Wer eigenverantwortlich anspruchsvolle Skitouren begeht, kennt die Frage nach "Stop or Go". Viele gängige Strategien (wie z.B. die Snowcard, Muntersche Reduktionsmethode) sind meiner Meinung nach aber mit großem Argwohn zu betrachten, weil sie sich von irgendwelchen Statistiken abhängig machen. Und irgendwelche Zahlen wie z.B. die akutelle Lawinenwarnstufe werden dabei stark überbewertet - eine so komplexes Thema wie "Lawinen" in 5 Zahlen pressen zu wollen ist meiner Meinung nach stark übersimplifizert. So entstehen Entscheidungsstrategien, die zwar statistisch gesehen durchaus zur Verminderung von Unfallzahlen führen, mir selber hilft es aber in der konkreten Entscheidungssituation herzlich wenig, wenn ich mein Risiko nur mit so einer Methode statistisch abschätze.
Ich möchte genau wissen, was los ist. Wissenschaftlich sauber. Ich möchte Gefahrenmuster erkennen und auf Lawinensituationen übertragen. Daher ist es wohl immer das Grundlegendste, den Lawinenlagebericht ins Gelände zu übertragen und dann die passende Entscheidung zu treffen. Und ständig zu überprüfen, ob das vor Ort beobachtete mit dem Lagebericht zusammenpasst. Das gelingt mir meist gut.
Dabei bin ich schon häufig in komplexe Situationen gekommen, in denen mir eine saubere Entscheidungsstrategie schwer gefallen ist und ich möchte gerne ein Beispiel dazu diskutieren und zwar:
Bei meiner letzten Skitour herrschten überwiegend günstige Verhältnisse. Zitat LLB: "Es überwiegen recht günstige Bedingungen. Oberhalb etwa 2200m herrscht mäßige Gefahr, darunter ist diese verbreitet gering. Die Hauptgefahr bildet kürzlich entstandener Triebschnee in größeren Höhen. Gefahrenbereiche konzentrieren sich vermehrt auf kammnahe, sehr steile Hänge, wo kürzlich Schnee vom Wind abgelagert wurde. Betroffen sind aber auch sehr steile Mulden und Rinnen. Bei durchwegs guten Sichtverhältnissen sollten diese Triebschneepakete leicht zu erkennen sein."
Meine Skitour sollte auf einen knapp 2200m hohen Gipfel gehen, die einzige mögliche Gefahrenstelle ist 35° steiles, kammnahes Gelände kurz unter dem Gipfel - lokal gilt dort (gerade noch) die Warnstufe 1.
Im kammnahen Gelände (auf der windabgewandten Seite) kurz unter dem Gipfel angekommen beobachte ich einige alte Wechten, weiter drüben im steileren Gelände (wo ich nicht aufsteige) ein altes Schneebrett. Der etwa 2-3 Tage alte, 30 cm hohe Neuschnee wirkt recht ruhig gefallen, kein Triebschnee auf meiner Route im kammnahen Bereich. Warnstufe 1, Gefahrenmuster aus dem LLB liegt nicht vor - alles sauber, rein ins Skivergnügen könnte man sagen.
Rein aus Interesse führe ich im kammnahen Steilgelände trotzdem einen Rutschblocktest durch. Ich grabe einen etwa 60 x 60 cm großen Block aus. Die Schneedecke ist vielleicht 70 cm mächtig. Die unteren 30 cm recht kompakt mit kleinkantigen Kristallen. Darüber eine etwa 3 cm starke Regenkruste (die auch der Lawinenwarndienst beobachtet hat), oben drüber dann der lockere, zumindest in den oberen 2 Dritteln ungebundene Neuschnee von vor 3 Tagen. Trotzdem ist der Block bereits beim Ausstechen ohne Zusatzbelastung gebrochen. Oberhalb der Regenkruste blieb eine rauhe Schicht zurück. Den oberen, gebrochenen Block konnte man zusammenhängend in den Händen halten. Beim letzten Schneefall hatte es zuerst kurz geregnet, wodurch die Regenkruste entstanden ist. Dann ging der Regen rasch in Schnee über und oberhalb der Regenkruste bildete sich eine zusammengebackene Schicht. Dann kühlte es während des Schneefalls rasch weiter ab und der restlich Schnee fiel ohne Windeinfluss.
Jetz meine Frage: Eigentlich wirkte alles sicher. Alles so vorgefunden wie im LLB berichtet (Warnstufe 1, kein Triebschnee). Trotzdem ist mein Rutschblock gebrochen und ein zusammenhängender Block blieb übrig. Wie ist das zu bewerten? Kann ein Rutschblock brechen, obwohl gar keine Schneebrettgefahr da ist? Kann es sein, dass zwar der Rutschblock selber bricht, aber keine Bruchfortpflanzung innerhalb der gesamten Schneedecke möglich ist?
Wenn dem so wäre, dann könnte man ja sagen: "Ein Schneedeckenstabilitätstest mit einem Bruch muss noch nicht zwangsläufig bedeuten, dass auch tatsächlich Schneebrettgefahr gegeben ist."
Bitte um kompetente Erklärungen, Statements! Vielen Dank.
P.S.: Ich würde es äußerst interessant und lehrreich finden, wenn echte Profis ihre Entscheidungsstrategieen hier diskutieren könnten. Mit diesen halbherzigen, wissenschaftlich fragwürdigen Herangehensweisen, wie man sie in einem DAV - Breitensport Kurs lernt, kann man sich als wissenschaftlich - kritisch denkender Bergsteiger nicht zufrieden geben.