Rockall – Oder: Der Höchste muss nicht immer hoch sein


Publiziert von Wolfgang Schaub , 30. Dezember 2008 um 19:19.

Region: Welt » Rockall
Tour Datum:16 Juni 2005
Klettern Schwierigkeit: VI (UIAA-Skala)
Zeitbedarf: 6 Tage
Aufstieg: 21 m
Abstieg: 21 m
Strecke:Am hängenden Fixseil durch die Senkrechte 19 m hoch, danach noch 2 m auf allen Vieren - zur Standsicherheit - auf den Gipfel
Zufahrt zum Ausgangspunkt:Mit dem Auto von Süd nach Nord über die Britische Insel, mit der Fähre auf die Orkney-Inseln. Von dort mit einem vorher bestellten umgebauten, für das Unternehmen lizensierten Fischkutter 2 1/2 Tage nach Westen auf den Atlantik hinaus. 1 Tag vor Ort.
Zufahrt zum Ankunftspunkt:Dasselbe analog zurück
Unterkunftmöglichkeiten:Keine. Halt! Falsch: Natürlich in einer schaukelnden Koje im Bauch des Kutters
Kartennummer:Ein Atlas vom Nordatlantik genügt zur Orientierung. Den Rest besorgt der Skipper. Und die Verhältnisse vor Ort entscheiden.

Acht Jahre alt war ich, als mir mein Vater erklärte, wie eine Landkarte funktioniert. Zehn Jahre alt war ich, als ich den ersten Atlas in die Hand bekam. Da schwamm im Nordatlantik, weit draußen, ein winziges Pünktchen, und an dem Pünktchen stand Rockall.

 

Es war die Zeit ohne Computer und Internet. Mit zwanzig stieg ich auf Berge, immer höhere, und als ich fünfzig war, hatte ich mein Maximum erreicht: den Everest der kleinen Leute, den Aconcagua. Noch habe ich ein wenig an Höheren herumlaboriert, aber es wollte mir keiner mehr gelingen.

 

Berge also an den Nagel hängen? Nein! Das Hobby einfach neu definieren? Ja. Altersgerecht anpassen. Nur wild mußte es sein. Ohne das Wilde, Chaotische, im entscheidenden Moment aber Durchdachte und Zielgerichtete kann ich nicht sein. Also hieß das Hobby: Die jeweils Höchsten eines jeden europäischen Landes. Und weil mir das nicht genügte, halt auch noch Kurioses dazu, nicht näher Zuordenbares: Rockall zum Beispiel.

 

Rockall gehört niemandem, da mögen sich die Briten noch so gerieren. Also peilte ich unter vielen anderen auch den höchsten Punkt auf Rockall an. Was war Rockall eigentlich. Ein Lexikon gab dürre Auskunft. Unbewohnt. Felsen. Vogelnest. Doch wie hinkommen?

 

Ohne Internet geht so was gar nicht. Ein Lob der Technik! Und was für ein Glück! Daß das Internet noch zu meinen Lebzeiten entstanden war! Daß ich zum rechten Moment hineinschaute und begriff, daß sich da gerade eine Gruppe formierte, die einen Landungsversuch unternehmen wollte! Daß sie mich mitnehmen wollten!

 

Man brachte mir bei, daß ich trainiert werden müßte. Ein Aktivist von Greenpeace kam und wies mich in das Klettern am senkrechten Seil mit Hilfe einer mechanisierten Prusiktechnik bei, mit „Ascender“, „Croll“ und „Stop“, drei Geräten erhältlich im Fachhandel. Dann ein Neoprenanzug. Schwimmen lernen im Neoprenanzug mit Flossen, Rettungsweste und in voller Klettermontur. Helm natürlich auch.

 

 

Der Gedanke war nämlich, daß wir uns in einem alten Fischkutter hinaus zu dem Felsen fahren lassen würden, dann umstiegen auf ein Schlauchboot, das uns ganz nah heranbringen würde. Einer würde dann springen und hoffentlich nicht ins Wasser fallen, hätte ein 20-Meter-Seil dabei, würde die einen Meter breite Plattform Hall's Ledge unter dem Gipfel besteigen und von dort das Seil an der Senkrechte herunterlassen. An dem arbeiteten sich dann alle anderen in der genannten Technik hoch.

Hinkommen ist das eine, raufkommen das andere. Eins ist so trickreich wie das andere. Der Rockall-Felsen liegt im Nordost-Atlantik, 407 Kilometer westlich der Hebriden-Inseln, einer Inselgruppe vor der schottischen Westküste. Er ist rund 700 Kilometer von Island im Norden und rund 430 Kilometer von Irland im Südosten entfernt. Die genaue Position des 21 Meter hohen und 27 Meter breiten Felsens ist 57°35’48"N-13°41’19"W. Rockall ist das einsamste Eiland der Welt: Nirgendwo sonst steht eine Insel so isoliert, alle haben sie wenigstens eine zweite Insel zum Nachbarn.

 

Bis vor kurzem waren mehr Leute auf dem Mond als auf Rockall. Für einen Guano-verschissenen, unbewohnbaren Klotz von Fels, der kathedralengleich aus dem Nordatlantik stach, hatte der Kieselstein, den Finn MacCool warf, eine turbulente Zeit gehabt. Eigentlich ist Rockall, Meilen von irgendeiner bedeutenden Schiffahrtsroute entfernt, eine hübsch unbedeutende Angelegenheit „in the middle of nowhere“. Senkrecht auf einer Seite, trägt es einen Steilhang auf der anderen, und mit seinen weißen Streifen von Vogelkacke sieht es aus, wie wenn jemand eine Riesenstatue von Don King im Schaum des Atlantik versenkt hätte. Trotzdem hat Rockall bewirkt, daß sich Nationen in den Haaren lagen, war der Brennpunkt globaler Umweltschützerproteste und wurde während des Kalten Kriegs sogar verpfändet.

 

Eine Legende will wissen, dass der Felsen die äußerste Position des alten, versunkenen Königreiches Brasil sei, während Wissenschaftler behaupten, er sei die Spitze eines Vulkanschlots, der zuletzt vor 50 Millionen Jahren ausgebrochen sei. Ich halte es mehr mit der Geschichte von Finn MacCool, die ihn als Riesen beschreibt.

 

Planung ist alles. Der Kutter war gefunden, der Skipper unter Vertrag genommen worden. Juni mußte es sein. Experten wissen, daß nur Juni geht. In keinem anderen Monat des Jahres ist die Wahrscheinlichkeit ausreichend hoch, daß man vor Ort glatte See vorfindet. Die geringste Brandung vor Ort läßt das Unternehmen scheitern. Von 20 Landeversuchen gelingt nur einer, hieß es.

 

Und wir waren so einer. Wir sind die Könige von Rockall! Wir waren oben! Ganz oben im Leben! Zwei Stunden verbrachten wir auf dem Gipfel in vollem Sonnenschein, und weil dort immer nur Platz für einen war, saßen die anderen auf Hall's Ledge, funkten hektisch in alle Welt und genossen die Einzigartigkeit des Augenblicks. Nie wieder würde einem von uns so was Elitäres gelingen! Wir saßen auf einem Felsen, den vor uns höchstens ein paar Dutzend Leute erobert haben. Wir hatten unseren persönlichen Everest in der Tasche!

 

Wer es nachmachen will, sei gewarnt: Kaum einem wird es je gelingen. Wir, die Könige von Rockall, haben nämlich die Volksrepublik Rockall ausgerufen und werden den Felsen gegen unprofessionelle Eindringlinge verteidigen! Und sollten die Engländer je kommen und uns vertreiben wollen: Wehe ihnen!

 

Viel Erfolg aber den Tüchtigen, die genau so Glück haben wie ich!

 

Und sehen Sie: Der Wert eines Gipfels bemisst sich nicht nach seiner Höhe. Er bemisst sich nach dem Widerstand, den er mir entgegensetzt. Er bemisst sich nach dem Aufwand und Glück, das ich haben muss, um diesen Widerstand zu überwinden. Er bemisst sich nach dem Geschenk, das er mir macht. Er bemisst sich nach seiner Göttlichkeit.

 

http://www.therockalltimes.co.uk/rockall-ho/

www.therockalltimes.co.uk/rockall-ho/2005-picture-gallery.html

www.therockalltimes.co.uk/rockall-ho/2005-team.html

www.therockalltimes.co.uk/2005/06/20/rockall-triumph.html

www.gipfel-und-grenzen.eu

 


Tourengänger: Wolfgang Schaub


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