität hatten dies problemlos zugelassen. Nur ab und zu ein Firnanker zwischen uns, für den unwahrscheinlichen Fall eines Falles.
“This looks exciting, mate. Hang on a minute!”, rufe ich zurück zu Mark, der 30 Meter hinter mir in der Flanke gestoppt hat. Dann beginne ich, aus zwei Firnankern und meinem Pickel einen Standplatz zu bauen.

Nach einigen abwechslungsreichen Bergtouren war der zweiwöchige Roadtrip meines Seilpartners Mark und mir auf nur noch fünf verbleibende Tage zusammengeschrumpft. Der alpine Wetterbericht des MetService prophezeite uns noch einen möglichen Gipfeltag, zwei Tage vor meinem Rückflug nach Sydney. Beide hatten wir insgeheim noch einen Berg im Hinterkopf, der beim Studium der Führerliteratur und zahlreicher Bildbände einfach nicht zu übersehen war, da er, völlig zu Recht, als der formschönste der neuseeländischen Alpen gilt: Mount Aspiring/Tititea. Die Sahnehaube zum Abschluss unseres Trips.

Dank seiner ungeschützten, von offenen Ozeanen umgebenen Lage in den "Roaring Forties", gilt das Motto “Never trust the forecast” in Neuseeland wie in kaum einer anderen Region der Welt. Dennoch beschlossen wir, alles auf eine Karte, Montag den 11. Januar als Gipfeltag, zu setzen. In den Tagen davor und danach sollten die typischen Sturmfronten das Wetter beherrschen. Dabei sollten unsere selbstauferlegten ethischen Ansprüche die Chance auf den Gipfel nicht unbedingt erhöhen. In Anbetracht des  typischen unberechenbaren Wetters, werden die meisten Besteigungsversuche am Mount Aspiring heutzutage per Helikopterflug zum Fusse des Berges gestartet. Ein effektiver, wenn auch teurer und bei uns ein Naserümpfen hervorrufender Weg, die kurzen Wetterfenster zu nutzen. Bei geführten Touren mag dies unter dem Gesichtspunkt der Zeitersparnis und zur Erhöhung der Gipfelchancen - time is money - sinnvoll sein. Für uns war aber sofort klar: Entweder “under our own steam” oder gar nicht. Wir waren optimistisch: Die gesamte Tour vom Parkplatz am Raspberry Flat zum Gipfel und zurück sollte, perfekte Bedingungen vorausgesetzt, in vier strammen Tagen “by fair means” zu schaffen sein. Falls nicht, blieben ja immer noch die Bildbände zuhause auf dem Kaffeetisch.

Die Berghütten in Neuseeland beruhen auf dem Selbstversorgerprinzip, ähnlich den Winterräumen in den europäischen Alpen. Neben Matrazenlagern, Regenwassertank und Plumpsklo gibt es üblicherweise noch eine Kochnische mit feuerfester Arbeitsplatte, eine handvoll abgeliebter Zeitschriften und Bücher die schon hunderte Hände gesehen haben, und “Hut food” – von sozialen, gewichtsbewussten oder faulen Vorgängern zurückgelassene Lebensmittel, zumeist eine bunte Mischung aus angebrochenen Nudel- und Couscouspackungen, exotischen Gewürzen und, der Klassiker, fast leeren Gaskartuschen. Die Nähte unserer Rucksäcke, die wir am Vortag durch das traumhaft pittoreske Matukituki-Tal und über die steile French Ridge zur gleichnamigen Hütte schleppten, spannten sich unter der Last von Verpflegung, Kleidung, Schlaf- und Kochuntensilien und natürlich der kompletten Schnee-, Eis- und Felsausrüstung inklusive 60m Halbseil. Um unsere Füsse zu schonen hatten wir den langen Anmarsch durchs Tal in bequemen Trail Running Schuhen absolviert, die wir am Beginn der French Ridge, des ersten Steilaufschwungs, gegen unsere Bergstiefel eintauschten und bis zu unserer Rückkehr im dichten Geäst eines Baumes deponierten.

Woher nur kommt diese Obsession der neuseeländischen Wegebauer mit dem rechten Winkel zur Höhenlinie? Noch nie was von Serpentinen gehört ihr lieben Kiwis? Drei Stunden halsbrecherischer und kraftraubender Akrobatik im knorrigen Wurzelgeflecht des Birkenwaldes später wurden wir bei aufziehendem Sturm und Regen in der Hütte willkommen geheissen und lernten unsere Mitbewohner kennen, ein kanadischer Bergführer mit zwei Gästen und ein junges australisches Paar. Mit ungläubigem Staunen nahmen wir deren monströsen Rucksäcke zur Kenntnis als sie uns ihren Plan offenbarten, ausgerüstet mit Proviant für 9 Tage (!), den Berg regelrecht zu belagern. Definitiv ein himmelweiter Gegensatz zu unserem aufs Minimalste abgespeckten “Fast and Light”-Stil.

Tag 2. Über den rampenähnlichen Hängegletscher des Quarterdeck Sattels hinauf auf den südlichen Ausläufer des riesigen Bonargletschers, gefolgt von einer endlos langen Gletschertraverse hinüber zur Colin-Todd Hütte, die wie ein Adlerhorst auf einer Felsrippe direkt am Beginn des Nordwestgrates, unserer Aufstiegsroute, liegt. Dieses Programm liess keine grösseren Hindernisse erwarten, eher einen langen Tag des monotonen Dahinstapfens über die langsam aufweichende Schneeauflage des Gletschers. Wir waren früh gestartet, um uns mit der Sonne ein Rennen zu liefern. Und nun sitzen wir mit einem Kloss im Hals auf dieser Gratschneide inmitten des Spaltengewirrs und schauen uns leicht ratlos an.
“Just a big step, right?”, versuche ich Mark aufzubauen, denn er muss aufgrund der Platzverhältnisse, mit mir quasi auf unserem Ankerpunkt sitzend, den Vorstieg übernehmen.
“Yeah mate, a frickin’ leap of faith! Watch me closely.”
“You’re on belay. The anchor is bombproof.”
“Hell, what are we doing here?”
“One big step. Just do it. I’ve got you.”
“Okay, okay. Damn.”

Einige weitere Minuten der Kontemplation und des verbalen Hochrüstens folgen. Dann schlägt Mark mit der Pickelschaufel eine grosse Stufe ins Eis, direkt unterhalb in die steile Spaltenwand, direkt am Rand der Abbruchkante. Vorsichtig lässt er sich bäuchlings mit beiden Füssen voran auf diese “Absprungrampe” hinabgleiten. Schnell schätze ich die erforderliche Länge Schlappseil ab, um ihn bei dem was nun folgt nicht auf halber Strecke sprichwörtlich auszubremsen.

Keine Worte mehr. Mit der linken Hand ein zögerlicher Versuch, weit vorgebeugt und den Pickel am ausgestreckten Arm ganz am Schaftende fassend, die Haue in die gegenüberliegende Eiskante zu schlagen. WUUUSCH. Es fehlt ein guter halber Meter! Weitere Sekunden des Zögerns, Sekunden der Konzentration auf den nun folgenden Bewegungsablauf. Dann lösst er beide Hände und lässt sich, das linke Bein voraus, im Grätschschritt über den Abgrund fallen.

Die Zeit steht still. Zumindest für den Bruchteil einer Sekunde, bis sich die 12 Zacken seines linken Steigeisens in die gegenüberliegende Eiskante krallen. Für einen kurzen Augenblick steht er in diesem wackeligen Spagat, wie ein Balletttänzer vor luftiger Kulisse. Dann erklingt ein gewaltiges WHUMMM und die geschmiedete Pickelhaue bohrt sich tief und sicher ins Eis. Musik in meinen Ohren. Rasch zieht er sich mit Schwung hinüber. Als nächstes sehe ich ein breites Grinsen. Kurze Zeit später sind wir drüben wieder vereint und surfen schulterklopfend auf der Adrenalinwelle.
“Great lead, buddy! You made that look easy!”,gratuliere ich ihm.
“Man, that was wild! I can’t believe we did that!”
Das Spaltenchaos liegt hinter uns. Der Weiterweg ist offen.

Als der britische Landvermesser John Turnbull Thomson am 18. Dezember 1857 als erster Europäer die in Fels, Schnee und Eis gekleidete konische Form, die sich vor seinen Augen in den Himmel erhob erblickte, schrieb er in sein Tagebuch: “Am Talschluss von Hawea, ungefähr 40 Meilen entfernt, steht eine gewaltige hochaufragende Bergpyramide, die ich fortan Mount Aspiring nenne.”
In den Mythen der neuseeländischen Ureinwohner, der Maori, spielte der Berg hingegen schon lange als Tititea - der Glitzernde - eine wichtige Rolle. Ein Grund für das heute geltende ungeschriebene Gesetz, aus Respekt vor der Maorikultur den letzten Meter bis zum allerhöchsten Punkt nicht zu begehen. Mit seinen 3033 Metern Seehöhe vermag der Berg auf dem europäischen Alpenmassstab keine Rekorde zu brechen, hier jedoch, in Sichtweite der sturmumtosten Tasmanischen See und umgeben von nur 500 Meter hochgelegenen Tälern , sticht er stolz als höchster Berg der Region Otago heraus. Überhaupt war es nicht die Höhe, die diesen Berg für uns so attraktiv machte. Der reine Anblick lässt sich wohl kaum durch auch noch so leidenschaftlich formulierte Worte in seiner Wirkung steigern. Auf Mark und mich jedenfalls strahlte die perfekte, matterhornhafte, Pyramidenform einen geradezu natürlichen Magnetismus aus.

Der Normalweg, den wir uns vorgenommen hatten, zieht nach zweitägigem Anmarsch zur Colin Todd Hütte über den Nordwestgrat zum Gipfel und bietet dabei das gesamte Portfolio einer hochalpinen Bergfahrt: Einfacher Höhengewinn über die oberen kraxeligen Ausläufer der Shipowner Ridge, luftige alpine Felsturnerei über die Türme und Scharten des unteren Nordwestgrates, delikates Steigen mit viel Luft unterm Hintern über die schmalen Bänder der Ostflanke, dann die steilen und nicht enden wollenden Schutt- und Schneerampen zum Beginn des oberen Gipfelaufbaus, gefolgt vom firnbedeckten Gipfeleisfeld. Die Erstbesteiger des Nordwestgrates kamen 1913 zu dem, wenn auch zeitnah widerlegten, Entschluss, dass “Die erste und wohl letzte Besteigung des Mount Aspiring glücklich beendet war.”

Meine Gedanken driften ab. Ich trotte am Ende des mit Knoten gespickten Seiles 15 Meter hinter Mark über den in der Sonne bratenden Bonargletscher und sollte eigentlich mit Argusaugen jeden seiner Schritte konzentriert beobachten. Zu unserer Rechten begleitet uns nun schon seit zwei Stunden der Mount Aspiring mit seiner majestätischen Südwand und der anmutigen Firnschneide des Südwestgrats, die mit meiner Konzentration auf den Seilersten konkurrieren. Da entledigt sich eine schmale Spalte ihrer aufgeweichten Schneehaube und ich breche bis zur Hüfte ein – mein Rucksack hat sich am Spaltenrand aufgesetzt und so die weitere Abwärtsfahrt verhindert. Mark stapft weiter bis das straffe Seil ihn ausbremst.
“Hey Mark! Can you stop please?”, rufe ich ihm hinterher.
Er dreht sich überrascht um und fängt an zu lachen.
“What the heck are you doing?”
“Well, what does it look like?”

“Wait, I’ll give you a hand.” Sagt’s und zieht kräftig am Seil, um mein emsiges Herausgewühle zu unterstützen. Ein Riss im Hosenbein vom Steigeisen bleibt als Souvenir zurück.

Auf der Colin Todd Hütte ging es bei unserer Ankunft am frühen Nachmittag schon betriebsam zu. Offensichtlich waren wir nicht die Einzigen die von dem eintägigen Schönwetterfenster gehört hatten. Die letzten zwei der insgesamt zwölf Lager waren unsere, perfekt. Am Abend präsentierte sich das Wetter von seiner allerbesten Seite und erlaubte uns erste Blicke auf den gewaltigen Gratverlauf zum Gipfel, natürlich rege kommentiert im Austausch mit den anderen Seilschaften. Bis auf uns und das junge australische Paar übrigens alles Bergführer mit ihren Kunden, die zum grössten Teil per Heli zum Gipfelsturm eingeschwebt waren. Die Atmosphäre in dieser bunt aus verschiedenen Ländern zusammengewürfelten Gemeinschaft war erstaunlich locker und entspannt und es wurde viel gelacht. Nachdem die Ausrüstung bereitgelegt und das Zischen der Gaskocher verstummt war, hiess es gegen 20 Uhr “Gute Nacht”.

2 Uhr. Gemurmel im Dunkeln und leise Geräusche vorsichtiger Aktivität. Die erste Seilschaft, der kanadische Guide und seine beiden Kunden, macht sich auf den Weg. Sie haben vor, noch am selben Tag nach der Besteigung wieder mit dem Heli ins Tal “abzusteigen”, deshalb der extrafrühe Aufbruch.

Umdrehen, weiterschlafen.

5 Uhr. Die Hütte explodiert in wuseliger Geschäftigkeit. Im Nu brodelt das Teewasser und wir sitzen stumm am Tisch und schaufeln warmen Haferbrei in uns hinein. Draussen durchläuft der Himmel des noch jungen Tages das gesamte Spektrum an Grau- und Blautönen. Plötzlich geht die Tür auf und die drei Frühstarter stehen im Raum. Überraschte Gesichter. “What’s up guys? What happened?” Mit trüben Gesichtern berichten sie, dass es, wohl durch eine Inversionswetterlage, über Nacht in der Höhe so gut wie nicht gefroren hatte und sie um 4 Uhr morgens schon oberschenkeltief durch die Schneehänge wühlen mussten, in denen sie um diese Uhrzeit eigentlich eine gefrorene Schneedecke und schnelles Vorwärtskommen erwartet hatten. Der Bergführer hatte sich daraufhin zur Umkehr entschlossen. Mir tat es leid für seine beiden Kunden, zumal es für einen von ihnen schon der dritte erfolglose Gipfelversuch war. Unsere Pläne blieben von dieser neuen Entwicklung unberührt, denn wir hatten eh eine andere Route, die Begehung des kompletten Gratverlaufs ohne Gletscherkontakt, im Visier. Nicht so jedoch die anderen, geführten, Teams. Diese hatten, aufgrund der geringeren klettertechnischen Schwierigkeiten, ebenfalls die Gletscherroute über das sogenannte “Kangaroo Patch” geplant, doch schwenkten nun aufgrund der neuen Lagemeldung ohne zu zögern unisono auf unsere Route um. Jetzt tat es mir doppelt Leid für die Abbrecher. Denn nicht nur hatten sie sich um 2 Uhr aus den Schlafsäcken quälen müssen, um schon zwei Stunden später ihren Traum vom Gipfel zu beerdigen, sondern mussten nun auch noch feststellen, dass sie ihre Besteigung, quasi als Versuchskaninchen, zum Vorteil der anderen Teams geopfert hatten.

Abmarsch um 6 Uhr. Nach der ersten Stunde hatten wir schon die Abseilstelle am oberen Ende der Shipowner Ridge erreicht, die den eigentlichen Beginn des Nordwestgrates markiert. Es folgte herrliche alpine Gratkletterei im 2. bis 3. Grad, atemberaubend exponiert mit Tiefblicken auf das gefrorene Eismeer des Bonargletscher zur Rechten und den wild aufgerissenen Thermagletscher zur Linken. Wenige kurze Passagen erforderten eine schnell zusammengezimmerte Partnersicherung - Köpflschlinge hier, Klemmkeil dort - doch die meiste Zeit blieb das Seil im Rucksack und wir kamen zügig voran. Ich fühlte mich, dank unserer Vorbereitungstouren in den zwei Wochen zuvor, in denen wir schon reichlich Höhenmeter “gefressen” hatten, konditional stark und hochmotiviert und konnte Mark ansehen, dass es ihm ebenso ging.
Mehrfach posaunte ich meine Freude hinaus: “This is stunning, Mark! Absolutely awesome! I really enjoy this ridge!”
“Yeah, mate, it’s really spectacular. Alpine climbing at its finest!”

Am Ende des unteren Gratteils türmt sich eine massive Felsbarrierre auf, die in ihrer Ostflanke umgangen wird. Nun wurde die Orientierung etwas anspruchvoller, denn es präsentierte sich eine Vielzahl von Bändern und Rampen durch die es den Weg des geringsten Widerstandes zu finden galt. Das ungesicherte Steigen auf diesen recht schmalen, schottrigen und leicht talwärts geneigten Bändern erwies sich als recht delikat. Tief unten lag ausgebreitet der Thermagletscher und die Konsequenzen eines Ausrutschers waren mehr als deutlich zu sehen. Verbunden mit dem Stress des ständigen Suchens nach der Route, trieb mir dieser Wegabschnitt den meisten Schweiss aus den Poren. Prompt landeten wir auch schon den ersten, wenn auch einzigen, Verhauer.
“Hey guys, nice alternative over there!”, schallte die Stimme eines der Bergführer von der Originalroute herüber, 50 Meter weiter rechts.
“Damn it. We are offroute.”, war Marks einziger Kommentar.
Zurück-, sprich Abklettern erschien uns beiden in diesem bröseligen Gelände als keine sonderlich attraktive Option und so stiegen wir über ein kleines Firnfeld direkt aufwärts zurück zur Normalroute. Die technischen Schwierigkeiten nahmen nun konstant ab, bis wir schliesslich auf dem schneebedeckten Sattel am Fusse der breiten Gipfelrampen standen. Zeit für eine kleine Pause und einen Schwatz mit einer der anderen Seilschaften.

Bei normalen Verhältnissen, selbst im Sommer, kleidet sich der Berg von hier an in sein weisses Schneegewand. Die letzten Wochen waren jedoch untypisch warm und sonnig gewesen und hatten die untere Hälfte der Rampen komplett abgetaut, sodass wir nun durch felsiges Block- und Schuttgelände dem deutlich sichtbaren Gipfel entgegenstiegen. Waren wir bislang nur mit leichtem Baselayer bekleidet in der sonnigen Leeseite des Berges geklettert, bekamen wir nun die volle Kraft des Windes zu spüren. Es wurde merklich kälter und die Softshells kamen aus dem Rucksack. Etwa 200 Meter unterhalb des Gipfels war dann der Zeitpunkt gekommen, die Steigeisen anzulegen. Das fest verharrschte Gipfeleisfeld war zwar nicht supersteil, 40 Grad vielleicht, dennoch wollten wir aufgrund des stark böigen Windes zumindest den psychologischen Komfort des Seiles nicht missen. Wir banden uns ein und ich stieg voraus. Als das Seil ausgegeben war, folgte Mark simultan hinterher, einen Firnanker immer zwischen uns belassend.

Die Stiefel dringen stufengleich in den kompakten Schnee, der tief versenkte Pickelschaft gibt jedem Schritt Sicherheit. Der Kopf ist durch die fest über den Helm gezogene Kapuze geschützt. Draussen heult der Wind. Blauer wolkenfreier Himmel. Fernsicht. Der Gipfel ist nun als kleine rundliche Kuppe zum Greifen nah und es dämmert mir langsam, dass die tausend möglichen Gründe für einen  Abbruch der Tour, auf einen 30 Meter langen und fein vom Wind ziselierten Gipfelgrat zusammengeschrumpft sind.

Anhalten. Die Gipfelgratschneide bricht zwei Schritte vor mir lotrecht in die nordwandhafte Südwand ab. Es gibt keine Wächte und ich riskiere einen kurzen Blick über die messerscharfe Kante. Oh Mann. Linksdrehung und weiterstapfen am Grat entlang. Wieder anhalten. Ich schaue mich um - es geht in alle Richtungen abwärts. Seileinholen bis Mark mit roter Nase neben mir steht. 11:50 Uhr. 3033 Meter über der Tasmanischen See.
Ich strecke ihm strahlend meine Hand entgegen: “Welcome to the summit, mate!”

Wir blieben weniger als 10 Minuten am Gipfel, gerade genug Zeit, um das atemberaubende Panorama aufzusaugen und festzustellen, dass der Kameraakku in der Kälte den Geist aufgegeben hatte. Im Abstieg verzichteten wir auf das Seil und waren ruckzuck ein paar hundert Meter tiefer auf dem Schneesattel am Übergang zum Felsgrat. Hier trafen wir auf Igor, einen superfreundlichen slovakischen Bergführer und seinen australischen Gast, die kurz vor uns am Gipfel waren und gerade Brotzeit machten. Nach nun schon sieben Stunden auf den Beinen nahmen auch wir die Gelegenheit dieser windgeschützten Stelle war und packten Wraps, Käse und Salami aus. Im Gespräch stellte sich heraus, dass die beiden am nächsten Tag ebenfalls zu Fuss über die berüchtigte Bevan Col Route ins Tal absteigen wollten. Igor bot uns spontan an, uns ihm anzuschliessen, denn er hatte die Route schon einmal zuvor begangen und kritische Wegpunkte und Abseilstände in sein GPS programmiert. Da der Wetterbericht für den Folgetag tiefe Wolken und schlechte Sichtbedingungen erwarten liess, konnten wir dieses nette Angebot kaum abschlagen.

Für den weiteren Abstieg zur Colin Todd Hütte, der mit Hilfe zweier Abseilpassagen an fixen Schlingen einen grossen Teil der brüchigen Ostflanke umgeht, wählten wir die schnellere Gletscherroute  und verliessen somit am Schneefeld des “Kangaroo Patch” des felsige Terrain. Nach zwei weiteren Stunden des Stapfens durch weichen, aber im Abstieg gut gangbaren, Schnee und einer Gesamtzeit von 10 Stunden waren wir zurück an der Hütte und wurden neugierig von den gerade frisch per Heli angereisten Seilschaften begrüsst: “Well done guys, congratulations. Which route did you take? How were the conditions like?”
Doch die ausführliche Berichterstattung musste vorerst warten. Denn wir hatten seit dem Gipfel von nichts anderem mehr gesprochen als unserem altbewährten Ritual zum Abschluss jeder erfolgreichen Tour: “A cup of tea and a slice of cake”. Und so zischte bereits 5 Minuten später der Gaskocher.

Der nächste Tag stellte sich tatsächlich, wie schon im allabendlichen Wetterbericht per Hüttenfunk angekündigt, als nebelig und wolkenverhangen heraus. Hinzu kam Nieselregen, der die berüchtigten Wasserfallplatten, ein zentraler Teil der Abstiegsroute über den Bevan Col Sattel, in saugefährliche Rutschbahnen verwandelte. Dank Igor’s GPS fanden wir schliesslich nach einigem Hin und Her die eingebohrte Abseilpiste, allerdings nicht ohne einige haarsträubende Kraxelaktionen auf nassem spiegelglatten und kaum absicherbarem Fels. Hier war noch einmal absolut konzentriertes Balancieren auf kleinsten glitschigen Leisten in klobigen Bergstiefeln und Handschuhen angesagt. Und dies mit einem tosenden Wildbach unter dem Hintern. Beim ersten Abseilstand angekommen war ich froh, dass wir nun doch noch Gelegenheit hatten, uns bei Igor für seine freundlichen Navigationsdienste zu revanchieren. Sein Kunde war zu diesem Zeitpunkt bereits ziemlich fertig, wie es schien sowohl körperlich als auch mental.
“This is definitely more than I had bargained for”, gab er unumwunden zu.
Ich bot an, unsere beiden Seile gemeinsam einzusetzen, um so jeden zweiten Abseilstand überspringen und schneller im Tal sein zu können. Gesagt, getan und kurze Zeit später hatten wir die dunkle, nasse und höchst unwirtliche Schlucht verlassen und die grünen Wiesen im Talschluss des Matukituki Tales erreicht. 

Der Abstieg war in der Rückschau doch ziemlich haarig und fordernd gewesen und nun fiel eine echte Last von unseren Schultern. Als wir in der Sonne unsere Regenjacken und Überhosen ablegten, spassten wir erleichtert herum, zum ersten Mal an diesem Tag. Das Abenteuer war vorbei, wir waren sicher zurück im Tal. Vom Parkplatz trennte uns nun nur noch eine knapp fünfstündige Wanderung, danach eine weitere Stunde Autofahrt nach Wanaka, wo ein gebuchtes Hotelzimmer auf uns wartete. Mark dachte allerdings schon einen Schritt weiter, von wegen Entspannung: “If we push hard, we can be in town in time for beers and dinner. What do you think? Are you up for it?”
Nach vier harten Tagen der kulinarischen Enthaltsamkeit im Berg kam mir diese Frage reichlich rhetorisch vor. “You bet, mate. Let’s get out of here!”

Tourengänger: TimoS


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Kommentare (4)


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simba hat gesagt: Absolut faszinierend...
Gesendet am 31. Januar 2016 um 16:43
dieser Übergang der Vegetationszonen. Meine Neuseeland-Erfahrung beschränkt sich auf das Schauen der Herr der Ringe-Filme ;)
Gratulation zu dieser Tour! Vielen Dank für die tollen Bilder!

dominik hat gesagt:
Gesendet am 31. Januar 2016 um 19:17
Tolle Tour, gut gemacht!

Und ein Extralob für den spannend und schön geschriebenen Text.

Bertrand hat gesagt:
Gesendet am 3. Februar 2016 um 12:30
Herrlicher Bericht, Danke !

DownUnder hat gesagt:
Gesendet am 21. Februar 2018 um 20:09
Spannender Bericht und tolle Bilder


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